Urdeutsche Fantasien
Zu dieser Ausgabe: Wie konnte es sein, dass Adolf Hitler so gerne Karl May las?
Von Jan Süselbeck
Am 22. März 1912 hielt Karl May, dessen 100. Todestag am 30. März begangen wird, den letzten Vortrag seines Lebens, und zwar in Wien: „Empor ins Reich der Edelmenschen!“ Nur wenige Tage später starb May in Radebeul bei Dresden. Der Legende nach soll der arbeitslose Kunstmaler Adolf Hitler bei dem denkwürdigen letzten Auftritt des skandalumwitterten Kult-Autors dabeigewesen sein und andächtig zugehört haben. Sicher ist, dass Hitler zeitlebens ein großer Karl-May-Fan war und es auch bis zuletzt blieb. Warum? Was für ein ‚Jubiläum‘ soll das überhaupt sein, das hier und heute im deutschsprachigen Feuilleton begangen wird? Ist May aus heutiger Sicht nicht doch ein problematischer Autor?
Die April-Ausgabe von literaturkritik.de versucht der Sache auf den Grund zu gehen und bietet eine Reihe von Essays zu Leben und Werk Mays sowie zum literarischen Umfeld des großen ‚Volksschriftstellers‘: Kaum ein Autor seiner Zeit wurde so massenhaft gelesen, kaum ein vergleichbarer ,Vielschreiber’ produzierte und verkaufte so viele Bücher wie Karl May.
Unsere Beiträger gehen unter anderem der Frage nach, wie May über andere Kulturen dachte und wie sich dies in seinen Romanen äußerte. Auf den ersten Blick hört sich das, was der Schriftsteller in seinem Werk verkündete, für die Zeit geradezu vorbildlich an. So beteuert der Autor in seiner autobiografischen Verteidigungsschrift „Meine Beichte“ (1908), in der er auf die vielen Angriffe zu reagieren versuchte, die seinerzeit auf seine erlogene Reise-Biografie und seine kriminelle Vergangenheit zielten: „Mein Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische und teils in orientalische Gewänder zu kleiden, führte mich selbstverständlich zu tiefem Mitgefühl für die Schicksale der betreffenden Völkerschaften. Der als unaufhaltsam bezeichnete Untergang der roten Rasse begann mich ununterbrochen zu beschäftigen. Und über die Undankbarkeit des Abendlands gegenüber dem Morgenland, dem es doch seine Kultur verdankt, machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl der Menschheit erheischt, daß zwischen beiden Friede sei, nicht länger Ausbeutung und Blutvergießen. Ich nahm mir vor, dies in meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orients zu erwecken, die wir ihnen als Mitmenschen schuldig sind. Man versichert mir heute, ich hätte das nicht etwa bei nur wenigen, sondern bei Hunderttausenden erreicht, und ich bin geneigt, es zu glauben.“
War May also in Wahrheit ein antikolonialer Schriftsteller? Ein zweiter, reflektierterer Blick auf das Zitat aus Mays „Beichte“ erhellt, dass der Autor die Menschheit trotz seiner emphatischen Friedenswünsche zeittypisch in „Rassen“ einteilt. Nicht zuletzt zeichnet er ein nicht anders als essentialistisch zu nennendes Bild des „Morgenlandes“ und vor allem auch der „Indianer“, das tatsächlich ‚typisch deutsch‘ war und es teils auch bis heute noch ist. Der in Mays Wiener Vortrag noch einmal mit großem Pathos beschworene Wunsch, eine ‚Veredelung der menschlichen Rasse‘ zu erreichen und dabei auf Ideale zu setzen, die er an einer Stelle der Rede explizit „tausendjährig“ nennt, scheint Hitler tatsächlich nachhaltig beeindruckt zu haben. Allerdings forderte May dazu nicht jene Mittel und Wege ein, wie sie Hitler nach dem Ersten Weltkrieg radikal vertrat – nämlich den Krieg, mit dem hauptsächlichen Ziel der Vernichtung der als ‚Gegenrasse‘ bekämpften Juden in aller Welt. In der späteren NS-Außenpolitik ging die strikte Verfolgung dieses Ziels dennoch durchaus mit Mays zitierten ‚Rassen‘-Präferenzen konform: Man infiltrierte insbesondere die arabische Welt massiv mit antisemitischer Vernichtungspropaganda und verbündete sich mit einflussreichen Judenhassern wie dem Mufti von Jerusalem – eine Politik, deren spezifische ‚Liebe‘ für das ‚Morgenland‘ fatale Folgen zeitigte, mit denen der Staat Israel bis heute zu kämpfen hat.
