Und Nietzsche hätte geweint

Michael Tomasello legt dar, „Warum wir kooperieren“

Von Willem WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willem Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem prototypischen Fall stellt Kooperation eine Spielart altruistischen Tuns dar – und stieß daher mitunter sogar in einigen systematisierten Moralvorstellungen, etwa der egoistischen Ethik Friedrich Nietzsches, auf Ablehnung. Es ist jedoch inzwischen längst kein neuer ethologischer Ansatz mehr, unmittelbar altruistisches, also auf den ersten Blick uneigennütziges Verhalten bei Tieren mit dem Verweis auf einen langfristigen Nutzen zu erklären. Auf diese Weise wird es soziobiologisch neu bewertet: als mittelbar durchaus egoistisch, durchaus eigennützig. Michael Tomasello fasste in der Ende 2008 an der Stanford University gehaltenen „Tanner Lecture“ erneut seine diesbezüglichen Thesen zusammen und unterfütterte sie insbesondere mit den von seinem Leipziger Team durchgeführten experimentellen Studien: Es sei für ein Individuum auf lange Sicht nützlich, sich kooperativ zu verhalten; im Gegensatz zu anderen Primaten habe Homo sapiens dieses ‚Wissen‘ phylogenetisch verinnerlicht. Zu einem längeren Essay umgearbeitet und um vier fachwissenschaftliche Kommentare ergänzt, liegt die Vorlesung nun auch in deutscher Übersetzung vor.

Es lohnt sich, die letzten Kapitel von „Warum wir kooperieren“ zuerst zu lesen, da gerade vor dem Hintergrund der Kommentare deutlich wird, wodurch sich Tomasellos Thesen von der Masse gängiger soziobiologischer Erklärungen abheben. Denn in solchen Darlegungen – prominent sind etwa die andernorts getätigten Äußerungen Richard Dawkins’, Edward O. Wilsons oder Steven Pinkers – werden gemeinhin sämtliche Regungen aller Organismen über einen Kamm geschoren: vom Wachstum einzelliger Schleimpilze über die Brutpflege bei Lurchen bis zur Morgentoilette des Menschen. Im Kommentar von Brian Skyrms wird diese Auffassung veranschaulicht: „Die Menschen mögen zwar kooperativer sein als Schimpansen – das Urteil überlasse ich den Experten –, aber wir sind weit davon entfernt, die kooperativste Spezies unseres Planeten zu sein. Erdmännchen, Nacktmulle, viele Arten von sozialen Insekten und sogar Bakterien erreichen hohe Kooperationsstufen.“

Dass sein Begriff von ‚Kooperation‘ so undifferenziert ist, dass vermutlich sogar das homogene Wachstum von Kristallen darunter fallen könnte, scheint den Professor für Logik und Philosophie nicht zu stören. Doch wenn man die Möglichkeit hat, etwa die religiösen Riten des Menschen systematisch qualitativ vom Balzverhalten von Stichlingen und dies wiederum von der Fortbewegung begeißelter Bakterien zu unterscheiden – warum sollte man darauf verzichten?

Auch Kommentatorin Elizabeth S. Spelke steht anscheinend grundsätzlichen Differenzierungen innerhalb des Tierreichs tendenziell ablehnend gegenüber: Nicht nur Menschen seien „in der Lage, abstrakte Konzepte zu bilden, wie sie zum Beispiel für die Entwicklung der Mathematik notwendig sind. Kognitionsforscher [hätten] abstrakte numerische Repräsentationen [auch] bei einer Vielzahl von Tieren finden können.“

Doch ist es hier wirklich überflüssig, weitere Unterschiede zu machen? Eine Wölfin mag zwar Schalenwild bevorzugt angreifen, wenn dies sozusagen ‚in einer Gruppe von der Mächtigkeit 1‘ auftritt und sie selbst von mehreren Artgenossen begleitet wird, anscheinend versteht sie es aber nicht, wenn nach ihrer Rückkehr in den Bau von ihren vormals vier Welpen eines fehlt. Die Vergabe von Zensuren im Mathematikunterricht dürfte deutlich vereinfacht werden können, wenn man ernsthaft keinen signifikanten Unterschied finden könnte zwischen jener ‚numerischen Repräsentationsfähigkeit‘ und derjenigen, die etwa Georg Cantor die Begründung der Mengenlehre ermöglichte. Wenn aber eine Psychologin gleichsam Gefahr läuft, keinen bedeutsamen, sondern lediglich einen (systematisch unerheblich) graduellen Unterschied zwischen ihren eigenen psychischen Kapazitäten und denen eines Ameisenlöwen zu sehen, dann mag dies eben auch einfach nur die Beschränktheit ihres naturalistischen Ansatzes veranschaulichen.

