Gewalt des Wortes – Urwucht der Poesie
Ein Gespräch mit Clemens Meyer
Von Stephanie Waldow
Clemens Meyer, der für seinen Debütroman „Als wir träumten“ zahlreiche Preise erhielt, darunter den Mara-Cassens-Preis, und der 2008 für seinen Erzählungsband „Die Nacht, die Lichter“ unter anderem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, hat 2010 mit „Gewalten“ ein Buch vorgelegt, in dem die Innen- und Außenräume des menschlichen Erlebens und Wahrnehmens auf ihr Gewaltpotenzial hin ausgelotet werden.[1] Die Wende zum Jahr 2009 wird zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Gewaltausprägungen. Zur Sprache kommen zentrale öffentliche Gewaltereignisse, wie der Amoklauf von Winnenden, der ‚Fall Michelle‘, aber auch scheinbar private Gewalten, wie der Tod des geliebten Hundes oder der Abschied von einem Freund im Hospiz. Der Text, der im Untertitel mit ‚Tagebuch‘ unterschrieben ist, wählt konsequent die Ich-Perspektive und hinterfragt auf diese Weise die Dichotomie zwischen Täter und Opfer. Stephanie Waldow traf den Autor und sprach mit ihm über die verschiedensten Formen von Gewalt und vor allem über den Zusammenhang von Gewalt und Sprache.
Der Begriff der Gewalt hat bereits eine lange Tradition und vor allem eine sehr ambivalente Begriffsgeschichte. Zudem vermerkt Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache, dass sich die „häufigkeit der verwendung und die ausdehnung des bedeutungsumfangs, die schon das erste literarische auftreten [von Gewalt, S. W.] kennzeichneten, sich bis in die neuere Zeit nicht vermindert haben.“[2] Auffällig ist vor allem die Doppeldeutigkeit des Begriffs, die Opposition von ‚potestas‘ und ‚violentia‘, also zwischen legitimer und illegitimer Macht beziehungsweise zwischen Autorität und Zwang.
Hinzu kommen alltagssprachliche und metaphorische Erweiterungen des Begriffs, so dass häufig zwischen Gewalt, die den Körper als Referenzobjekt denkt[3], struktureller Gewalt[4] und kultureller Gewalt[5], zu der unter anderem auch Religion, Sprache und Kunst gehören, unterschieden wird. In den neueren Kulturwissenschaften wird in diesem Zusammenhang Gewalt oftmals als „Text“ verstanden und damit implizit auch die Kompetenz der Literaturwissenschaft aufgerufen.[6] Ist der Titel Ihres Buches „Gewalten“ bzw. die Titelgeschichte selbst ein erster Hinweis auf die Vielfältigkeit und auch Ambivalenz des Gewaltbegriffs?
Ja, sicher. Für mich gibt es den klassischen Gewaltbegriff nicht. Der Mensch ist vielen Gewalten ausgeliefert, sowohl physisch als auch psychisch. Auch Krankheit ist Gewalt, Schicksal ist Gewalt, scheinbare Willkür und Zufall sind Gewalt – der Zufall stellt sogar eine ausgeprägte Gewalt dar. Den Titel meines Buches „Gewalten“ würde ich auch nicht mit „violences” übersetzen, sondern mit ‚pressures‘. Viele Sprachen können leider die Vielfältigkeit von Gewalten gar nicht zum Ausdruck bringen.
Gewalt, so, wie Sie sie gerade geschildert haben, beinhaltet das Unkontrollierbare; mehr noch, von dem Zufälligen, dem Schicksalhaften scheint geradezu Gewalt auszugehen.
Ja, das ist richtig. Das sieht man insbesondere am Kafka-Prinzip: Durch Zufall wird jemandem Gewalt angetan, er gerät, ohne es zu bemerken, in die Mühle einer Gewalt, und noch bevor es zur eigentlichen Gewaltausübung kommt, entwickelt sich eine Dynamik: eine Gewalt löst die nächste aus. Diese ‚gewaltige‘ Dynamik interessiert mich ganz besonders.
