Von Rahel Varnhagen bis Claude Lévi-Strauss

Sibylle Schönborn, Karl Ivan Solibakke und Bernd Witte geben einen Sammelband über „Traditionen jüdischen Denkens in Europa“ heraus

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Anlehnung an Georg Wilhelm Friedrich Hegel bezeichnete Heinrich Heine die Juden als ein „Volk des Geistes“. Sigmund Freud bestimmte den „Fortschritt in der Geistigkeit“ ebenfalls als etwas das Judentum Auszeichnendes: „Der Vorrang, der durch etwa 2000 Jahre im Leben des jüdischen Volkes geistigen Bestrebungen eingeräumt war, hat natürlich seine Wirkung getan; er half, die Rohheit und die Neigung zur Gewalttat einzudämmen, die sich einzustellen pflegen, wo die Entwicklung der Muskelkraft Volksideal ist. Die Harmonie in der Ausbildung geistiger und körperlicher Tätigkeit, wie das griechische Volk es erreichte, blieb den Juden versagt. Im Zwiespalt trafen sie wenigstens die Entscheidungen für das Höherwertige.“

Der Düsseldorfer Literaturwissenschaftler Bernd Witte ist einer der drei Herausgeber und Mitautor des hier zu besprechenden Sammelbandes, der sich einer Tagung anlässlich seiner Emeritierung im Jahr 2010 verdankt. Witte hebt wie Heine und Freud die Intellektualität des Judentums, besonders aber auch dessen Moralität hervor. Während nämlich die klassische griechische – und in ihrer Wiederaufnahme die klassizistische deutsche – Dichtung einen brutalen bellizistischen Egoismus propagiert habe, sei die jüdische Geschichte durchwegs von einem hohen Ethos geleitet: „Homers Geschichten handeln von Krieg, Mord und Tod. […] Die Gesellschaft als mörderischer Kampfplatz, darin erfüllt sich das auf einer Überhöhung des Individuums gegründete Gesellschaftsbild der klassischen Dichtung. Die jüdische Tradition hingegen ist grundsätzlich auf die Begründung einer gerechten Gesellschaftsordnung und damit auf die Überwindung der Schranke des individuellen Todes und auf das ‚richtige Leben‘ ausgerichtet.“

Intention dieser Zuspitzung ist es, dem „Antijudaismus der deutschen Klassik“ kräftig zu widersprechen und die „Traditionen jüdischen Denkens in Europa“ zu rehabilitieren. Wittes hier vorgetragene und explizierte These besagt, dass die Idealisierung der Antike, wie sie von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried Herder und anderen zwischen 1770 und 1800 vorangetrieben wurde, einen „kulturellen Paradigmenwechsel“ insofern in Gang setzte, als von nun an „nicht mehr die jüdische oder die christliche Heilsgeschichte, sondern die antike Heldengeschichte der Text sein [wird], durch dessen Auslegung sich das kulturelle Gedächtnis und damit die Identität des Einzelnen wie der ihm zugehörigen sozialen Gruppe konstituiert.“

Trotzdem: Autoren wie der aufgeklärte jüdische Philosoph Moses Mendelssohn oder der Dichter und Publizist Heinrich Heine sind Figuren, welche der Geistes- und Literaturgeschichte Deutschlands und Europas ihr Gepräge gaben; und was wäre die literarische Moderne ohne Franz Kafka? Bis ins 20. Jahrhundert hinein bedeutete Europa für die Juden eine antinationalistische Utopie. Doch „[s]eit die Nationalsozialisten ihr Projekt eines germanisierten Europa im Zweiten Weltkrieg in die Tat umzusetzen versuchten, gibt es kein Europa der Juden mehr“.

Wie Sibylle Schönborn in ihrer Einleitung erklärt, ging es bei der Tagung – vierzehn Beiträge sind im Buch aufgenommen – um „die vielfältigen Spuren der von Hannah Arendt so zutreffend beschriebenen ‚verborgenen Tradition‘ eines religiösen, kulturellen, politischen, nationalen Judentums, das sich innerhalb der Mehrheitsdiskurse, bewusst oder häufiger noch unbewusst, maskiert als Subtext, Differenz, ironische Brechung oder durch Effekte der Verfremdung, des Paradoxen, Ambivalenten und Polyvalenten wie des Komischen zeigt“.

