Annäherung an ein unbekanntes Land

Zu Philipp Meusers Architekturführer über die nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang

Von Thomas BeutelschmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Beutelschmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hat das südliche Korea seit Teilung des Landes 1948 beziehungsweise nach Ende des international geführten Krieges 1953 ökonomisch und gesellschaftlich längst den Anschluss an die westliche Wertegemeinschaft geschafft, so orientiert sich der Norden bislang weder an der Perestroika- und Glasnost-Bewegung der ehemaligen Sowjetunion noch an der Verbindung von marxistischer Parteiideologie und freier Marktwirtschaft in der VR China. Die „Demokratische Volksrepublik“ ist ihrem Ruf als stalinistische Diktatur treu geblieben und zählt nicht nur für konservative Kreise der US-Administration als „Schurkenstaat“ in der „Achse des Bösen“.

Die abgeschottete Region war und ist in der globalen Öffentlichkeit meist nur durch Berichte über bedrohliche Atomtests und gravierende Menschenrechtsverletzungen oder über Hungersnöte und Verarmung präsent. Nur gelegentlich konnte das Regime andere und vielleicht sogar positiv aufgenommene Nachrichten produzieren. So etwa 1966 zur Fußball-WM in England, als mit Italien ein Favorit überraschend geschlagen und die Vorrunde siegreich überstanden wurde; oder als partiell offener Gastgeber zu den XIII. Weltfestspielen der Jugend und Studenten 1989.

Das negative Image ließ sich dadurch aber nicht korrigieren. Ebenso wenig durch wohlmeinende Veröffentlichungen europäischer Intellektueller, zu denen Luise Rinsers fragwürdiges „Nordkoreanisches Reisetagebuch“ ( 1981) zählt oder auch spätere Beiträge von Besuchern, wie in Christoph Moeskes Sammelband „Nordkorea. Einblicke in ein rätselhaftes Land“ (2004). Solche meist subjektiven Erfahrungsberichte und Analyseversuche konzentrieren sich weitgehend auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Situation der Bevölkerung. In der aktuellen politischen Diskussion wird immer wieder das Ziel einer Wiedervereinigung nach deutsch-deutschem Vorbild thematisiert, wofür jüngst die Veranstaltung „Einheit in Freiheit – Die Hoffnung für Korea“ in der Hessischen Landesvertretung zu Berlin anlässlich des Gedenkens an „50 Jahre Mauerbau“ beispielhaft stehen mag.

In manchem Internetauftritt oder in Fotobüchern hingegen findet sich jedoch ein ganz anderer Diskurs, der weniger von ideologischen oder moralischen Fragen geleitet, sondern mehr auf Repräsentation und Selbstdarstellung ausgerichtet ist – und durchaus eine eigenartige Faszination am Grau oder – besser? – am Grauen dieser Terra Incognita erkennen lässt. Zum einen verwies Joko Winterscheidt im Berliner Tagesspiegel auf eine für sich sprechende Zusammenstellung mit seriellen Bildern stereotyper Führerverehrung, die Kim Jong-il in immergleichen Posen bei Auftritten im ganzen Land  (http://kimjongillookingatthings.tumblr.com) zeigen. Zum anderen präsentierte Philippe Chancel seine irritierenden und zugleich anziehenden Aufnahmen, in denen die reale Welt von ihrer ästhetischen Inszenierung überlagert wird: „Nordkorea“ (2006).

Das besondere Erscheinungsbild des nordkoreanischen Gesellschaftsmodells manifestiert sich hier vor allem in der gebauten Umwelt und deren symbolischen wie ikonografischen Codes. Anlass sicher auch für den Architekten und Verleger Philipp Meuser, sich nach der DDR und Zentralasien nun auch dem äußersten Osten zuzuwenden. Er hat einen zweibändigen „Architekturführer Pjöngjang“ herausgegeben, der erstmals die nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft realisierten Bauten dokumentiert, städtebauliche Entwicklungen nachzeichnet und auf Referenzen aufmerksam macht. Mit den zusammengeführten Essays und den zahlreichen Abbildungen will er über die unbekannte Metropole fachlich informieren und gleichzeitig für die Exotik und Andersartigkeit dieser Fremde sensibilisieren – auch wenn sich derzeit der Tourist dort nicht frei bewegen darf und einer streng kontrollierten „Guided Tour“ unterwerfen muss.