Mindestens genauso typisch für die völkische Ideologie in Deutschland aber ist die Identifikation mit den ‚Indianern‘, die sozusagen als ‚Palästinenser des Westens‘ imaginiert werden: Auf sie konnte man den eigenen Antiamerikanismus, die antizivilisatorische Vorstellung einer a priori antidemokratischen Kultur, einer urtümlichen ‚Rassereinheit‘ und die Ablehnung des kolonisatorischen Kapitalismus als System des ‚raffenden‘, also jüdischen Kapitals ganz wunderbar projizieren. Tatsächlich sensationell wäre es also gewesen, wenn Karl May zu seiner Zeit für die Liebe zum Zionismus und das weltweit geächtete Judentum geworben hätte und nicht für das Fantasma einer vom Untergang bedrohten ‚Rasse‘, mit der die Deutschen sich in Wahrheit vor allem seit jeher selbst meinten: Die bösen, hinterhältigen „Heuschrecken“ des zerstörerischen Welthandelssystems stellten in dieser Weltanschauung schon immer das Herz der modernen USA dar, während niemand die durch diesen ‚unnatürlichen‘ Staat vernichteten Ureinwohner des Kontinents, die, edlen Indianer‘, besser verstand als die Deutschen: Träumten sie sich doch aus der mehr empfundenen denn tatsächlichen Enge ihres mitteleuropäischen Staats als „Volk ohne Raum“ (Hans Grimm) so gerne in die unendlichen, entgrenzten Weiten des Westens hinein.
Die Beispiele hierfür sind bei faschistischen Schriftstellern und Karl-May-Lesern wie Ernst Jünger Legion, und selbst Arnolt Bronnen, der einen jüdischen Vater hatte, den er allerdings verleugnete, um in den späten 1930er-Jahren faschistische Freikorps-Romane zu verfassen und sich bei Joseph Goebbels anzubiedern, betonte noch in seiner Autobiografie, die er 1954 publizierte: „Für uns wird Amerika niemals das Land der Wolkenkratzer und der Prosperität sein. Wir sehen immer noch in den Wiesen und Büschen die Zelte der Sioux, und in den Wäldern erblicken wir den Rauch aus den Block-Hütten, von denen aus das Bleichgesicht in die roten Jagd-Gründe vorstieß. Die Amerikaner begreifen ihr eigenes Land nicht. Zu uns aber spricht unauslöschbar der Geist einer alten und stolzen und kriegerischen Rasse, die nur vorübergehend sich versteckte“.
Das aber war auch die Vorstellung Karl Mays: Die ‚Bösen‘ sind in diesem Weltbild stets die Yankees, während die ‚Indianer‘ als die ‚Guten’ und die geheimen Blutsbrüder der Deutschen erscheinen. Die spezifische Geschichte des deutschen Faschismus, der als Nationalsozialismus mit dem italienischen Mussolini-Totalitarismus nicht zu verwechseln ist, kann in seiner Unbedingtheit, in seiner unbändigen Emotionalisierungskraft im Grunde nur begriffen werden, indem man ihn als Vorstellung eines antiimperialistischen Widerstands gegen ein böses Imperium, gegen eine ruchlose, verschwörerische Übermacht versteht, die das eigene, an sich so friedliebende ‚Volk‘ vernichten will: Die Deutschen sahen sich gewissermaßen als eine dem imperialistischen Westen ethisch weit überlegene ,NGO’ mit einer verbrieften Street Credibility in der Verteidigung bedrohter Völker, zu denen vor allem sie selbst gehörten, als geächtetes Kollektiv mit urtümlicher ,Kultur’.