Die Gewaltthematik scheint gerade in der Gegenwartsliteratur besonders virulent zu sein. Haben Sie eine Erklärung dafür und vor allem, was hat Sie dazu veranlasst, dieses Thema aufzugreifen?
Das war Zufall. Für dieses Buch gab es einige konkrete Situationen, in die ich geraten war, die ich literarisch verwenden wollte und die schließlich als Motto des Buches fungierten: Der Mensch unter den verschiedensten Gewalten. Allerdings habe ich mich in meinen anderen Büchern ebenfalls mit Gewalt beschäftigt. Ich war oft Zeuge oder involviert in Situationen, in denen Gewalt zum Ausdruck kam. Literarisch hat mich interessiert, diese Gewaltdynamik darzustellen, Personen zu beschreiben, die unter den Einfluss verschiedenster Gewalten geraten, sei es physischer, sei es psychischer Gewalten. Jene Situationen künstlerisch auszuloten und zu beschreiben, ist mein Anliegen.
Hat das Thema ‚Gewalt‘ für Sie eine gesellschaftliche Relevanz, insbesondere vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen?
Durchaus, wir leben in gewalttätigen Zeiten. Aber das war ja eigentlich schon immer so. Es liegt natürlich immer im Auge des Betrachters, liegt an der Zeit, aus der heraus man sich definiert. Es ist paradox; wir haben den Anspruch, uns von Gewalttätigkeiten wegzubewegen und trotzdem brechen sie immer wieder in das Alltagsleben herein.
Zunächst hat Gewalt seiner indogermanischen Wurzel folgend die Bedeutung ‚Verfügungsfähigkeit haben‘ und entsprach damit dem lateinischen ‚potestas‘. Die Nähe zum lateinischen ‚potentia‘ – ‚Macht‘ wird hier nur allzu deutlich. Eine Nähe, die unter anderem Hegel in seiner Logik aufgreift, wenn er Gewalt als ‚Erscheinung von Macht‘ beziehungsweise als ‚Macht des Äußerlichen‘ beschrieben hat.[7] Im späten Mittelalter setzte allerdings eine Differenzierung zwischen der Macht als dem Vermögen, Einfluss auszuüben und der Gewalt als konkreter Ausübung dieses Vermögens ein. Giorgio Agamben führt diese Trennung weiter, indem er Macht als reine Potenzialität und Gewalt als deren jeweilige Aktualisierung beschreibt.[8] Wie würden Sie das Verhältnis von Macht und Gewalt beschreiben?
Es gibt eine Vielzahl von Gewalt-Instrumenten, wie die Moral oder die Religionen. Einige haben sich scheinbar von ihrer Gewalttätigkeit befreit, dennoch üben sie Macht aus. Das ist ein seltsames Paradox.
In modernen Gesellschaften steht nicht mehr so sehr die physische Gewalt im Vordergrund, sondern die Verfügung über gesellschaftlich relevante Symbolsysteme. Der Zugriff auf die Subjekte erfolgt dementsprechend durch gesellschaftliche Autoritäten. Würden Sie dem zustimmen oder handelt es sich hier um eine unzulässige Metaphorisierung von Gewalt?
Ja, das stimmt natürlich, Gewalt wird unter anderem durch das Rechtssystem ausgeübt, durch den Ein- und Ausschluss aus gesellschaftlichen Systemen, etwa durch Stigmatisierungen und so weiter. Allerdings möchte ich das Phänomen der körperlichen Gewalt nicht vernachlässigen. Es gibt durchaus oder wieder vermehrt eine Präsenz auch der physischen Gewalt. Die symbolische Gewalt und die konkrete Gewalt gehören für mich zusammen, weil die symbolische Gewalt nur dann sinnvoll als symbolische Gewalt zu bezeichnen ist, wenn sie eine konkrete Gewalt auslöst. Wenn jemand bestimmte Punkte ausspricht, die einen anderen verletzen, dann führt das unter Umständen zu konkreter Gewaltausübung. Schmerz ist immer physisch. Worte, Programme, Pauschalisierungen, die andere ausschließen, sind gewaltsam. Letzten Endes ist das Wort möglicherweise wirklich das Höchste. Denn es heißt: „Am Anfang war das Wort.“ Erst dann hat Kain Abel erschlagen. Aber es braucht immer die Interpretation des Wortes – vom Wort angezettelt. Schon allein die bloße Aussprache eines Wortes hat eine starke physische Macht: Man kann jemandem ins Ohr brüllen, so dass es geschädigt wird. Ganz absurd.