Tomasello geht hier wesentlich geschickter vor (wenngleich bisweilen der Eindruck entstehen mag, er versuche, die soziobiologischen Hardliner in Watte zu packen). Aufbauend auf seine vielfältigen, teils äußerst raffinierten vergleichenden Untersuchungen an Affen und Menschen identifiziert er gekonnt etliche markante Unterschiede zwischen deren jeweiligem Verhalten. Die Übergänge von der ‚nüchternen‘ Beschreibung hin zur Mutmaßung hinsichtlich der dem Verhalten jeweils zugrunde liegenden mentalen Fähigkeiten sichert er immer durch sorgsame Argumentation ab. Gerade weil er dabei immer möglichst konkret bleibt und die Begrenztheit des Geltungsanspruchs seiner jeweiligen Thesen deutlich macht, verliert er sich nie in Belanglosigkeiten.

Anders sieht das etwa bei Kommentatorin Spelke aus, die bei Kleinkindern fünf kognitive Systeme identifizieren zu können meint – welche aufgrund ihrer Abstraktheit schlicht nicht mehr kritikfähig sind. Beispielsweise nennt sie ein System „zur Abbildung und zum Verständnis von […] Serien von Objekten oder Ereignissen und ihre numerischen Beziehungen bei Reihungs- und Rechenvorgängen“. Doch nicht nur müsste sie ein solches System wohl auch jener „Vielzahl von Tieren“ attestieren, die angeblich über die erwähnten „abstrakte[n] numerische[n] Repräsentationen“ verfügen. Sondern diese Abstrakta sind vor allem auch genauso wenig bestreitbar – id est es ist kaum eine sinnvolle Gegenrede formulierbar – wie etwa die Einträge in Donald E. Browns berüchtigter Liste der ‚Menschlichen Universalien‘, die zum Beispiel von „Schüchternheit, Ausdruck von“ über „Gewöhnung“ bis zu „Männer legen im Schnitt im Laufe des Lebens auf Reisen größere Strecken zurück“ reichen.

Lediglich Tomasellos Spekulation hinsichtlich des ‚evolutionären Zwecks‘ der beim Menschen im Vergleich zu allen anderen Primaten deutlich sichtbaren Sklera (des weißen Teils des Augapfels), ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht ähnlich zweifelhaft: Durch die Sklera ist die Blickrichtung eines Menschen durch andere zwar gut zu erkennen, doch ob dieser Umstand, den Tomasello kooperationsfördernd bewertet (Funktionalitätsargument; Stichwort ‚geteilte Aufmerksamkeit‘), nun tatsächlich ‚der eine‘ Grund war, der dieses Merkmal entstehen ließ (historische Behauptung), ist – da sowohl formal unentscheidbar als auch praktisch nicht überprüfbar – schlicht eine müßige Frage. Diese bloße Vermutung schadet Tomasellos Argumentation daher mehr als dass sie sie stärkt. Die Kapitelüberschrift „Wenn sich Biologie und Kultur treffen“ (auch im Englischen: „Where Biology and Culture Meet“) verdeutlicht darüber hinaus leider wieder einmal, dass vielerorts nicht sauber zwischen Gegenstandsebene (‚Kultur‘) und Gegenstandsuntersuchung (‚Biologie‘ ist die Wissenschaft von dem Lebendigen) unterschieden wird.

Das Verblüffende an den Ergebnissen der von Tomasello angeführten beziehungsweise von ihm und seinem Team konzipierten und durchgeführten Studien ist, dass sie letztlich niemanden verblüffen können, der auch nur halbwegs mit Tieren vertraut ist: Selbstverständlich – und ungeachtet aller wie auch immer gerechtfertigten Bemühen um Tierrechte et cetera – agieren Tiere nicht wie Menschen! Das implizite Wissen, das wir alle uns schon als Kinder angeeignet haben, wird hier expliziert und damit endlich ins Bewusstsein gerückt. Hollywoodfilmen mit tierischen Helden zum Trotz erwartet wohl niemand ernsthaft, dass etwa Affen oder Delfine (sogar unabhängig von ihren physiologischen Beeinträchtigungen) kompetent umgehen könnten mit den „hochkomplexen Kooperationsformen der modernen Industriegesellschaften – von den Vereinten Nationen bis hin zum Einkaufen mit Kreditkarte im Internet“.

