„Spaltkopf“ als interkultureller Roman

Zur Neuauflage des Romans „Spaltkopf“ von Julya Rabinowich

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der im Deuticke-Verlag erschienene Roman „Spaltkopf“ ist die Neuauflage des Erstlings von Julya Rabinowich, mit dem sie 2009 den Rauriser Literaturpreis gewann. Gelang der aus Russland stammenden und heute in Österreich lebenden Autorin mit diesem Buch der schriftstellerische Durchbruch, so konnte sie sich mit ihrer 2010 erschienenen „Herznovelle“ endgültig in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur behaupten. Neben Vladimir Vertlib und Lena Gorelik gehört Rabinowich zu jenen AutorInnen, die in der ehemaligen Sowjetunion geboren wurden, Russisch als Erstsprache erlernten und im Kindesalter mit ihren Familien auf Grund der jüdischen Zugehörigkeit gen Westen ausreisen durften. Wie Englisch für Gary Shteyngart, Lara Vapnyar, David Bezmozgis und Olga Grushin in den USA wurde Deutsch für Vertlib, Gorelik und Rabinowich zur Sprache ihrer Werke.

Gleich anderer Erstlinge interkultureller AutorInnen weist Rabinowichs „Spaltkopf“ viele autobiografische Züge auf. Carmine Chiellino erklärt dies durch die Notwendigkeit des sicheren Halts, der in Form des Eigenen, der biografischen Inhalte gegeben ist, angesichts der unsicheren Fremde, der neuen deutschen Sprache, der man sich im Prozess des Schreibens ausliefert. Dass dieses Werk als interkultureller Roman besprochen wird, beruht auf seinen zentralen Themen und Motiven (Emigration, Familiengeheimnis, Auseinandersetzung mit den Eltern und Reise in die ehemalige Heimat, Behinderung, Körperlichkeit) sowie sprachlich-strukturellen Besonderheiten (Figurenkonstellation, Präsenz der russischen Folklore, Sprachphänomene).

Der Roman besteht aus drei ungleichen Teilen, von denen der erste „Abgebissen, nicht abgerissen“ mit gerade vier Seiten zwar der kürzeste, für den gesamten Text aber programmatisch ist. Vier äußerst knappe, zwar nummerierte, aber nicht in der chronologischen Reihenfolge platzierte Kapitel dieses Teiles kreisen um das Thema Reisen, beschrieben als „Tempelhüpfen von Land zu Land“. Bereits im ersten Absatz verortet sich das erzählerische Ich auf einer Überfahrt zwischen Irland und Schottland in einem mobilen Zustand, der mit der Feststellung „Ich bin eigentlich nie angekommen […]. Die Reise nimmt kein Ende […]“ konstatiert wird.

In zwei weiteren Teilen entwirft Rabinowich eine Familiensaga, die vier Generationen umfasst. Neben dem zentralen Thema der Emigration kommt dem Judentum eine wichtige Bedeutung zu. Wie in vielen anderen Werken der interkulturellen Literatur muss sich die Protagonistin im „Spaltkopf“ langsam an ihr Familiengeheimnis herantasten. Dieses ist in kursiv gedruckten Passagen verschachtelt, die sehr lyrisch komponiert und stellenweise mystisch angehaucht sind. Ausgehend von einem Abschiedstreffen der Familie, die bald ihre Ausreise aus der Sowjetunion antreten wird, spannt Rabinowich ein breites Erzählnetz, dessen Stränge sowohl in die Vergangenheit ihrer jüdischen Großmütter Ada und Sara, in die Wirren des Zweiten Weltkrieges und in die sowjetische Wirklichkeit mit ihren offenen und versteckten antisemitischen Angriffen reichen, als auch die Zukunft der in die USA emigrierten Cousine und des Cousins streifen. Im Zentrum der Erzählung steht aber das Emigrantenleben des Mädchens Mischka mit seinen Eltern und seiner Großmutter Ada in Wien. Bemerkenswert in dieser Migrantengeschichte ist die Tatsache, dass dem siebenjährigen Kind von den Eltern vorgetäuscht wird, nach Riga und nicht nach Wien zu fliegen. Dieses auf den ersten Blick unauffällige Detail steht für das fremde, nicht selbst entschiedene Lebensprojekt Mischkas. Der später ausgebrochene Konflikt zwischen der Protagonistin und ihren Eltern spiegelt die Auseinandersetzung der Migrantenkinder mit ihren Eltern wieder, die mittlerweile zu einem wichtigen Motiv der interkulturellen Literatur avancierte. Die Fortsetzung dieses Motivs ist die Reise der Protagonistin als Erwachsene und selbst Mutter einer Tochter in das Land ihrer Eltern. Diese Reise kann als Versuch ihrer Versöhnung mit der Entscheidung für die Emigration, die ihre Eltern für sie getroffen hatten, gedeutet werden. Wie sehr die Migrantenkinder der Emigration ausgeliefert sind, bringt folgende Feststellung zum Ausdruck: „Die Emigration ist ein langwieriger Prozess, der widersprüchlich, nämlich abrupt, beginnt, wie der Ausbruch einer Krankheit oder die Zeugung eines Kindes.“

