Ein Mentor für junge Künstler

Hermann Hesses Rolle als Förderer junger Künstler am Beispiel von Peter Weiss

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Hermann Hesse ist ein Phänomen. Fünfzig Jahre nach seinem Tod finden seine Bücher noch immer erstaunlichen Resonanz, begeistern sie Pubertierende mit ihrem romantischen Zauber. In den Hitparaden der Lieblingsbücher taucht der „Steppenwolf“ noch immer weit oben auf. Und Hesses Künstlerbuch „Narziss und Goldmund“ ist mit seiner Dualität von Unruhe und Spiritualität ungebrochen attraktiv für die jugendliche Selbstfindung. Demgegenüber verliert Hesse an literarischem Kredit. Die neuerliche Lektüre seiner Bücher hinterlässt nicht selten Ratlosigkeit, gar leichten Ärger. Die Neo-Romantik, die Hesse 1902 in einem Aufsatz formuliert und die in vielen seiner Bücher ihren Widerhall fand, mutet stellenweise kitschig und insgesamt sprachlich veraltet an.

Einerseits verstand Hesse es virtuos, die existentielle Unbehaustheit in Geschichten zu fassen, die mit leicht zugänglichen Typisierungen zur Identifikation auffordern. Andererseits ist kaum zu verhehlen, dass die darin angelegte Sehnsucht nach spiritueller Führung eine sehr problematische Kehrseite in Form von Führerfantasien und Sendungsbewusstsein besitzt, wie Hesse sie explizit in „Die Morgenlandfahrt“ oder im „Glasperlenspiel“ entwickelte: ein beglückendes „Gefühl der Einigkeit und des gemeinsamen Zieles“. Im Rückblick nicht ungefährliche Fantasien vor dem Hintergrund der 1930er- und 1940er-Jahre. An Hesses pazifistischer wie antifaschistischer Haltung ist nicht zu zweifeln, ebenso wenig wie an seiner oftmals politischen Hilflosigkeit.

So fällt das heutige Urteil über Hermann Hesse zwiespältig aus. Wer solches schreibt, muss allerdings auch kenntlich machen, dass ein solches stark persönliche Züge trägt. Der individuelle Umgang mit Hesse bewegt sich gerne zwischen zwei Polen: Hier die Wertschätzung eines Autors, der biografisch eine unschätzbar wichtige Rolle einnimmt, da das wieder gelesene Werk, dessen Zauber fast vollends verblasst ist. Trotzdem: Was war das für ein Ereignis, als die blaue Hesse-Ausgabe in zwölf Bänden unter dem Christbaum lag und das Feuer für die Literatur so richtig anfachte.

Hesse ist also nicht leicht zu retten – es sei denn, seine charismatische Persönlichkeit gerät in den Fokus der Aufmerksamkeit. Hesse: der Mentor, der Motivator, der Vermittler. Mir unvergessen ist die „Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen“, die mir das „Decamerone“, Francois Rabelais’ „Gargantua“, Fjodor M. Dostojewskis „Brüder Karamasow“ oder Arno Schmidts „Leviathan“ mit Leidenschaft nahe legte. In dieser Sammlung findet sich gegen Ende auch der folgende Satz über eine aktuelle Neuerscheinung: „Es gibt in der neuesten deutschen Literatur sehr wenige Werke von ähnlicher Stärke, und dass wir beide nun Autoren des gleichen Verlags sind, freut mich.“ Die direkte Anrede signalisiert, dass es sich dabei nicht um eine Rezension, sondern um ein Briefzitat handelt. Es bezieht sich auf das Buch „Abschied von den Eltern“ (1961).

Mit diesem Buch hatte Peter Weiss damals gerade einen beachtlichen Erfolg erzielt, er fühlte sich endlich für seine lange Suche nach literarischer Aufmerksamkeit belohnt. Der, der ihn auf diesem Weg dahin begleitet hatte, war niemand anderer als Hermann Hesse. Diese Geschichte ist charakteristisch und repräsentativ für das Wirken des „Zauberers von Montagnola“. Deshalb lohnt es sich, daran zu erinnern.

„Er wird für mich immer lebendig sein, so wie mir seine Bücher immer lebendig und gegenwärtig sind“, schrieb Weiss kurz nach Hesses Tod 1962 an dessen Frau Ninon. Derselbe Weiss, der drei Jahre später unmissverständlich festhalten wird: „Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit“ – er hat seinen Hesse immer mit sich im Gepäck mitgetragen. Auch Weiss war ein „Opfer“ der beeindruckenden Persönlichkeit Hesses: des begeisternden Vermittlers, des vitalen Außenseiters und Kosmopoliten, des Totalkünstlers, der wie Weiss selbst ein ewig Umhergetriebener blieb.

Aus dem tschechischen Warnsdorf, wohin die Familie Weiss vertrieben wurde, schrieb der 20-jährige Peter in einer Mischung aus Verzweiflung und ungelenkem Mut anfang 1937 an sein Idol: „Obgleich ich weiß, dass viele junge Menschen Sie mit Briefen und Manuskripten überschütten, um Rat oder Hilfe von Ihnen zu erhalten, und Sie deshalb mit Post und allerlei Geschreibsel im Übermaß bedacht sind, wage ich es, sie auch mit meiner Sendung zu beglücken“.

