Gibt es weniger Gewalt auf der Welt – oder wird alles nur noch schlimmer?

Zu dieser Ausgabe: Steven Pinker, W. J. T. Mitchell und andere regen kontroverse Auseinandersetzungen mit einem der dringendsten Probleme unserer Zeit an

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gibt es wirklich Grund für so viel Optimismus? In seinem zuletzt in den Feuilletons viel besprochenen Buch „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ verkündet der kanadische Psychologieprofessor Steven Pinker von der renommierten Harvard-Universität eine frohe Botschaft. Er „erinnert uns daran, dass die Vergangenheit trotz aller Gefahren, denen wir heute gegenüberstehen, noch gefährlicher war“.

Um diese erstaunliche These zu untermauern, holt Pinker weit aus. Er geht zurück bis in die Frühgeschichte der Menschheit, streift mit Homers blutrünstigen Kriegsbeschreibungen antike Zeiten und thematisiert das Martyrium Jesu. Auch das Schicksal vieler späterer Opfer von religiös motivierter Gewalt erspart der Autor seinen Lesern nicht. Fiktion und Realität vermengen sich dabei allerdings auf wissenschaftlich kaum vertretbare Weise – denn was für Pinker zählt, ist vor allem die Anschaulichkeit und die den Leser emotionalisierende Drastik seiner Beispiele: „Die heilige Barbara, Namenspatronin der hübschen kalifornischen Stadt, wurde kopfüber an den Fußgelenken aufgehängt. Dann rissen Soldaten ihren Körper mit eisernen Haken auseinander, schnitten ihr die Brüste ab, verbrannten die Wunden mit heißen Eisen und schlugen ihr mit stachelbesetzten Knüppeln den Kopf ein.“

Wenn Pinker erst einmal ins Erzählen kommt, gibt es kein Halten mehr: „Und dann gibt es den heiligen Georg, den Schutzheiligen Englands, Palästinas, Georgiens, der Kreuzritter und der Pfadfinder. Da Gott ihn ständig wiederbelebte, wurde Georg viele Male zu Tode gefoltert. Man setzte ihn mit Gewichten an den Beinen rittlings auf eine scharfe Messerschneide, röstete ihn über dem Feuer, stach ihm durch die Füße, zerschmetterte ihn auf einem mit Dornen besetzten Rad, schlug ihm 60 Nägel in den Kopf, schmolz ihm mit Kerzen das Fett aus dem Rücken und sägte ihn in zwei Teile.“

Die Leser seines schaurigen Buches jedoch, so Pinkers freudestrahlende Nachricht, bräuchten heute immerhin „keine Angst vor sexueller Sklaverei, göttlich befohlenem Völkermord, tödlichen Zirkusspielen und Turnieren oder dem Kreuz zu haben; sie müssen nicht befürchten, wegen unerwünschter Überzeugungen auf der Streckbank, dem Rad, dem Scheiterhaufen oder durch Strappado gefoltert zu werden; sie werden nicht enthauptet, weil sie keinen Sohn zur Welt bringen, nicht aufgeschlitzt, weil sie sich mit einem Mitglied der Königsfamilie getroffen haben, die Ehre wird nicht mehr mit Pistolenduellen verteidigt, wir brauchen unsere Freundinnen am Strand nicht mehr mit Fausthieben zu beeindrucken, und wir brauchen keine Sorge zu haben, dass ein globaler Atomkrieg das Ende der Zivilisation oder des gesamten menschlichen Lebens mit sich bringt.“

Das klingt zu schön, um wahr zu sein. In der Weihnachtsausgabe der „Jungle World“ etwa schrieb Jörn Schulz, auf die heutige höhere Wertschätzung des Lebens, die Pinker ins Feld führe, solle man sich allein schon angesichts der Weltlage im kapitalistischen System besser nicht verlassen: „Selbst unter den günstigsten denkbaren Bedingungen schafft der Kapitalismus keinen Frieden. Und die Bedingungen werden wahrscheinlich ungünstiger. […] Da zudem viele Rohstoffe knapper werden und die Nachfrage wegen der Industrialisierung vieler Staaten steigt, könnte die Kriegsgefahr wachsen.“