Auch dies gehört zum Verständnis der deutschen May-Rezeption unbedingt dazu. Seine Darstellungen des Winnetou-Heldenbilds machten auf vielfältige Weise Schule, auch im Werk anderer, ihm nachfolgender Autoren: Bernward Vesper, der Sohn des nationalsozialistischen Autors Will Vesper, berichtet etwa in seinem berühmten autobiografischen Roman „Die Reise“ (1977), wie er von seinem Vater an die Lektüre der von 1929 bis 1952 verfassten „Tecumseh“-Romane Fritz Steubens alias Erhard Witteks herangeführt wurde. Vesper erinnert sich in seinem Buch, wie sehr ihn diese Indianerjungen-Romane begeisterte, die abermals Partei für eine unterlegene, vom imperialistischen Landraub betroffene Urkultur ergreifen: „Dann las ich Tecumseh, der Berglöwe. Das Buch hatte ein Nazi geschrieben. Mein Vater schenkte es mir. Tecumseh war der Indianerheld, der für die Freiheit seines Volkes kämpfte.“ Eine Jugendlektüre mit einer geradezu elektrisierenden und disziplinierenden Wirkung: „Ich sprang vom Bett auf, im Liegen lesen schadet den Augen, ich mußte wissen, wer Tecumseh war, ich mußte zu ihm, es gingen jetzt so viele nach Amerika, das Buch war kaum ein Jahr alt, Tecumseh, der 13 war, mußte jetzt 14 oder 15 sein. Ich überlegte fieberhaft meine Flucht.“
Die Identifikation mit diesem Ideal tapferer, ‚unschuldiger‘ Widerstandskämpfer eines bedrohten ‚Naturvolks‘, wie wir sie heute unter anderem in einem 3-D-Blockbuster wie James Camerons „Avatar“ (2009) abermals nachempfinden sollen, ist auch bei Vespers Vater offensichtlich und verknüpft sich mit seiner im Roman immer wieder zitierten Schutzbehauptung, das deutsche Volk sei immer friedliebend gewesen, allerdings von Feinden umstellt worden: „Hitler ist der Krieg aufgezwungen worden!“
Aufgrund solcher Zusammenhänge ist die deutsche Karl-May-Verehrung um 1900 übrigens nicht zuletzt ein wichtiger Kontext für die Interpretation von Christian Krachts neuem Roman „Imperium“ – auch sein historischer Protagonist August Engelhardt ist tatsächlich ein alternativ denkender Prä-Hippie, dessen lebensreformerische Ideen und Vorstellungen einer mittels eigenwilliger Allianzen mit ‚besseren‘ Völkern zu ‚veredelnden‘ Menschenrasse von Krachts Erzähler durchaus zutreffend mit denen Hitlers parallelisiert werden.
Nun konnte Karl May allerdings wenig dafür, dass ein abgehalfterter Dilettant und Wirrkopf, der sich als besserer Anstreicher in Wien herumtrieb, ihn so sehr verehrte und aus Versatzstücken seiner Ideen einige Jahre später eine Ideologie entwickelte, die ganz und gar nicht mehr dem Gebot des Friedens, sondern allein dem der Vernichtung folgte. Die aktuelle Ausgabe von literaturkritik.de versteht sich deshalb als Forum der Diskussion über einen überaus einflussreichen Schriftsteller und seine Rezeption, deren kulturwissenschaftliche Einordnung noch lange nicht abgeschlossen, vielleicht sogar noch nicht einmal richtig in Angriff genommen worden ist.
Herzliche Grüße,
Ihr
Jan Süselbeck