Abgründe an Niedertracht und Gleichgültigkeit

Eine vorbildlich edierte Werkausgabe präsentiert Warlam Schalamow als einen der großen russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Arbeit ist eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums“ – so stand es in großen Buchstaben am Torgiebel über dem Lagereingang angeschrieben. In seinen Erzählungen aus Kolyma berichtet Warlam Schalamow (1907-1982) von den ungeheuerlichen Grausamkeiten, die er im Laufe vieler Jahre in den sowjetischen Straflagern erlebt hatte. Die pathetischen Substantive über dem Lagertor waren in der rauhen sibirischen Wirklichkeit in ihr Gegenteil pervertiert worden.

In 51 kürzeren und auch längeren Geschichten liefert Schalamow ein atemberaubendes Kaleidoskop über eine Welt des Schreckens, die weitab der menschlichen Zivilisation Menschenleben drangsalierte.

Warlam Schalamow war 1929 als junger Jura-Student, der eigentlich Dichter werden wollte, zum ersten Mal wegen „konterrevolutionärer Agitation“ angeklagt und zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Im Jahr der großen Säuberungen, 1937, war er abermals verhaftet und zu fünf Jahren Lager verurteilt worden. Aufgrund einer Denunziation wurde das Strafmaß um weitere zehn Jahre verschärft, die Schalamow im Nordosten Sibiriens in der Kolyma abzubüßen hatte. Insgesamt hatte Schalamow siebzehn Jahre im Lager verbracht.

Wenn heute in Russland junge Menschen mit patriotischem Stolz davon sprechen, dass unter der Herrschaft von Josef Stalin die Sowjetunion ein starkes und international respektiertes Land gewesen sei, werden achtlos Schicksale wie jenes von Warlam Schalamow ein weiteres Mal der Verachtung und dem Vergessen preisgegeben.

Dabei hat es sich, Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“, erwiesen, dass Schalamow zu den großen russischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehört. Seine Erzählungen dokumentieren die gelungene künstlerische Aufarbeitung einer furchtbaren Zeit. Anhand authentischer Figuren, nachgerade alltäglicher Menschen mit ihren Fehlern und Stärken, berichtet Schalamow über Verhaftungen, Verhör- und Foltermethoden, die Zwangsarbeit, das Überleben und das Sterben in Stalins Straflagern. Mit faktischem Wissen über Hintergründe im politischen Apparat der Herrscher im Kreml schildert er unvorstellbares Leiden, mit welchem das Land überzogen wurde. Hier wurde „das große Experiment der Zerstörung menschlicher Seelen durchgeführt“. Zum Hunger sowie der ständigen Kälte kamen die Schikanen des Wachpersonals, aber auch der kriminellen Mithäftlinge. Es eröffnet sich ein Abgrund an „Bosheit und menschlicher Gleichgültigkeit“.

Es ist gerade der lakonische Stil in Schalamows Erzählungen, der unsägliches Leid, wie auch das Ausmaß menschlicher Niedertracht und Verrohung besonders eindrucksvoll zur Darstellung bringt. Pointiert setzt Schalamow nüchterne Dialoge ein und vermag es, überraschend bildhafte Beschreibungen zu liefern. Frei von theatralischem Pathos wirken Schalamows Erzählungen erst im Nachhinein.

Nach seiner Entlassung im Jahr 1956 lebte er gesundheitlich schwer angeschlagen in Moskau. Er pflegte Kontakte und Freundschaften zu unabhängigen Persönlichkeiten wie Nadeschda Mandelstam, der Witwe des ermordeten Schriftstellers Ossip Mandelstam. An dissidentischen Aktivitäten hat er sich nicht betätigt – ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Die Begegnung mit Alexander Solschenizyn war nicht ohne Reibungen verlaufen. Sie hatte zu einer Zeit stattgefunden, als der „Archipel Gulag“, der in der ganzen Welt für große Aufmerksamkeit gesorgt hatte, noch nicht veröffentlicht war. Beide Charaktere waren allerdings in je eigener Weise schwierig und nicht zuletzt durch ihre Erfahrungen verhärtet. Da sie es beide darauf abgesehen hatten, den Verstummten ihre Sprache wiederzugeben und über jene zu berichten, „die nicht genug Leben hatten“ (Solschenizyn), verbieten sich jedoch alle Versuche, sie gegeneinander auszuspielen.

Mit „Die Auferweckung der Lärche“ ist der vierte und letzte Band des Zyklus „Erzählungen aus Kolyma“ abgeschlossen. Auch hier überzeugt eine hervorragende Übersetzungsleistung von Gabriele Leupold sowie die sorgfältige Aufbereitung durch kundige Anmerkungen nebst einem Glossar. In ihrem ausführlichen Nachwort „Die Kraft des Authentischen“ gelingt es Franziska Thum-Hohenstein, das literarische Schaffen von Warlam Schalamow vor dem Hintergrund seines schicksalhaften Lebenswegs zu vermitteln. Viel Zeit war Schalamow nicht mehr geblieben – aber er hat sie intensiv zu nutzen verstanden. Umso eindrucksvoller wirken die Bilder und Erinnerungen nach, die Schalamow durch seine Erzählungen dem Vergessen entrissen hat.

Titelbild

Warlam Schalamow: Die Auferweckung der Lärche. Erzählungen aus Kolyma 4.
Übersetzt aus dem Russischen von Gabriele Leupold.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
665 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215021

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