Überhaupt ist die Freude über das statistische Abnehmen von Gewalt in der Gegenwart wohl auch eine Frage der Perspektive. Für die Bewohner der von Pinker erwähnten, ‚hübschen‘ Stadt Santa Barbara in Kalifornien, die sich mit einem Drink am Pool räkeln, mag das, was der Autor an Errungenschaften unserer Zeit so erleichtert herausstreicht, derzeit gewiss noch zutreffen. Aber für Oppositionelle in Syrien, die gerade irgendwo zu Tode gefoltert werden, wohl weniger. Pinker müsste nicht einmal nach Übersee in den Nahen Osten blicken – der Horror, dessen jüngste Eindämmung er so feiert, findet bereits direkt vor der eigenen U.S.-Haustüre statt: Im Süden trennt in Kalifornien eine martialisch befestigte Grenzanlage die USA von Mexiko, wo ein Drogenkrieg tobt, in den auch die Polizei und die Regierungstruppen verstrickt sind und der vor allem unter den Frauen, an denen seit Jahren ein regelrechter „Feminizid“ begangen wird, regelmäßig für grausige Opfer sorgt: Man findet sie, wenn überhaupt, bestenfalls zu Tode gefoltert, verstümmelt und vergewaltigt in der Wüste wieder.

Man könnte die Liste der Einwände gegen Pinkers Optimismus beliebig fortsetzen: Was meinten wohl die Folteropfer in Guantánamo und aus Abu Ghraib zu seinen Thesen? Was die Zielgruppe des kaum zur Kenntnis genommenen Völkermords, der seit Jahren in Darfur stattfindet? Was die Leute, die sich in China ohne jede gewerkschaftliche Hilfe wie Sklaven zu Tode schuften müssen? Auch die Bürger Israels würden dem Harvard-Psychologen wohl nicht unbedingt ohne Umschweife in der Annahme zustimmen, sie bräuchten überhaupt keine Angst mehr vor einem Atomkrieg zu haben. Überschlagen sich doch gerade die Hiobsbotschaften über die Kriegsvorbereitungen des Iran und sein rapide voranschreitendes Atomprogramm, das seit Jahren mit expliziten Vernichtungsdrohungen gegenüber Israel flankiert wird, auf die beunruhigendste Weise.

Herfried Münkler hat die seltsamen statistischen Rechenspielchen, die Pinker anstellt, um zu beweisen, dass unsere Welt seit der Frühzeit der Menschheit immer besser geworden sei und dass noch während der Ära Dschingis Khans in Relation zur seinerzeit existierenden Gesamtbevölkerung sogar mehr Menschen umkamen als im Zweiten Weltkrieg, bereits in seinem Verriss in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Frage gestellt: „Natürlich weiß Pinker um die Unzuverlässigkeit solcher Zahlen, notiert dies auch mehrfach, lässt es dann dabei aber bewenden und behandelt die Zahlen, als seien sie in der Epoche der amtlichen Statistik erhoben worden. Diese wundersame Verwandlung des Unzuverlässigen ins Zuverlässige durch das Eingeständnis der Unzuverlässigkeit ereignet sich in Pinkers Buch aber keineswegs nur bei den Statistiken, sondern auch im Umgang mit den Quellentexten selbst. Literarische Texte wie die Homers sind nun einmal nicht als historische Quellen zu behandeln: Auch dies weiß Pinker, zieht aber keine Konsequenzen aus diesem methodischen Problem.“

Münklers eigene einschlägige Bücher und Aufsätze, die er in den letzten Jahren zum Thema der Neuen Kriege verfasst hat, bringen uns da schon weiter: Zu nennen wären hier die Publikationen „Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion“ (Frankfurt am Main 2002), „Die neuen Kriege“ (Reinbek bei Hamburg 2002), „Der neue Golfkrieg“ (Reinbek bei Hamburg 2003) sowie „Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie“ (Weilerswist 2006). Einige ausgewählte Argumente aus diesen Büchern mögen an dieser Stelle zumindest andeutungsweise zeigen, dass weiterhin kein Grund zu Euphorie besteht, wenn man sich über das Thema Gewalt unter Menschen Gedanken macht.