Am Beispiel Rahel Varnhagens, die in Berlin einen von den Berühmten der Epoche frequentierten Salon unterhielt und eine passionierte Briefschreiberin war, exemplifiziert Vivian Liska die Aporien einer jeden Thematisierung des Ausgeschlossenen: Die seit geraumer Zeit nicht nur von der Literaturwissenschaft unternommene „Aufwertung der Ränder gegenüber dem Zentrum“ gerät leicht in die Falle, entweder das Marginalisierte quasi gegen dessen eigenen Willen zu integrieren und somit den Mehrheitsdiskurs aufzuwerten, oder aber sich ausschließlich auf die peripheren Singularitäten zu konzentrieren und somit das Problemverhältnis zwischen Rand und Mitte aus dem Blick zu verlieren. Anschaulich legt Liska dar, wie unterschiedlich jeweilige Gestimmtheiten des Forschungsgeistes das Bild Varnhagens „[a]ls Jüdin in Deutschland und als Frau in einem patriarchalischen Umfeld“ zeichnen oder auch verzeichnen. Hatte Hannah Arendt ihre Aufmerksamkeit ganz auf das Jüdischsein gelenkt, so erscheint Rahel Varnhagen aus emanzipatorischer Perspektive als eine „beispielhafte ‚große Frau’“. Umgekehrt galt sie der poststrukturalistisch-dekonstruktivistischen Theoriebildung als ein Prototyp des Dezentriertseins und der Identitätsverweigerung.

Auch die Vita Dorothea Schlegels, einer Tochter Moses Mendelssohns, der „Lucinde“ Friedrich Schlegels, unterlag einer wechselhaften Rezeptionsgeschichte, wobei wieder Hannah Arendts vieldiskutierte Kategorisierung jüdischer Existenz zwischen „Paria“ (traditionalistisch und ausgeschlossen) und „Parvenu“ (opportunistisch und integriert) ein – von Rita Calabrese kritisch betrachtetes – Deutungsmuster abgibt. Hingegen sympathisiert Calabrese mit einer einfühlsam verstehenden Annäherung, wie sie Margarete Susman 1929 in dem Buch „Frauen der Romantik“ vorexerzierte.

Insgesamt wartet der Band nicht mit spektakulären Enthüllungen und kühnen Thesen auf, sondern bietet eine solide Reihe geduldiger und ruhiger, kaum einmal langatmiger Einzeluntersuchungen, deren Schwergewicht im 20. Jahrhundert liegt. Stephan Braese analysiert George Steiners „in jüdischer Tradition und Geschichte begründete Europäizität“. Er sieht den hochgelehrten multilingualen Homme des lettres als jemanden, dem „transnationale Mobilität“ „Heimat“ wurde; der an den Wunden leidet, die der Nationalsozialismus der deutschen Sprache geschlagen hat, und der seinen „Himmel“ darin gefunden hat, Humanität und Urbanität in den Cafés europäischer Metropolen zu pflegen: „Die Galleria in Mailand. Ich sitze mit einem echten Cappuccino da, vor mir ‚La Stampa‘, die ‚Frankfurter Allgemeine‘, ‚Le Monde‘ und ‚The Times‘. Ich habe eine Eintrittskarte für La Scala in der Tasche, und die zehn oder zwölf komplexen Düfte in dieser Galleria dringen auf mich ein – nach der Schokolade, der Bäckerei, den zwanzig Buchhandlungen (die zu den besten der Welt gehören); das Geräusch der Schritte von Menschen, die an diesem Abend der Oper oder den Theatern zustreben; die Art, wie Mailand um einen herum vibriert.“

Vittoria Borsò begibt sich auf die Spuren jüdischer Intellektualität in der Literatur der multiethnischen Grenzstadt Triest: „Das Kreative ist, ‚entortet zu sein‘, zu wissen, dass das Land nicht uns gehört; daraus gewinnt man das Konzept der Gleichheit aller Menschen, wobei Gleichheit bedeutet, dass alle Minderheiten sind. Nicht den Ort zu besitzen, sonden im Raum unterwegs zu sein, verbindet die hier genannten Intellektuellen.“

Nach einem Beitrag über das Verhältnis des immer noch nicht sehr bekannten Autors Franz Baermann Steiner zum Judentum von Daniel Hoffmann schreibt Irene Heidelberger-Leonard einen überaus bewegenden Text über zwei „Heilige des Holocaust“: Imre Kertész und Jean Améry. Die beiden Auschwitz-Überlebenden stehen als Zeugen für die schier unmitteilbare Erfahrung ein, dass es sich beim Wort „Überleben“ um einen tragischen Euphemismus handelt. Amérys Freitod interpretiert Kertész in desperater Zustimmung als „des Autors letztes Kunstwerk“, und sein eigenes schriftstellerisches Dasein nennt er einen „aufgeschobenen Selbstmord“. In dem Roman „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ schrieb Kertész: „[D]ie wahre Natur meiner Arbeit [ist] im Grunde genommen nichts anderes […] als ein Schaufeln, das Weiter- und Zuendeschaufeln jenes Grabes, das andere mir in den Wolken, in den Winden, im Nichts zu schaufeln begonnen haben“.