Wo ist hier die Grenze zu ziehen? Das ist eine schwierige Diskussion. Letztlich wird man diesbezüglich keine Antwort finden, wohl auch nicht auf die Frage, ob Gewalt stellenweise legitimiert werden kann. Selbst Kant hat den Tyrannenmord legitimiert und das, obwohl er den kategorischen Imperativ aufgestellt hat.
Eines der wichtigsten gesellschaftlichen Symbolsysteme ist die Sprache. Mit der Sprache wird die Zugehörigkeit oder der Ausschluss einzelner Subjekte von der Gesellschaft verhandelt; Sprache bestimmt die Identität des Menschen, beschreibt ihn als gesellschaftliches Subjekt. Ein Umstand, auf den unter anderem Michel Foucault hingewiesen hat.[9] Er nennt hier vor allem drei Systeme, die den gesellschaftlichen Diskurs regulieren. Es sind dies die Ausschließungsmechanismen, die er unter anderem an der Unterscheidung von Wahnsinn und Vernunft verdeutlicht und die letztlich auf einer machtvollen diskursiven Setzung beruhen. Hinzu kommen interne Prozeduren und schließlich die Verknappung, die besagt, dass die Subjekte an bestimmte Regeln gebunden sind, um am Diskurs teilnehmen zu können. Foucault stellt hier einen sehr deutlichen Zusammenhang zwischen Diskursmacht und Gewalt her. Wie würden Sie diesen Zusammenhang beurteilen?
Selbstverständlich, der ist vorhanden. Man muss nur Victor Klemperers „Notizbuch eines Philologen“ lesen, in dem er sich mit der Sprache des ‚Dritten Reiches‘ auseinandersetzt.[10] Da wird dieser Zusammenhang vollkommen klar. Man muss nur vor Gericht sitzen oder zuhören, um zu sehen, was da eigentlich passiert, wie Menschen degradiert werden, wie sie mit Worten zerstört werden, wie eine Maschine angesetzt wird, um dem Gegenüber ein Gefühl der Ohnmacht zu geben. Sprache ist absolutes Machtmittel der Gewalt beziehungsweise transportiert sie.
Einerseits zeigen Sie mit Ihrem Buch, dass der Einbruch von Gewalt die Ordnung auf den Kopf stellt, andererseits fungiert Gewalt aber auch als Mittel, um Ordnung herzustellen. Wie beurteilen Sie das Verhältnis von Ordnungs(macht) und Gewalt?
Wir befinden uns in einem geschlossenen Ordnungssystem, einem Kreislauf. Menschen mussten in der Resistance leben, mussten Partisanen werden, um aus dieser Ordnung auszubrechen. So wird es in jeder Gesellschaft immer Gewalt geben. Menschen, die sich segregieren, die sich abgrenzen, die in den Untergrund gehen. Wenn es das nicht mehr gibt, wird das System Überhand nehmen. Aber trotzdem kann man Gewalt nicht legitimieren. Natürlich gibt es auch Gewalt, um die Ordnung wiederherzustellen. Die Grenzen sind sehr dünn, der Grat ist schmal, auf dem man sich da bewegt. Es ist ein ständiger Prozess der Veränderungen, der dadurch entsteht. Jede Gewalt ruft Veränderungen hervor.
Emmanuel Levinas hat das Konzept der Anerkennung der absoluten Andersheit des Anderen entwickelt, um einer gewaltsamen Aneignung und damit Diskursmacht über den Anderen entgegenzuwirken. Allerdings geht damit eine Verabschiedung der Ontologie einher. Der Andere wird nicht vom Selben aus beschrieben, sondern das Selbst wird erst im Moment der Anrufung durch den Anderen zu einem sprechenden – antwortenden – Subjekt. Auf diese Weise entwirft Levinas in seinen Schriften die Idee einer gewaltfreien Kommunikation, die das sprechende Subjekt der Sprachmacht entbindet und in eine ethische Wechselrede mit dem Anderen eintreten lässt.[11] Ist ein Sprechen, welches sich diesem Paradigma verschreibt, überhaupt möglich?
