Nicht ex cathedra

Jean-Michel Quinodoz bietet eine „Gesamtschau des Freudschen Werkes“

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Genfer Psychoanalytiker Jean-Michel Quinodoz ist dem psychoanalytischen Leser mit Büchern wie „La Solitude Apprivoiseé: L’angoisse de séparation en psychanalyse“ (1991), „Les rêves qui tournent une page. Rêves d’intégration à contenu paradoxal régressif“ (2001) und „Listening to Hanna Segal. Her Contribution to Psychoanalysis“ (2007) sowie mehreren Aufsätzen bekannt. Für seinen herausragenden Beitrag zur Psychoanalyse erhielt der jahrelange Redakteur für Europa der „International Journal of Psychoanalysis“ den Mary Sigourney Award 2010. Nachdem das im Jahre 2004 ursprünglich auf Französisch erschienene Buch von Quinodoz „Lire Freud. Découverte chronologique de l’œuvre de Freud“ in mehrere Sprachen übersetzt wurde, ist es nun vom Gießener Psychosozial-Verlag in seiner bisher sehr erfolgreichen Reihe „Bibliothek der Psychoanalyse“ auch auf Deutsch in der Übersetzung Petra Willims veröffentlicht worden.

„Freud lesen“ ist ein umfangreiches und sehr sorgfältig strukturiertes Buch, das Sigmund Freuds Werk in drei Etappen einteilt: I. Die Entdeckung der Psychoanalyse (1895-1910) II. Die Jahre der Reife (1911-1920) und III. Neue Perspektiven (1920-1939). Da Freuds Werk laut Jean-Michel Quinodoz „sich unentwegt weiterentwickelt“ hat, hat sich der Autor für die diachrone Erläuterung der fundamentalen Texte, Begriffe und Konzepte Freuds entschieden. Die „Erkundung der Texte“ erfolgt in einzelnen, gut nachvollziehbaren Schritten, wobei dem Leser durch Überschriften jederzeit Orientierung geboten wird. Die Fokussierung auf die Texte führt zu keiner Marginalisierung der biografischen Informationen und der geschichtlichen Kontexte. Neben wichtigen biografischen Stationen auf Freuds Lebensweg lassen sich in Quinodozs Buch auch die Porträts einer Reihe weiterer „Pioniere“ der psychoanalytischen Forschung entdecken.

Der zweite Schwerpunkt des Buches neben der Besprechung der Freud’schen Texte ist die am Ende jeden Kapitels zu findende Rubrik „Postfreudianer“, in welcher der Autor kontroverse Probleme – oft unter einer als Fragesatz formulierten Überschrift („Sind in der Gradiva Neurose und Psychose ineinander verwoben?“) – aufgreift und die Stimmen der bedeutendsten Kritiker und/oder Fortentwickler der Freud’schen Ideen vernehmen lässt. Auf diese Weise entsteht ein Bild der Psychoanalyse als eine offene, aus einer „Vielzahl unterschiedlicher Standpunkte“ zusammengesetzte Wissenschaft.

Bemängeln könnte man die Ausrichtung des Buches fast ausschließlich an den postfreudianischen Entwicklungen und die weitgehende Vernachlässigung der vorfreudianischen Einflüsse, Texte und Kontexte. Ablesen lässt sich dies etwa daran, dass ein ,Vorläufer‘ der Psychoanalyse wie Arthur Schopenhauer, auf den sich Freud auch explizit bezieht, bei Quinodoz gar nicht vorkommt und Nietzsche nur einmal in einer nicht völlig korrekten Behauptung genannt wird. („Der Ausdruck ,Es‘ war zunächst von Nietzsche verwendet worden, ehe ihn Groddeck in seinem Buch vom Es aufgriff“.) Die Ignorierung der vorfreudianischen Tiefenpsychologie verstärkt den auch sonst von mehreren Bemerkungen vermittelten Eindruck einer Überbetonung der Genialität, der Exklusivität und der „revolutionäre[n] Neuerung[en]“ Freuds (vergleiche etwa „geniale[r] Entschluss“, „eine meisterhafte klinische Beschreibung“ oder „mit unerhört feinem Beobachtungssinn“).

Freud ist für Quinodoz ein Entdecker und Künstler zugleich: „Freud schreibt wie ein Entdecker, der ein bislang unbekanntes Gebiet erforscht, im Vorübergehen seine Eindrücke notiert, in seinem Notizheft eine Skizze davon entwirft und manchmal etwas länger Station macht, um seine Staffelei aufzustellen und die Landschaft in einem Meisterwerk festzuhalten.“ Das Werk des Begründers der Psychoanalyse wird von Quinodoz als ein „offenes Kunstwerk“ im Sinne Umberto Ecos betrachtet, weshalb der Genfer Autor „mehrere Arten der Freud-Lektüre“ konturiert und die reichhaltige Ernte der postfreudianischen Psychoanalyse präsentiert.

