Der Wille zur Orientierung

Über Werner Stegmaiers sehr gelungene Nietzsche-Einführung

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mihi ipsi scripsi – dabei bleibt es; und so soll Jeder nach seiner Art für sich sein Bestes thun – das ist meine Moral: – die einzige, die mir noch übrig geblieben ist.“ Diese ironisch-verzweifelten Zeilen schreibt Friedrich Nietzsche im Juli 1882 an Erwin Rohde, seinen Freund aus der Studentenzeit. Hans Blumenberg nimmt das lateinische Diktum auf und kommentiert es in seinem gleichnamigen Aufsatz: „Sind 50 Leser eine ‚kleine Gemeinde‘ des Autors? Sind 500 Käufer eine ‚bemerkenswerte Klientel‘, die auch fürs Künftige hoffen läßt? Sind 5000 abgesetzte Exemplare genug, um von einem ‚schönen Erfolg‘ zu sprechen? Oder sind erst 50 000 der Einstieg in ein ‚Publikum‘, das sogar dem Verleger mehr als gleichgültig zu werden beginnt? 500 000 in 25 Sprachen wären zweifelsfrei ein ‚Welterfolg‘? Ich lasse dahingestellt, wo präziser die Schwellenwerte liegen mögen – irgendwo liegen sie.“

Wie Blumenberg sah sich Nietzsche mit eher mäßigen Verkaufszahlen konfrontiert, die allenfalls einen ‚schönen Erfolg‘ erkennen ließen. Dies hat sich jedoch gravierend geändert: Die postumen Veröffentlichungen von und über Nietzsche sind auf schier unüberblickbare Quantitäten angewachsen, so dass sich der streitbare Philosoph heutzutage über seinen ‚Welterfolg‘ freuen könnte. Der bis zu seiner Emeritierung im Sommer 2011 an der Universität Greifswald lehrende Werner Stegmaier, geboren 1946 und seit 1999 Mitherausgeber der Nietzsche-Studien, wagt sich in seiner bei Junius erschienenen Einführung an diesen ‚Welterfolg‘. Er versucht, Leben und Werk Nietzsches verständlich darzustellen – und es gelingt ihm mit Bravour!

Nach über 20 Jahren und neun erlebten Auflagen ersetzt Stegmaiers Nietzsche-Einführung diejenige Wiebrecht Ries’. Anders als Ries, der Nietzsches Werk zunächst chronologisch abhandelt, bevor er dann einzelne Schwerpunkte in Nietzsches Denken setzt, geht Stegmaier im größten, gut 50 Seiten umfassenden Einleitungskapitel zunächst „Nietzsches Erfahrungen“ nach, liefert damit eine pointierte biografische Skizze mit kurzen, stichpunktartigen Sätzen wie zum Beispiel: „Meidet den Karneval. Anhaltende Geldnot, unerwünschte Schulden, wieder schwer krank (‚Rheumatismus‘)“, die Stegmaier als Fundament und wichtige Voraussetzung zur Orientierung im Nietzsche-Kosmos apostrophiert.

Im Anschluss geht Stegmaier, dessen jahrzehntelange Beschäftigung mit Nietzsche unverkennbar ist, in thematisch präzise abgesteckten Kapiteln Nietzsches Quellen nach, seinen „Formen philosophischer Schriftstellerei“, er stellt seine „Erwartungen an Leser ‚beiderlei Geschlechts‘“ vor, befasst sich mit „Nietzsches Aufgabe und leitende[n] Unterscheidungen“, stellt sowohl seine „Kritik illusionärer Orientierungen“ als auch die „Anhaltspunkte und Maßstäbe einer selbstkritischen Orientierung“ in den Fokus seiner Einführung und schließt mit drei gelungenen Kapiteln zu „Nietzsches Wege[n] der Umwertung“, seinen „Lehren und Anti-Lehren in ‚Also sprach Zarathustra‘“ sowie „Nietzsches Bejahungen“. Bei all dem lässt Stegmaier Nietzsche – so oft und umfangreich es eben geht – „selbst zu Wort kommen“.

Den sich von Jahr zu Jahr verschlechternden Gesundheitszustand nimmt Stegmaier in Verbindung mit Nietzsches autobiografischen Äußerungen als Einstieg ins Denken und Werk des „übersensiblen Kranken“ einerseits, andererseits dient er ihm als Erklärung und Ausgangspunkt des Nietzsche’schen Philosophierens an sich: „Er [Nietzsche] musste versuchen aus seiner Krankheitserfahrung zu lernen, und wurde, ohne dass er das wollen konnte, dabei weise.“ Erfahrung und Philosophie sind für Nietzsche zwei sich gegenseitig bedingende Größen: „Er war bereit, an seinem Denken zu zweifeln, wenn ihm sein Erleben widersprach, und traute ihm umgekehrt nur, wenn es ihm nicht widersprach.“ Nach diesen eher als intern zu bezeichnenden Einflüssen nennt Stegmaier im Folgenden recht ausführlich die externen, die vom Christentum über Musik und Literatur bis hin zur Medizin und Psychiatrie Nietzsches Denken und Schreiben prägten.