Immerhin hätte wohl kaum jemand ernsthaft bei diesem Experiment ein anderes Ergebnis erwartet: In einem Test konnten menschliche respektive Schimpansen-Testaten zwischen jeweils zwei Tabletts mit bereits vorab verteiltem Futter wählen, etwa zum einen „acht Trauben für mich, zwei für dich“ oder „fünf für jeden von uns“. Der Partner konnte seinen Anteil entweder annehmen, oder dafür sorgen, daß keiner etwas bekam. „Menschen lehnen Angebote wie ‚acht für mich, zwei für dich‘ in der Regel als unfair ab, wenn es die Alternative ‚fünf für beide‘ gibt. Nicht so die Schimpansen. In ihrem Fall machte der Anbieter fast immer egoistische Angebote, und der Partner nahm mit Ausnahme der Nullvariante fast immer alles an“.

Solche Beobachtungen sucht Tomasello dann in einem weiteren Schritt zu deuten: „Wenn die gerechte Aufteilung der Belohnung nicht geregelt wird, bricht die Kooperation nach einer Weile zusammen. Und genau dies trat auch bei Schimpansen ein. Nachdem sie ein- oder zweimal geholfen hatten und dabei leer ausgingen, weigerten sich die Schimpansen, auch weiterhin zu helfen, und die Aufgabe blieb ungelöst. Der Schimpanse, welcher das Futter eingeheimst hatte, weigerte sich typischerweise zu teilen und führte damit das Ende der Kooperation herbei. Wir vermuten daher, dass Kinder sich um eine faire Aufteilung der Belohnung bemühen, um die Kooperation langfristig aufrechtzuerhalten.“

Eigentlich sind weder Beobachtung noch Deutung überraschend – aber Glanzleistung von Tomasellos Arbeitsgruppe ist es, in Weiterführung der Arbeiten gewitzter Experimentalforscher wie beispielsweise Wolfgang Köhler, zur Beantwortung ihrer Fragen die konkreten Testsituationen zu ersinnen und herbeizuführen und damit unser empraktisches vorwissenschaftliches ‚Wissen‘ über das Verhalten von Tieren systematisch zu unterfüttern. Darin hat Tomasellos Arbeitsgruppe schon vielfach große Expertise unter Beweis gestellt und bemerkenswerte Ergebnisse erzielen können.

Die Entwicklung der menschlichen Kooperationsfähigkeit rekonstruiert Tomasello in diesem Buch – wie schon andernorts – über die Exemplifizierung konkreter, jeweils unterschiedlicher Verhaltensweisen bei Tieren und Menschen und die spieltheoretische Ausdeutung der positiven wie negativen Folgen des jeweiligen Tuns. Die Kooperationsfähigkeit baue dabei auf Fähigkeiten und Motivationen auf, die im Kontext der Interaktion in kleinen Gruppen entstanden seien. In Abwandlung seiner Darlegungen könnte man sagen: Wenn beispielsweise in einer Partie des Brettspiels ‚Risiko‘ ein Mitspieler außerordentlich progressiv egoistische Motive verfolgt und diese auch noch deutlich proklamiert, dann darf dieser sich nicht wundern, wenn die anderen Spieler sich solidarisieren und ihn in kürzester Zeit in einer gemeinsamen Anstrengung besiegen. Tiere hingegen ‚spielen‘ zwar ohnehin nicht, sie tauschen sich aber auch ansonsten weder über ihre Absichten aus (der Vorstellung einer ‚echten‘ Tiersprache erteilt auch Tomasello knapp, aber dezidiert eine Absage), noch sind sie offenbar psychisch in der Lage, echte Kooperation anzustreben oder umzusetzen. Die proklamierte unkooperative, aggressive Haltung des hypothetischen Risiokospielers jedoch wäre im abstrakten evolutionären Kontext als ‚wenig aussichtsreich‘, in der wirklichen sozialen Situation des Menschen jedoch als schlicht ‚dumm‘ anzusehen.

Die ‚win-win‘-Situation, zu der kooperatives Handeln auf längere Sicht führt, wurde lange Zeit verkannt. Nicht erst in den letzten Jahrzehnten rätselten Ethologen und Evolutionsbiologen, wie sich ein Verhalten hatte etablieren können, das nicht auf den eigenen unmittelbaren Vorteil ausgerichtet ist, sondern gerade auf den anderer. Schon in den Jahrhunderten zuvor hatten Philosophen regelmäßig nicht viel damit anfangen können. Einige von ihnen meinten sogar, solche Verhaltensweisen gelte es zu überwinden: Nietzsche etwa ist berüchtigt für seine entsprechenden, oft polemischen Schriften – die indes der soliden Argumentation Tomasellos nichts Angemessenes entgegenzusetzen haben.

Titelbild

Michael Tomasello (Hg.): Warum wir kooperieren.
Übersetzt aus dem Englischen von Henriette Zeidler.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
144 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783518260364

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