Die Frage, wie sich als Dichter nach Auschwitz noch sprechen lässt, war 1960 Gegenstand der Büchner-Preis-Rede („Der Meridian“) Paul Celans. Sonja Klein unterzieht diese berühmt gewordene Ansprache einer Betrachtung, bevor Karl Ivan Solibakke den Roman „Das große Spektakel“ (1990) von Inge Merkel mit der Brille Jacques Derridas liest und zu dem antiphallogozentristischen Urteil gelangt: „Das Weibliche und sein Schreiben bilden […] den extrinsischen Ort, das Archiv jenseits des Archivs, das eine Einheitlichkeit der Dinge herstellt, jedoch nicht so, dass die in Frage kommenden Artefakte einem Logos angepasst werden. Vielmehr im Gegensatz zur männlichen Denkweise werden sie nicht in bestimmter Weise ‚aufbereitet’, sondern schlicht gesammelt, das heißt nebeneinandergestellt.“

In zwei Texten wird Franz Kafka verhandelt; einmal von Sibylle Schönborn und einmal von Vera Viehöver. Schönborn parallelisiert den Roman „Der Verschollene“ mit den Mythen um die „Migranten“ Odysseus und Ahasver und lässt den Protagonisten Karl Roßmann an einem „Nicht-Ort, einem Zwischenreich“ stranden. Fünf möglicherweise erhellende und sachdienliche Illustrationen hat die Autorin ihrem Aufsatz beigegeben. Sie sind allerdings reproduktionstechnisch dermaßen dekonstruiert, dass man kaum etwas erkennen kann. Zieht man den stattlichen Ladenpreis, die absolut ärmliche äußere Ausstattung des taschenbuchartigen Produkts und die Tatsache ins Kalkül, dass der Erich Schmidt Verlag auch noch einen Druckkostenzuschuss von der „Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf e. V.“ eingesteckt hat, wird man sich doch darüber sehr wundern dürfen.

Vera Viehöver überschreibt ihren Vortrag mit „Lesen – Übersetzen – Kommentieren: Goldschmidt auf dem Weg zu Kafka“. Georges-Arthur Goldschmidt, als Junge nach Frankreich geflohen, findet Kafkas Texte als von „unendliche[r] Deutbarkeit“ und deshalb von „einer grundsätzlichen Nicht-Deutbarkeit“ determiniert: „So wie sich das Blaue nicht vom Blauen oder das Grüne nicht vom Grünen ablösen läßt, kann man Kafkas Text nicht von Kafkas Text trennen.“ Oder: „Nichts von dem, was über Kafka geschrieben wird, ist falsch und nichts ist stimmig, nur der Text Kafkas stimmt mit Kafkas Text überein.“

Überlegungen zu den drei großen und einflussreichen Geistern Georg Lukács, Walter Benjamin und Claude Lévi-Strauss beenden den Sammelband. Lukács, der Autor der „Theorie des Romans“ und von „Geschichte und Klassenbewußtsein“, war in seinen jungen Jahren von chassidischer Mystik („Ekstase und Einheit, Weisheit und Messianismus“) beseelt, die ihn, so Michele Cometa, in „einer Zeit ohne Religion“ von dem „kommenden Gott“ spekulieren ließ. Benjamins Messianismus ist wohl weitaus gründlicher erforscht als der Lukács’, zumal Bernd Witte selbst diesem Gebiet Wesentliches beigetragen hat. „Engagement“ bedeutet, wie Claas Morgenroth am Karl-Kraus-Essay Benjamins entfaltet, körperlich, gestisch – ganz „materialistisch“ mithin – von der Sache in Beschlag genommen zu sein. So ist die privateste (Schreib-)Regung unmittelbar Ausdruck des Politischen. Ulrich Welbers abschließender Aufsatz („Im Schatten der Synagoge“) begreift die Strukturale Anthropologie Lévi-Strauss’ als radikales Säkularisat „der jüdischen Kommentarsystematik zum Zwecke eines wissenschaftlichen Erkenntnissystems“.

Nach der Lektüre der vierzehn Beiträge mag sich bei manchem der Wunsch nach einem Fazit regen. Womöglich jedoch ist dieser Wunsch nachgerade unzulässig; denn falls ein Moment jüdischer Identität in Unabgeschlossenheit und Nichtfixierbarkeit besteht (Sibylle Schönborn hatte das eingangs mit einer Reihe entsprechender Prädikate indiziert), wäre ein abschließendes gehaltsfixierendes Fazit wohl sachlich unangemessen gewesen.

Titelbild

Sibylle Schönborn / Karl Ivan Solibakke / Bernd Witte (Hg.): Traditionen jüdischen Denkens in Europa.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2012.
234 Seiten, 44,80 EUR.
ISBN-13: 9783503137138

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