Stegmaiers Begriff der Orientierung ist auch hierbei von zentraler Bedeutung, hat Nietzsche doch selbst durch sein Denken außerhalb metaphysischer Haltepunkte jegliche tradierte und als fix geltende Orientierung hinterfragt und zerstört: „Er [Nietzsche] treibt das kritische Philosophieren weiter, das nach den Bedingungen der Möglichkeit des scheinbar Selbstverständlichen fragt, um Alternativen dazu sichtbar zu machen und so die Spielräume der menschlichen Orientierung zu erweitern, und das wirkt ebenso beängstigend wie befreiend.“

Dabei bedient er sich unterschiedlicher „Formen philosophischer Schriftstellerei“, die Nietzsche wie kein anderer Philosoph „gebraucht, neu geprägt oder geschaffen“ hat. Stegmaier wählt drei dieser Formen aus und beleuchtet sie in Theorie und Praxis näher: „das Aphorismen-Buch, die Lehrdichtung und das Lied“, ein exemplifizierender Vorgang, der gerade auch für Sprach- oder Literaturwissenschaftler interessant und lehrreich sein dürfte. Nietzsche gibt dem Leser „Orientierungen zur eigenen Orientierung. So nimmt er seine ‚Aufgabe‘ als Schriftsteller wahr. Und er hält diese Orientierungen selbst in Bewegung.“ Dies ist das Irritierende und Komplizierte an Nietzsches „works in progress“.

Nach einer kurzen, doch nachvollziehbaren Darstellung der Nietzsche’schen „Kritik illusionärer Orientierungen“ wie etwa Metaphysik, Wissenschaft oder Sprache, führt Stegmaier ebenso prägnant Nietzsches eigene, selbstreferenzielle Orientierungspunkte (darunter Leiblichkeit, Geistigkeit oder Fröhlichkeit) an, bevor er sich Nietzsches Methodik der ‚Umwertung der Werte’ und schließlich den so markanten ‚Anti-Lehren‘ des ‚Übermenschen‘, der ‚ewigen Wiederkehr‘ beziehungsweise ,Wiederkunft des Gleichen’ sowie des ‚Willens zur Macht‘ widmet und sie deutet: „Wille zur Macht ist das Zeichen zur Verzeitlichung der Begriffe schlechthin, das Zeichen des Unerkennbaren und logisch nur paradox Fassbaren, aus dem alles Erkennen und begriffliche Erfassen hervorgeht.“

Hier – wie ohnehin in dieser Einführung – gilt das, was schon Nietzsche von seinen Lesern gefordert hat: „Nur Leser, die ‚sich Zeit lassen‘, sich seinen Schriften zurückgezogen und geduldig widmen und sich auf ihre ‚feine vorsichtige Arbeit‘ einlassen können, sollen es mit ihnen aushalten.“ Wer kurze, bündige Antworten sucht, wer nach kompakten Definitionen verlangt, wer denkt, er müsse Nietzsches Schriften nach der Stegmaier-Lektüre nicht mehr lesen, der irrt. Stegmaier kann nur als ein Wegweiser dienen, mögliche Richtungen skizzieren und das weite Feld von Nietzsches Begriffen und ‚Gegen-Begriffen‘, seinen Verneinungen und Bejahungen abstecken.

Ohnehin muss der Leser – gerade in den abschließenden Kapiteln – ein gewisses Vorwissen, einen gewissen Kontakt mit Nietzsche mitbringen, um nicht die Orientierung zu verlieren; das Gedankengebäude ist einfach zu hoch, zu verwinkelt, als dass es sich dem Eintretenden widerstandslos entfalten würde. Dies sollte man bedenken, wenn man zur Nietzsche-Einführung greift. „Wer sich sicher glaubt, Nietzsche zu verstehen“, warnt Stegmaier, „läuft am meisten Gefahr, ihn misszuverstehen. Er rechnet dann nicht mehr mit Überraschungen“. Überraschungen hält Nietzsche auch nach Lektüre dieser Einführung bereit, doch sie sind vielleicht ein wenig kalkulierbarer geworden.

Wem die noch immer maßgebliche dreibändige Nietzsche-Biografie Curt Paul Janz’ (1978/79) zu umfangreich, wem Werner Ross’ lesenswerte Abhandlung (1980) zu biografie- und wem Rüdiger Safranskis instruktive Studie (2000) zu werkbezogen ist, dem sei – nicht nur als erste Orientierung – Werner Stegmaiers fundierte, klar geschriebene und methodische Einführung wärmstens empfohlen.

Titelbild

Werner Stegmaier: Friedrich Nietzsche zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2011.
212 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783885066958

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