Der Krieg habe sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten „mehr und mehr aus ­einem Instrument politischer Interessen- und Willensdurchsetzung in eine Form privatwirtschaftlich organisierter Einkommenserzielung und Vermögensakkumulation verwandelt“ und sei dabei mit der „international organisierten Kriminalität, dem Drogen-, Waffen- und Menschenhandel“ eine „enge Verbindung eingegangen“, stellt Münkler nüchtern fest. Damit seien gewissermaßen Formen der verhängnisvollen und perpetuierten ‚Selbsternährung‘ von auf Dauer gestellten, bürgerkriegsähnlichen Konflikten, wie sie bereits im Dreißgjährigen Krieg entstanden, mit den ‚Warlords‘ unserer Tage wieder in die Gegenwart zurückgekehrt. Dies alles heiße also keineswegs, schreibt Münkler, dass die „moralische Macht der Staaten zur Mobilisierung der Tötungs- und Sterbensbereitschaft großer Teile ihrer Bevölkerung gänzlich und überall verschwunden ist, sondern sie hat sich verlagert und ist nunmehr vor allem bei jenen Staaten zu beobachten, die im Unterschied zu den weitgehend säkularisierten westlichen Demokratien weiterhin auf religiöse Handlungsmotive zurückgreifen können“.

Wenn also Pinker in einem Interview mit der „taz“ jene Soziologen kurzerhand für „verwirrt“ erklärt, die einen anderen Gewaltbegriff benutzen als er, und sich freut, dass das Gewaltmonopol der Staaten zu einem weiteren Abnehmen von Gewalt in unserer Zeit geführt habe, so wird man ihm entgegnen müssen, dass gerade eine sukzessive Auflösung dieses Monopols den Charakter der Neuen Kriege ausmache: So berichtet Münkler etwa, dass die Kriege zwischen den Staaten zwar seltener geworden, dafür aber innerstaatliche Kriege zugenommen hätten – eine Erkenntnis, die zuletzt auch durch die Revolutionen des „arabischen Frühlings“ in den Diktaturen des Nahen Ostens und Nordafrikas, etwa in Libyen, im Jemen und in Syrien, noch einmal neu bestätigt wurde. Die dramatische Veränderung der Opfergruppen solcher Kriege deutet dabei laut Münkler eher auf eine Verschlimmerung der Weltlage denn auf eine Verbesserung hin: „Waren bei den klassischen Staatenkriegen, zu denen hier auch noch der Erste Weltkrieg gezählt werden kann, etwa 90 Prozent der Opfer Kombattanten und nur 10 Prozent Nonkombattanten, so hat sich diese Relation inzwischen in ihr exaktes Gegenteil verkehrt: Etwa 80 Prozent der in den jüngsten Kriegen Getöteten oder Verwundeten sind Zivilisten.“

Hier setzt zum Beispiel auch die Studie von W. J. T. Mitchell an: „Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11“. Für Mitchell ist klar, dass sich der moderne Terror fortsetze und vervielfältige wie Krebszellen. Es handele sich um ‚geklonte‘ Formen des Krieges, die er mit dem gleichnamigen biopolitischen Entdeckungen der Genforschung zusammendenkt: „Gemeinsam brachten sie ein Syndrom hervor, das ich ‚cloning terror‘, das ‚Klonen des Terrors‘, nenne, den Prozeß, der dafür sorgt, dass der Krieg gegen den Terror als Bild einer unsichtbaren, allgegenwärtigen Bedrohung sich noch weiter verbreitet.“

Man tut also gut daran, sich von den Thesen, die Pinker in seinem Buch vertritt, nicht ohne Weiteres dazu verführen zu lassen, sich einfach zurückzulehnen und gelassen auf ein ‚goldenes Zeitalter‘ der Gewaltlosigkeit einzustimmen. Erhellender können dagegen nicht zuletzt Relektüren von Texten sein, die sich seit dem 18. Jahrhundert mit dem Phänomen der Gewalt auseinandergesetzt haben – sei es auf affirmierende oder analytische und kritische Weise: Empfohlen sei dazu die materialreiche Festschrift zum 65. Geburtstag des Göttinger Historikers Bernd Weisbrod, die Uffa Jensen, Habbo Knoch, Daniel Morat und Miriam Rürup im Göttinger Wallstein Verlag herausgegeben haben: „Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen“. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen stellen darin 35 so unterschiedliche Texte wie Carl von Clausewitz’ „Vom Kriege“ (1832-34), Joseph Conrads „Heart of Darkness“ (1899), Ernst Jüngers „Kampf als inneres Erlebnis“ (1922), Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930), Jean Amérys berühmten autobiografischen Text über „Die Tortur“ (1965) oder auch Edward Saids „Orientalism“ (1978) in kenntnisreichen Beiträgen vor.

