Literarische Facetten zu einer Seelengeschichte der Schweiz

Peter von Matts neues Buch „Das Kalb vor der Gotthardpost“ versammelt 30 Texte aus den letzten zehn Jahren

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein hochsymbolisches Bild, das Peter von Matt seinem neuen Sammelband mit Aufsätzen und Reden vorangestellt hat. Eigentlich heißt es nur „Die Gotthardpost“ und stammt vom Gottfried-Keller-Freund Rudolf Koller (1828 – 1905). Gemalt hat der es 1873. Indem es darstellt, wie eine in höchster Geschwindigkeit die Gotthardpassstraße hinabbrausende fünfspännige Postkutsche ein Kalb, das sich offenbar ein wenig von seiner Herde entfernt hat, vor sich herjagt, verdeutlicht es eine Situation, in der sich die Schweiz praktisch von Beginn ihrer staatlichen Existenz an befand: zwischen Tradition und Fortschritt, Verharren und Beschleunigung, Mythos und Moderne.

Zumindest nahmen es so die einheimischen Deuter jeglicher couleur wahr, die sich in den vergangenen Jahrhunderten mit dem Wohl und Wehe, dem Woher, Wohin, Warum und Wozu des zentraleuropäisch gelegenen kleinen Alpenlandes beschäftigten. Von einem Schweizer Sonderfall war da gar oft die Rede, der nur zu bewahren sei, wenn man sich rigoros abgrenze von allem Modernisierungswahn ringsum und allein aus den eigenen Ressourcen jede auch für die Schweiz notwendige Erneuerung betreibe. Für den Zürcher Literaturwissenschaftler von Matt, der am 20. Mai dieses Jahres seinen 75. Geburtstag feierte, handelt es sich bei diesem Sonderfall allerdings hauptsächlich um eine „Sonderphantasie“.

Ihrer Genese widmet sich der längste und eigens als eine Art einleitende Grundlegung geschriebene Beitrag „Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation“. Er legt auch ein beredtes Zeugnis davon ab, dass sein Autor, am Anfang seiner Karriere geprägt durch die der Werkimmanenz verpflichtete Emil-Staiger-Schule, längst einer literarischen Methode adieu gesagt hat, die jenseits des gedruckten Dichterwortes ihre Zuständigkeit verleugnet. Im Gegenteil: Von Matt präsentiert sich seinen Lesern mit den 30 Beiträgen des vorliegenden Bandes als politischer Kopf, gelegentlich für seine Landsleute auch als außerordentlich harte, dem vorherrschenden denkerischen Mainstream schwer zu integrierende Nuss.

Gerade die Funktion der Schweiz als „Land der Pässe, des internationalen Verkehrs, des Güteraustauschs und des Exports von jungen Männern, auch von Marketenderinnen, auf die europäischen Schlachtfelder“, so des Autors Argumentation, spricht viel mehr für den dynamischen Charakter des Landes als für dessen Hang zu Abgeschlossenheit und Stagnation. Er weiß sich jedoch mit dieser Ansicht auf der Gegenseite jener zahlenmäßig nicht gerade unerheblichen Anhängerschaft eines mythisch inspirierten Isolationismus, der durchaus Züge einer „seltsamen Klaustrophilie“ anzunehmen in der Lage war und ist. Allerdings vermag ihn seine stupende literarische Gebildetheit immer wieder auf die Wege und zwischen die Zeilen jener Texte zu führen, die den „Riss“ durch das behauptete Idyll von Anfang an behauptet haben. Und nicht von ungefähr kulminiert von Matts Auseinandersetzung mit ein paar Jahrhunderten „Seelengeschichte“ seiner Heimat in einer Typologie all der „wandernden Dichter“, für die „Fortschritt“ wörtlich in einem „Fortschreiten“ bestand, einem Verlassen ihres Herkunftslandes, um sich ihre entscheidenden existentiellen Prägungen woanders zu holen: „Sie gehen weg. Sie kehren zurück. Sie wandern aus. Sie wandern ein. Schweizer Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind Grenzgänger.“

Wer Peter von Matts Wirken, dokumentiert in etlichen Büchern und einer Unzahl von Aufsätzen und Rezensionen, über die letzten Jahrzehnte verfolgt hat, weiß es natürlich längst. Für alle anderen sei es nochmals betont: Dieser Mann ist wahrhaftig eine Ausnahmeerscheinung unter den Literaturvermittlern unserer Zeit. Und das nicht nur, weil, wer „Das Kalb vor der Gotthardpost“ liest, am Ende ungläubig den Kopf schüttelt und sich fragt, ob es einen einzigen literarischen Text gibt, den dieser Mann nicht bis in seine innersten Verästelungen kennt und – gelegentlich überraschend neu – zu deuten weiß. Es ist vor allem die Art und Weise, wie er das tut, die imponiert. Da ist kein Haschen nach Wind, kein Ringen um Originalität auf Kosten der Verständlichkeit, kein Ersäufen des Eigenen in Fluten von Anmerkungen, kein Flunkern, kein Rückgriff auf Vorgefertigtes. Man lese nur jeweils die ersten Sätze aller 30 hier versammelten Arbeiten und staune zum einen über ihre Schlichtheit und zum anderen über die ihnen innewohnende Kraft, auf das Folgende neugierig zu machen, gefangenzunehmen, hineinzuziehen in einen Gelehrtendiskurs, vor dem auch der Laie nicht zurückzuschrecken braucht.

„Ich bin Philologe. Meine Arbeit besteht zu guten Teilen darin, die Wörter zu beobachten“, heißt es in dem Essay „Behagen und Unbehagen im Föderalismus“. Damit hat Peter von Matt das Credo seines Berufs umschrieben. Demonstriert wird es auf souveräne Weise in seinem neuen Buch an mehr als zwei Dutzend Gegenständen. Ob es sich um das Werk von weltweit gekannten und geschätzten Schweizer Autoren wie Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt oder Robert Walser handelt, ob der Leser eingeladen wird auf einen Gang in die Literaturgeschichte zu Größen wie Ulrich Bräker, Gottfried Keller oder Jeremias Gotthelf oder ob wir dem Literaturpropagandisten von Matt folgen zu den Werken von außerhalb der Schweiz nicht mehr ganz so bekannten Schriftstellern wie Adelheid Duvanel, Jörg Steiner oder Klaus Merz – stets ist da die Begeisterung des Autors für sein Metier zu spüren. Und natürlich einerseits seine Sorgfalt dem geschriebenen Wort gegenüber, andererseits immer wieder die Besonderheit seines Herangehens an Texte, die längst als „ausinterpretiert“ galten, plötzlich aber wieder in einem ganz neuen Licht zu leuchten beginnen.

Peter von Matt ist Schweizer und Weltbürger zugleich. Er liebt die Mythen seiner Heimat, denkt aber nicht daran, auf sie hereinzufallen. Rütliwiese und Gotthard-Tunnel gehören für ihn als nationale Symbole zusammen. Denn die Schweizer sind in seinem Verständnis, seit es sie gibt, „continental players … Sie haben sich nie als Murmeltiere verstanden, die sich in den Bergen vergraben.“ Dass diese Ansicht nicht von jedem seiner Landsleute geteilt wird, hat sich inzwischen herumgesprochen. Von Matt aber lebt sie mit Leidenschaft, wach und entschlossen, kämpferisch und eloquent. Davon legt nicht zuletzt die aktuelle Sammlung seiner Aufsätze und Wortmeldungen ein beeindruckendes Zeugnis ab.

Titelbild

Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
368 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238800

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