Wenn jemand vor dir steht, der plötzlich anfängt, sich absurd zu verhalten, und behauptet, er sei normal, was passiert dann? Welche Instanz entscheidet über Normalität, ist das Ich die letzte Instanz? Von der Grundidee her stimmt natürlich, was Levinas sagt. Zunächst sollte man den Anderen als Anderen annehmen, aber eigentlich ist es unlösbar, weil der Mensch stets seine Perspektive zum Ausgangspunkt nimmt. Es kann immer nur einen Versuch der Annäherung geben. Sicher ist der Wille zum Versuch schon eine Art des gewaltfreien Kommunizierens.
Allerdings gehört auch das Impulsive, das Gewaltvolle zur Begegnung mit dem Anderen dazu, sofern es nicht zur physischen oder psychischen Gewaltausübung kommt. Letztendlich gibt es vielleicht auch nichts Schlimmeres als ein Utopia, in dem alle Menschen gewaltfrei und friedlich nebeneinander leben.
Eine zentrale Fragestellung, der sich der Band widmet, ist die Überlegung, ob es zu den spezifischen Möglichkeiten der Literatur gehört, einen solch gewaltfreien und ethischen Diskurs zu erproben. Bringt die poetische Sprache unter Umständen subversive Strategien zur Anwendung, um dem gesellschaftlichen Machtdiskurs entgegenzuwirken?
Ja, das denke ich schon. Der Schriftsteller ist ein Verführer, ein Wortverführer. Er regt möglicherweise Debatten an und schlägt mit der Faust in die Wunde. Dafür benutzt er eine Sprache, die sich stets an der Grenze bewegt. Man denke hier nur an den Expressionismus oder den Futurismus. Das Messer wird zum Wort. Die poetische Sprache will immer Energien hervorrufen. Gerade durch Autoren, die das Gewaltpotenzial des Wortes nutzen, um in der Gesellschaft Diskurse anzuregen. Der Schriftsteller soll und darf poltern, er soll und darf provozieren und er soll und darf beschimpfen.
Werden also im Bereich des Fiktionalen Freiräume geschaffen, in denen Gewalt allererst zum Ausdruck kommen kann?
Möglicherweise. Natürlich. Ich habe gerade Louis-Ferdinand Céline gelesen: „Reise ans Ende der Nacht“.[12] Das ist ein rassistisches Buch, aber trotzdem sagt es mir etwas über den Zustand der Gesellschaft. Das Unrechtsbewusstsein oder Rechtsbewusstsein wird durch gute Lektüre eher noch verschärft. Die meisten guten Schriftsteller tragen letztendlich einen Rest humanistisches Gedankengut in sich. Selbst Ernst Jünger.
Sogenante subversive Techniken, wie etwa die Destruktion von Sprache, die Intertextualität, wie sie nicht nur in Ihrer Erzählung „Draußen vor der Tür“ eine große Rolle spielt, haben durchaus ethischen Wert. So formuliert etwa Umberto Eco: „Auf der Ebene der parole können wir die langue erschüttern und uns so aus der Gefangenschaft befreien, in der uns die langue hält.“[13] Welche Funktion übernimmt die Intertextualität in ihrem Buch, handelt es sich hier um eine ethische Gewaltausübung? Eine Gewalt, die den Texten im Moment der Zitation zugemutet wird, die aber auf der anderen Seite zum Garant des Andenkens wird.