Gleich den Werken anderer auf Deutsch schreibender AutorInnen aus Süd- und Osteuropa (Alina Bronsky, Melinda Nadj Abonji, Marica Bodrožić, Jagoda Marinić) dominiert auch im Roman „Spaltkopf“ die weibliche Figurenkonstellation, während in Texten vieler aus der Türkei oder den arabischen Ländern stammenden AutorInnen (Yadé Kara, Abbas Khider, Sherko Fatah) die männlichen Figuren in den Vordergrund rücken. Das Schwinden der männlichen Figuren im „Spaltkopf“ – „Meine Großväter sind beide nicht mehr am Leben. Die Brüder meines Vaters sind […] kaum je präsent.“ – wird mit dem Tod des Vaters Lev auf die Spitze getrieben und lässt nach der Bedeutung dieser Konstellation fragen. Während die männlichen Protagonisten mit der (verdrängten) Vergangenheit und verlassenen Heimat assoziiert werden, stehen die weiblichen Figuren für das Ankommen in der Fremde. Auffällig in diesem Zusammenhang ist die Geburt der behinderten Tochter, denn die Behinderung und Krankheit zeichnen sich mittlerweile als ein neues Motiv der interkulturellen Literatur ab.

Neben den bereits erwähnten Themen und Motiven sei auf die zur Sexualität hin sich steigernde Körperlichkeit verwiesen. In diesem Kontext korrespondieren viele Textstellen im „Spaltkopf“ mit Werken Yoko Tawadas und Emine Sevgi Özdamars. Einen für den Leser interessanten, gleichzeitig aber auch anspruchsvollen Aspekt stellt der Rückgriff der Autorin auf die russische Folklore dar, die sich bereits im Titel des Romans niederschlägt. Neben diesem merkwürdigen Fabelwesen, das die Gedanken der Kinder frisst und ihnen die Seelen aussaugt, rekurriert Rabinowich immer wieder auf Koschtschey und Baba Yaga sowie andere russische Märchen, Mythen und Aberglauben. Beachtenswert ist auch die Mystik der Zahl Drei, die an die Kabbala denken lässt.

Sehr dezent und feinfühlig deutet Rabinowich das bei ihren Figuren zum Problem avancierte Thema der Sprache an. Es geht nicht so sehr um mangelndes Deutsch der Eltern, weniger um die Stummheit der behinderten Schwester, sondern viel mehr um das Schweigen, ja das Verschweigen: „Sprachlosigkeit breitet sich aus.“ „Wir alle wehren uns gegen die Sprache, uns allen geht die Luft aus. […] Wir verstummen.“

Dies trifft aber nicht die Schriftstellerin Rabinowich. Sie ist eine Sprachkünstlerin. Immer wieder erkennt der Leser in dieser Prosa auch die Malerin Rabinowich, wie etwa in der Beschreibung des russischen Salats „Hering im Pelz“, mit der sie ein verbales Stilleben schafft. Stellenweise hat man den Eindruck, die Sprache und der Stil dieser Schriftstellerin vermögen das Lesetempo zu bestimmen: Mal sind es kurze abgehackte Sätze, die wie ein Staccato gehämmert sind, mal wiegt sich der Leser in die gleichmäßig-rhythmischen, melodischen und lyrisch anmutenden Passagen ein.

„Spaltkopf“ ist ein empfehlenswertes Buch, das alte wie neue Themen anspricht und den Gemütszustand der Entwurzelten und Getriebenen in unserer globalisierten und reizüberfluteten Welt aufs Eindringlichste einfängt.

Titelbild

Julya Rabinowich: Spaltkopf. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2011.
202 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552061774

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