Auch Habbo Knoch gibt in seinem Vorwort, das einen dichten historischen Abriss entlang von vier „Paradigmen des Gewaltdiskurses“ darstellt, keinen Grund zur vorzeitigen Entwarnung. Er versucht sein Thema stattdessen differenzierter ins Auge zu fassen: Unter Berufung auf Jan Philipp Reemtsmas große Studie über „Vertrauen und Gewalt“ (2008) und die Arbeiten Weisbrods fordert er eine Analyse der Gräuel der Moderne, die sich sowohl kulturpessimistischen als auch anthropologischen Verkürzungen versagen müsse. Vielmehr gelte es, die „Kontingenz kultureller Habitualisierung, sozialer Codes und politischer Ordnungen“ mitzubedenken, da es gerade jene daraus resultierenden „Spannungslagerungen“ seien, die man mit interdisziplinärer Kompetenz zu untersuchen habe – die Gewalt als „performatives Geschehen“, dessen Geschichtsschreibung sowohl „vom Tod spricht“ (Michael Geyer) als auch aus der Perspektive der Opfer ins Auge zu fassen sei, deren Formen denkerischer Bewältigung von Traumata in die Analysen solcher Phänomene mit einbezogen werden sollten: Erst aus dem Wechselverhältnis von sozialer und politischer Ordnung mit der Gewalt als performativem Akt und situativem Geschehen sind laut Knoch „jene Interpretationen zu gewinnen, die Gewalt nicht als Folge bloßer anthropologischer Reaktionsmechanismen missverstehen lassen. Hier steht die Geschichtswissenschaft insbesondere hinsichtlich einer Globalgeschichte der Gewaltordnung, die makro- und mikrohistorische Perspektiven verbindet, erst am Anfang.“

Zu Beginn des Jahres 2012 versucht unsere Zeitschrift literaturkritik.de, mit kulturwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen, soziologischen und ethisch motivierten Ausblicken an diesen „Anfang“ anzuknüpfen, sowohl im Januar als auch im Februar. In beiden Monaten befasst sich der Themenschwerpunkt mit „Gewalt und Tod“. Die Januar-Ausgabe konzentriert sich dabei auf Gewalt – mit Interviews, Aufsätzen, Essays und Rezensionen. Einer der Beiträge stellt dabei Pinkers Buch aus neurowissenschaftlich und evolutionsbiologisch orientierter Perspektive in Frage. Nicht zuletzt bringen wir zwei Filmkritiken zu David Cronenbergs Werk „Eine dunkle Begierde“, das nicht nur das vertrackte Dreiecksverhältnis von C. G. Jung, Sabina Spielrein und Sigmund Freud behandelt, sondern in dem auch Sexualität und Gewalt eine zentrale Rolle spielen.

Dies alles ist jedoch nicht etwa als ein apokalyptischer Gruß zum neuen Jahr gemeint, sondern vielmehr als Erinnerung an eines der dringendsten Probleme unserer Zeit, mit dem wir uns – wohl oder übel – weiter auseinanderzusetzen haben werden. Unsere Februar-Ausgabe wird sich der Thematik noch einmal widmen: Gewalt ist dabei dann aber nur einer unter vielen anderen Aspekten kulturell geprägter Umgangsformen mit dem Tod.

Es wünscht Ihnen alles Gute zum neuen Jahr
Ihr
Jan Süselbeck

Titelbild

W. J. T. Mitchell: Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9 / 11.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
288 Seiten, 28,90 EUR.
ISBN-13: 9783518585696

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
1312 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783100616043

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Daniel Morat / Uffa Jensen / Miriam Rürup / Habbo Knoch (Hg.): Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
423 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835309012

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