Ja, natürlich. Dort, wo sich Sprachen mischen, wo aus anderen Sprachen etwas übernommen wird, etwas herausgerissen und konserviert wird – an dieser Schnittstelle passiert etwas. Es ist ein dynamischer, fließender Prozess. Ich sehe das gar nicht so sehr als Gewalt. Es ist das Prinzip der Montage, obwohl die Montage auch eine Form von Gewalt ist – ethischer Gewalt. Aber man hat als Autor auch eine Verantwortung. Ich kann nicht aus einem anderen Leben etwas herausreißen oder stehlen, indem ich es zu Fiktion mache, es konserviere. Man kann das Leben nicht so eindeutig abbilden, man muss es abmildern. Ich habe zum Beispiel versucht, in dem Kapitel „Der Fall M.“[14], in dem es um das Verbrechen an dem Mädchen geht, den Medien die Gewalt zu entnehmen, zu entreißen; den Medien das Monopol auf die Darstellung solcher Vorgänge zu entziehen. Zum anderen habe ich aber auch versucht, die Gewalt der Medien abzubilden. Die Schlagwörter herauszugreifen, von denen letztlich auch eine Gewalt ausgeht. Es macht einen großen Unterschied, dass in den Medien permanent von der „kleinen“ Michelle die Rede ist und nicht einfach von dem „Mädchen Michelle“. Hier wird mit Sprache Gewalt ausgeübt, sowohl auf das Opfer als auch auf den Täter.
Die Ich-Perspektive, die gemeinhin mit einer relativ starken Erzählposition in Verbindung gebracht wird, und zwar in der Weise, als sie über das Erzählte Macht ausübt, scheint in Ihrem Buch allerdings die, auch diskursive, Ohnmacht des Subjektes zu markieren. Und das, obwohl es immer wieder auktoriale Kommentare gibt. Stellt diese Differenz eine Möglichkeit dar, auf die Wirkungsweisen des gesellschaftlichen Diskurses hinzuweisen? Auf das permanente Austarieren von Macht und Ohnmacht innerhalb des Diskurses?
Durchaus, ja. Für mich liegt das Geheimnis der guten Ich-Perspektive darin, dass das Ich als Kamera fungiert. Die Perspektive ist also nicht nur auf das eigene Erleben beschränkt, sondern auch auf andere Menschen. Diese werden nicht mit der Macht des allmächtigen Ichs beschrieben, sondern mit der Einfühlsamkeit eines Beobachters. Ein Beobachter, der nicht sagt: Ich sehe. Und das Gesehene dann interpretiert. Sondern ein Beobachter, der andere Menschen in ihrer Verletzlichkeit abbildet, in ihrer Kleinheit, in ihrem Streben, mitsamt den Dingen, die ihnen wichtig sind. Diese Vorgehensweise steht dem großmächtigen Ich entgegen. Es handelt sich also um ein stilles Ich, was am Rande steht und beobachtet. Eine allmächtige Ich-Perspektive ist eine sehr heikle Perspektive, die dahingeht, Dinge festzuschreiben.
Das Besondere an dem Gewaltenbuch ist sicher, dass hier gleichzeitig ein Ich gefesselt auf dem Bett liegt und seine Ohnmacht gegenüber dem System erkennt und sich doch im nächsten Augenblick zu einer Beobachterposition aufschwingt. Die Ich-Perspektive stürzt also immer wieder ab. Sie ist nicht haltbar, vor allem, wenn es um den Tod geht. Im „Fall M“ bricht die Erzählung dann einfach ab, das Ich sagt: „Und was ich noch…“ und am Ende steht der Bindestrich. Auch in der Hospizgeschichte. „Auf der Suche nach dem sächsischen Bergland“ erkennt das Ich seine absolute Ohnmacht. Es bewegt sich in einem riesigen Gebilde, wo es sich scheinbar zwischen den Zeiten und Räumen aufhält. Auf den ersten Blick hat es dadurch eine machtvolle Position. Das ist aber nur scheinbar so, am Ende überwiegt die Ohnmacht. Die Ohnmacht, die feststellt, dass sogar dann, wenn das Ich diesen scheinbar mächtigen Blick einnimmt, es durchaus ohnmächtig ist. Es handelt sich also um eine gewisse Schizophrenität.