Die von Quinodoz dargebotene Vorstellung des Freud’schen Werks in Form einer „chronologische[n] Reise“ soll Freuds eigene Entdeckungsreise wiederholen, es dem Leser ermöglichen, Freud „für sich selbst [zu] entdecken“ und ihn ermutigen, auch nach der Lektüre dieses Buches Freuds Schriften zu erschließen: „Zu guter Letzt möchte ich dem Leser eine gute Reise wünschen und ihn daran erinnern, dass die Lektüre eines Reiseführers niemals die Exkursion selbst ersetzt!“

Auf dieser Reise versteht sich Quinodoz lediglich als Begleiter – eine Rolle, die meist wohltuend ist und dennoch nicht immer befriedigt. Angesichts so vieler strittiger Fragen und manch brisanter Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theorie und Therapie ist die Distanzierung des Autors, die zwar verhindern soll, dass bei der Freud-Lektüre „[nur] ein einziger Sinn sich aufdrängt“ (Mallarmé), der Klärung der aufgezeigten Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen wenig förderlich.

So wird man bei der heiklen Frage „Wie wären Jung und sein Werk heutzutage einzuordnen?“ nur auf die Meinung Eugene Taylors (2002) und auf ihre Gegenüberstellung der diesbezüglichen Positionen der „Historiker des 20. Jahrhunderts“ und der „neuere[n] historischen Forschungen“ verwiesen. Stellenweise bleibt der Autor seinem Leser auch Erklärungen schuldig wie in folgender Bemerkung bezüglich der Frage „Sind alle Psychoanalytiker Atheisten?“: „Mit Blick auf ihre eigene religiöse Überzeugung sowie auf die ihrer Patienten ist es für Psychoanalytiker, die doch so viel von Freud gelernt haben, heute noch immer schwierig, eine von Freud unabhängige Meinung zu vertreten.“ Auf die Gründe dieses schwer wiegenden Befunds geht der Autor jedoch nicht weiter ein. Vage ist Quinodoz auch bei der nicht unerheblichen Mitteilung, Breuer und Freud hätten in den „Studien über Hysterie“ „in ihrem Enthusiasmus den Bericht über ihre klinischen Fälle ein wenig geschönt“.

Das Buch besticht zweifellos mit dem sehr breiten Spektrum der diskutierten Texte und Themen, worunter auch sämtliche Beiträge Freuds zur Literatur- und Kulturwissenschaft zu finden sind. Was die Auswahl der besprochenen Texte anbetrifft, bleibt die Frage ungeklärt, welche Texte Freuds von Quinodoz zu den „Haupttexte[n]“ gezählt werden, bemerkt er doch, dass der „Entwurf einer Psychologie“ (1895) beispielsweise nicht dazu gehöre, und nach welchen Kriterien diese Auswahl erfolgt. Relativ wenig Beachtung findet im Buch die turbulente Geschichte der psychoanalytischen Bewegung und besonders die Geschichte der psychoanalytischen Institutionen, weshalb ein so hoch explosiver Text Freuds wie „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ (1914) keine spezielle Berücksichtigung findet. Die Brüche mit Carl Gustav Jung und Alfred Adler und die Abfallsbewegungen werden zwar angesprochen, doch die Einbeziehung dieses Textes hätte zusätzlich zur Beleuchtung der institutionellen Geschichte und der „Geschichte der Widerstände“ (Freud) gegen die Psychoanalyse Freud auch als Historiografen profiliert. Einige längere Auszüge aus Freuds Texten, die über die von Quinodoz eingefügten kurzen Zitate hinausgehen, hätten die „Lust am Lesen“ und an der Erkundung des Freud’schen Universums erhöht.

Aus dem „verrückten Unternehmen“ von Jean-Michel Quinodoz, Freuds mehrbändiges Opus in einem einzigen Buch darzustellen, ist trotz seines Verzichts auf eine Darstellung ex cathedra etwas sehr Solides geworden – ein ausführliches, meist tiefgründiges, sehr kenntnisreiches, kompetent geschriebenes und zudem sehr übersichtliches Nachschlagewerk, das einen Zugang zu Freuds Werk durch viele Tore eröffnet. Ob damit Quinodoz selbst ein „offenes Kunstwerk“ gelungen ist, lässt sich allerdings bezweifeln: Der Rücktritt vom Katheder an sich kann die „selbständige Mitwirkung des Rezipienten“ noch nicht auslösen und noch keine „Akte bewußter Freiheit“ (Eco) im Leser hervorrufen.

Titelbild

Jean-Michel Quinodoz: Freud lesen. Eine chronologische Entdeckungsreise durch sein Werk.
Übersetzt aus dem Französischen von Petra Willim.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2011.
475 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783898067829

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