Der erste Band, die der „Verlag für Fremdsprachige Literatur“ selbst zusammengestellt hat, gibt sowohl Fotos als auch Beschreibungen von rund 100 Objekten unkommentiert wider. Vorgeführt wird hier eine weitgehend menschenleere Kulisse. Diese offizielle Auswahl und Sprachregelung wird im zweiten Band ergänzt durch architekturtheoretische Kommentare und baugeschichtliche Hintergründe – eine notwendige Kontextualisierung und kritische Einordnung, die von der Partei und Regierung als subversiv interpretiert werden könnten: „Der Verlag kann daher keine Haftung übernehmen, wenn diese Publikation bei einer Reise nach Nordkorea mitgeführt wird und Schwierigkeiten mit örtlichen Behörden entstehen“, so der Warnhinweis im Buch.

In diesem zweiten Teil gibt Meuser zunächst einen Überblick und nimmt uns mit auf seinen Spaziergang durch die theatralische Retortenstadt. Er führt durch das „wahrscheinlich am besten erhaltene Open-Air-Museum sozialistischer Baukunst“ mit einem „architektonischen Kuriositätenkabinett“ in Gestalt von skulpturalen Denkmälern und stilisierten Propagandaplakaten, öffentlichen Gebäuden und Hotels, spektakulären Sportstätten und monotonen Wohnanlagen. Auf der einen Seite demonstrieren die bisweilen durchaus ambitionierten Entwürfe eine beängstigende Machtdemonstration, huldigen einem quasireligiösen Führerkult und wechseln zwischen steriler Prachtentfaltung und trister Kulisse; auf der anderen Seite verweisen sie – bei aller eigenständigen Interpretation und erkennbarer Traditionspflege – auf die klassische Moderne in Anlehnung von Le Corbusier und Hilberseimer, auf zeitgenössische Trends des International Style und postmoderne Strömungen oder auf konkrete sowjetische Vorbilder, wobei sich vor allem Parallelen zu neoklassizistischen Gesellschafts- und Kulturbauten in Osteuropa und China aufdrängen.

Überzeugend stellt sich für Meuser die konsequente Umsetzung städtebaulicher Prinzipien wie gute Orientierung und Proportionierung des weitläufigen Stadtraumes mit Achsen, Straßen und Plätzen dar: Ein Umbau, der aufgrund der fast vollständigen Kriegszerstörung beziehungsweise durch die uneingeschränkte Verfügbarkeit von Grund und Boden sowie die unangefochtene Planungshoheit der Partei- und Staatsführung möglich war.

Danach referiert Ahn Chang-mo über die jahrhundertalte Architektur- und Stadtgeschichte, die er in Beziehung zur Systemkonkurrenz mit Seoul in Südkorea setzt und mit den früheren Ideen der sozialistischen Musterstadt sowie den aktuellen Forderungen gemäß der „Juche“-Staatsideologie verbindet: „Im architektonischen Entwurf sollen nationale Besonderheiten mit modernen Elementen kombiniert werden“.

Christian Posthofen widmet sich anschließend dem durchdachten Entwurf der Straßen und Plätze, in dem er eine „Verschiebung der Perspektive von einer chronologischen Betrachtung […] hin zu einer räumlichen Sichtweise“ im Sinne des „Spatial Turns“ erkennt. Zum Beleg stellt er auszugsweise das Traktat „Über die Baukunst“ mit eigenen Kommentaren versehen vor, das angeblich aus der Feder von Kim Jong-il aus dem Jahr 1991 stammen soll: eine „Anweisung, wie mit Mitteln von konsequent ideologisch aufgeladener Architektur und unter Ausschaltung der Möglichkeit jener Kritischen Haltung [Michel Foucaults, T. B.] kompromisslos regiert werden kann.“

Insgesamt betrachtet, lenkt der doppelte Architekturführer zu Pjöngjang den längst fälligen Blick auf ein „materialisiertes soziologisch-gesellschaftliches Experiment, das bis heute als Relikt einer vergangenen Ära bewahrt geblieben ist“. Darüber hinaus vermittelt die eingehende Lektüre der Texte und das anregende Studium der Bilder den Eindruck von einem „städtischen Gesamtkunstwerk“, das später vielleicht einmal zum Welterbe-Katalog der UNESCO zählen könnte. Und in jedem Fall sind die beiden Bände ein unverzichtbarer Begleiter für die dann zahlreichen Fahrten nach Fernost, wenn in Zukunft tatsächlich einmal die Vereinigung von Süd- und Nordkorea Wirklichkeit wird.

Titelbild

Philipp Meuser (Hg.): Architekturführer Pjöngjang. Reiseführer Nordkorea.
DOM publishers, Berlin 2011.
360 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783869221267

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