Bietet die Form des Tagebuchs eine Möglichkeit für das erzählende Ich, Rechenschaft abzulegen, vor sich selbst und vor dem Leser? Und wird damit das Schreiben des Tagebuchs zu einer existenziellen Erfahrung, die das Ich mit dem Leser teilt und die es unter Umständen verändert? Auch und gerade in Bezug auf die Gewaltbereitschaft?[15]
In erster Linie handelt es sich um ein literarisches Buch. Die Form des Tagebuchs ist ja ein Konstrukt, natürlich ein bewusstes. Diese Form funktioniert für mich eigentlich nur im Verbund mit dem Wort Gewalten. Ein Tagebuch. Nicht Romangewalten. Ein Tagebuch. Letztendlich wird dadurch natürlich suggeriert, dass etwas direkt berichtet wird. Es wird Authentizität suggeriert. Der Leser wird durch dieses Tagebuch angesprochen, er wird herausgefordert. Hier scheint etwas wahrhaft zu passieren. Hier scheinen verschiedene Gewalten protokolliert worden zu sein, auch wenn sie mythisch überhöht werden. Das Tagebuch will natürlich dem Leser etwas zeigen und vor allem Unmittelbarkeit präsentieren.
„Gewalten“ ist das unmittelbarste Buch, was ich je geschrieben habe. Zwischen Erleben, Literarisieren, Recherchieren und Aufschreiben ist nur ganz wenig Raum. Dieses Buch war auch für mich ein sehr gewaltvolles Buch. Ich bin noch nie so angegriffen worden durch ein Buch; ich bekam Angst beim Schreiben mancher Texte. Über Gewalt so zu schreiben, sich im Prinzip auf die Knochen toter Menschen zuzubewegen, das war sehr extrem. Ich musste mich instrumentalisieren, über Sexualität, über Gewalt, um mich mit den einzelnen Figuren auf eine Stufe zu begeben. Beispielsweise mit diesem jungen Menschen, dem Mörder, musste ich mich auf eine Ebene begeben, um mit ihm kommunizieren zu können. Das war sehr schwer. Ich habe mir im Prinzip selbst Gewalt angetan, auch wenn es nur virtuell war.
Oder die Erzählung von Winnenden. Da habe ich immerhin noch ein Medium dazwischen schieben können. Ich habe ja keine Protokolle geschrieben, es war mehr eine Reise durch Raum und Zeit. Den Erzählräumen gegenüber habe ich aktiv Gewalt ausgeübt, aber auch mir selbst gegenüber. Ich habe mich im Prinzip selber bestohlen, ich möchte es auch nicht mehr machen. Zumindest nicht in den nächsten zehn Jahren.
Findet eine Verschiebung der Gewalt von der sogenannten ‚Naturgewalt‘ hin zu einer durch den Menschen selbst geschaffenen ‚zweiten Natur‘ statt? Die zahlreichen intermedialen Verweise, zum Beispiel auf den Film oder vor allem auf das Internet, die Ihre Texte nicht nur inhaltlich, sondern auch formal bestimmen, könnten ein Hinweis darauf sein.
Wir beschleunigen sozusagen die Ausnutzung unserer Ressourcen. Gewalt wird ja vom Menschen erschaffen und wendet sich dann wieder gegen seinen ‚Schöpfer‘. Diesen Zusammenhang auszuloten, interessiert mich.
Immer wieder treten in ihren Erzählungen Figuren auf, die von der zunehmend medialisierten Welt gesteuert zu sein scheinen. Etwa in der Erzählung „German Amok“, in der sich Cyberwelt und Realität vermischen. Und „In den Strömen“ heißt es beispielsweise: „Ich will raus aus diesem Urwald der exotischen Ideen, geometrischen Spinnereien, Realitätsverschiebungen, in dem es zugeht wie in einem B-Movie, Aktion Mutante.“[16]
Ist Gewalt in dem Zusammenhang auch Ausdruck der Entfremdung des Subjekts, nicht nur von seiner ihm eigenen Lebenswelt, sondern auch von der Sprache, die sich durch den sogenannten ‚Medial Turn‘ radikal verändert zu haben scheint?
Ja, absolut. Aber das hängt auch mit unseren Megacities und unserer Art und Weise, wie wir leben, zusammen. Der Mensch entfremdet sich immer mehr von sich selbst, je mehr er auf engstem Raum mit anderen Menschen zusammenlebt. Das ist eigentlich paradox. Und dieses Paradox hängt auch mit der Gewalt zusammen. Es ist so komplex, dass man diesen Prozess gar nicht richtig durchschauen kann. Aber ich glaube, dass der Mensch sich durch die Medien in seinem Wesen, in seiner Sprache, verändert. Stellenweise ersetzt die virtuelle Welt sogar die Lebenswelt.
Der Literaturwissenschaftler Christian Begemann stellt, bezogen auf die Zeit der Aufklärung, einen Zusammenhang zwischen einer Gewaltneigung einerseits und der Tabuisierung im gesellschaftlichen Diskurs andererseits her.[17] Wie würden Sie diesen Zusammenhang beschreiben und trifft die gestellte Diagnose auch oder gerade für die Gegenwart zu? Und stellt der Tabubruch in der Literatur unter Umständen auch eine Strategie dar, um den gesellschaftlichen Diskurs zu unterlaufen?
Einerseits redet der Mensch nicht wirklich über gewaltsame Dinge. Es gibt von Natur aus eine Tendenz dazu, über Gewalt nichts hören oder lesen zu wollen. Sonst wäre mein Buch schon hunderttausend Mal verkauft worden. Andererseits führt die Präsenz von Gewalt in der Gegenwart zur Abstumpfung und damit letztlich zur Gewaltneigung. Es ist ein Paradox, das wohl nicht zur Auflösung kommt.
Ist die Bereitschaft zur Gewalt eine anthropologische Grundkonstante bis hin zur Lust an der Gewalt, die in Ihrem Buch immer wieder thematisiert wird?[18]
Absolut, ja. Gewalt ist Teil der menschlichen Natur, man muss das wissen und akzeptieren. Sie ist ein Teil des menschlichen Wesens. Die einzige Möglichkeit liegt darin, diesen Mechanismus zu analysieren, ihn bewusst zu machen und dagegen anzuschreiben. Vielleicht wird es eines Tages einen großen Zusammenbruch der Weltsysteme geben. Darauf folgt möglicherweise erst einmal eine Zeit der Gewalt, der Restauration, der Dezimierung, bevor alles wieder von vorne losgeht. Da die Zeit unendlich ist, kann es möglicherweise in ferner Zukunft ein gewaltfreies System geben. Theoretisch ist es möglich.
Ist Ihr Gewaltbuch ein ethisches Buch?
Nein, es ist kein ethisches Buch. Wenn es keine Missstände und keine Gewalt geben würde, könnte ich nicht darüber schreiben. Ich nähre mich von ihnen wie ein Parasit. Aber letztendlich stoßen sie mich auch ab und ängstigen mich. Viele Dinge, die passieren, ängstigen mich. Zu allererst will ich Literatur machen. Gewalt mit dem Wort ausüben, es in seiner Urwucht und Poesie präsentieren. So gesehen ist Literatur immer, auch wenn man es nicht explizit will, ein kleines bisschen ethisch. Paradoxerweise gerade in ihrer Antiethik. Gute Bücher bewegen immer, ob es der Autor will oder nicht. Belanglose Bücher sind unterhaltend; das hat auch seine Berechtigung. Aber das steht mir nicht im Sinn. Zumindest mit „Gewalten“ wollte ich wühlen und wagen, auf bestimmte Dinge hinzuweisen. Aber in erster Linie wollte ich mir selbst mit der Literatur genügen, da bin ich Egoist. Doch wenn ich egoistisch bin und gute Literatur machen will, dann ist es immer Literatur über Menschen, dann nähere ich mich ihnen, höre ihnen zu und lasse mich auf sie ein. Das kann Literatur leisten. Das ist, finde ich, schon einmal viel.
Anmerkung der Redaktion: Das Gespräch entstammt dem von Moritz Baßler, Cesare Giacobazzi, Christoph Kleinschmidt und Stephanie Waldow herausgegebenen Band „(Be-)richten und Erzählen. Verstehen von Literatur als Praxis gewaltfreien Denkens und Handelns. Paderborn, Wilhelm Fink Verlag 2011. Wir danken der Herausgeberin für die Publikationsgenehmigung.
[1] Clemens Meyer, Als wir träumten, Frankfurt a. M., 2006; ders., Die Nacht, die Lichter, Frankfurt a. M., 2008; ders., Gewalten. Ein Tagebuch, Frankfurt a. M., 2010.
[2] Zur Begriffsgeschichte und insbesondere zur Ambivalenz des Begriffs vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16. Bde., Leipzig, 1854-1960, Bd. IV/I.3, Art. „Gewalt“, Sp. 4910-5094; außerdem: Kurt Röttger, Art. „Gewalt“, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt, 1974, Sp. 562-570; Horst Bürkle, Art. „Gewalt, Gewaltlosigkeit. I. Religionsgeschichtlich“, in: Walter Kasper (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg i. Br., 31995, Sp. 609.
[3] Für Hirsch ist die Referenz auf den Leib die Bedingung der Gewalterfahrung. So gesehen ist Gewalt ohne einen physischen Aspekt nicht zu denken (vgl. Alfred Hirsch, „Notwendige und unvermeidbare Gewalt? Zur Rechtfertigung von Gewalt im philosophischen Denken der Moderne“, in: Mihran Dabag [u. a.] (Hrsg.), Gewalt, Strukturen, Formen, Repräsentationen, München, 2000, S. 55-80).
[4] Vgl. Kurt Röttgers, „Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt“, in: Kristin Platt (Hrsg.), Reden von Gewalt, München, 2002, S. 80-120.
[5] Vgl. Johan Galtung, Art. „Gewalt“, in: Christian Wulf (Hrsg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel, 1997, S. 913-919.
[6] Vgl. Brigitta Nedelmann, „Gewaltsoziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen und Wege der künftigen Gewaltforschung“, in: Trunz von Trotha (Hrsg.), Soziologie der Gewalt (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37), Opladen, 1997, S. 59-85.
[7] Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Wissenschaft der Logik, Bd. 1., hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M., 1979. Auch Borgards und Bergengruen machen auf die ambivalente Verstrickung von Macht und Gewalt aufmerksam. Insbesondere in der Geste der Verbannung sei die Macht auf die Gewalt bezogen (vgl. Roland Borgards/Maximilian Bergengruen (Hrsg.), Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Göttingen, 2009.)
[8] Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M., 2002, S. 55f.
[9] Vgl. dazu Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M., 1974. Vgl. außerdem Judith Butler, die darauf hinweist, dass die Diskursmacht auch das gesellschaftliche Geschlecht bestimmt (Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies, Frankfurt a. M., 1991).
[10] Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin, 1947.
[11] Vgl. dazu Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers. v. Nikolaus Krewani, Freiburg i. Br./München, 1983.
[12] Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht [1932], Reinbek b. Hamburg, 2003.
[13] Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München, 1972, S. 177.
[14] Clemens Meyer, „Der Fall M.“, in: ders., Gewalten. Ein Tagebuch, S. 93-112.
[15] Vgl. hier Michel Foucault, der davon spricht, dass Bücher Erfahrungen seien, die sowohl den Schreibenden als auch den Lesenden verändern. In diesem Sinne sind sie als öffentliche Gesten zu verstehen (Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt a. M., 1996, S. 24).
[16] Clemens Meyer, „In den Strömen“, in: ders., Gewalten. Ein Tagebuch, S. 112-135; S. 127.
[17] Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., 1987, S. 41.
[18] von Bernd Huppauf, „Krieg, Gewalt und Modernität“, in: Frauke Meyer-Gosau/Wolfgang Emmerich (Hrsg.), Gewalt, Faszination und Furcht, Leipzig, 1994, S. 12-40. Jan Philipp Reemtsma macht eine triadische Gewalttypologie auf und nennt unter anderem die autotelische Gewalt, die allein um ihrer selbst willen ausgeführt wird. Hier stehe der Lustgewinn bei der Gewaltausübung im Mittelpunkt (vgl. Jan Philipp Reemtsma, Warum Hagen Jung-Ortlieb erschlug. Unzeitgemäßes über Krieg und Tod, München, 2003).