Der junge Dichter – „ein Ihnen fremder, ferner Mensch“ – klagte dem verehrten Vorbild sein Unglück und seine Einsamkeit und garnierte die Klage mit Kostproben aus dem juvenilen Literatur- und Kunstschaffen. Andere hatten es ihm vorgemacht, Hesse erhielt viele solcher Briefe, wofür er schon 1910 einen Standardbrief an junge Dichter veröffentlichte. Doch Weiss sollte eine persönliche Antwort erhalten, in der Hesse mit dem jungen Künstler „gut gemeint“ ins Gericht ging. Weit wichtiger aber spiegelte Hesse die romantische Sehnsucht zurück: „Die ‚Romantik‘, die Sie meinen, ist auch mir bekannt und lieb, doch kann ich aus Ihren Versuchen noch nicht recht erkennen, was Ihnen einmal möglich sein wird“.

Damit war ein kritischer, doch hoffnungsfroh stimmender Anfang gesetzt und bald schon sollte die Beziehung persönliche Züge annehmen. Weiss kündigte in einem Brief an, dass er die Arbeitsproben eigenhändig in Montagnola abholen möchte, was im Spätsommer geschah. Mehr noch: Auf Hesses Fürsprache hin durfte Weiss in der Casa Camuzzi, in Klingsors Arbeitszimmer gewissermaßen, ein paar Wochen verweilen und arbeiten. Zudem setzte Hesse sich bei seinem Freund Willi Nowak in Prag für den jungen Künstler ein, so dass er ein Lehrjahr an der Kunstakademie absolvieren konnte.

In vergleichbarer Weise hatte sich Hesse immer wieder für Kollegen eingesetzt, speziell auch für jene, die vor den Nazis in die Schweiz geflüchtet waren. Er versuchte Robert Musil oder Albert Ehrenstein beizustehen. Und als die Schweizer Fremdenpolizei 1938 das berüchtigte „J“ in die Pässe von jüdischen Deutschen stempelte, protestierte Hesse beim dafür verantwortlichen Amtschef persönlich und warnte vor der Gefahr, dass „eine autoritäre Gewaltmaschinerie ohne Kritik und ohne Hemmungen“ in Gang gesetzt würde. Er sollte erfolglos Recht behalten.

Weiss wiederholte die Reise zu Hesse 1938 in Begleitung seiner neuen Freunde Robert Jungk und Hermann Levin-Goldschmidt. Zu dritt pilgerten sie – Angehörige des Bundes der „Morgenlandfahrer“ – nach Montagnola. Weiss blieb und verbrachte weitere vier Monate in Hesses Umgebung.

Der Lehrling fand im „verehrten großen Zauberer“ einen väterlichen Mentor und ein Vorbild, dessen poetische „Sendung“ auch die seine sein sollte. Mit ihm war auch er Teil „im ewigen Strom der Seele, im ewigen Heimwärtsstreben der Geister nach Morgen, nach der Heimat“, wie es in der „Morgenlandfahrt“ heißt. Weiss fühlte sich aufgehoben im Ideal des leidenden, reinen Künstlers, in der romantischen Sendung erkannte er ein Identifikationsangebot, mit dem sich Zweifel und Ängste verdrängen ließen. Dies war ganz und gar von Hesse abgeschaut. Im Mai 1938 schrieb dieser an den jugendlichen Fan: „Außer dem Sichzurückziehen in den magischen Raum seiner Arbeit gibt es für unsereinen keine Zuflucht in dieser hässlich gewordenen Welt“. Dieser Brief lässt erahnen, was den verzagende, oft kränkelnde Hesse zum jungen Weiss hinzog. „Sie haben recht, für einen jungen Künstler ist die Welt heut feindseliger als je; aber für einen alten Künstler, der am Ende eines arbeitsamen Lebens zum alten Gerümpel geworfen wird und wieder alle Sorgen der frühern Jahre spüren muss, ist es auch nicht hübsch.“ So wie Weiss sich nach dem Vorbild des Meisters in der Kunst befreien wollte, so vergaß Hesse im Kontakt mit dem Jünger für Augenblicke sein zunehmend belastendes Alter.

Dann begann Weiss seine romantische Beseeligung allmählich zu überwinden, doch Hesse hatte ihm dazu einen väterlichen Anstoß gegeben. Dies vergaß ihm Weiss nicht, auch wenn Hesse in seinem Werk kaum auftaucht. In „Fluchtpunkt (1962) erhält er als „Harry Haller“ einen kurzen Auftritt. Ähnlich erging es beinah allen Freunden der Frühzeit. Peter Weiss reflektierte in seiner „autobiographischen“ Prosa das Problematische seiner suchenden Existenz, nicht die glücklichen Momente des Findens.

Erst 1970, als er in eine tiefe Schaffenskrise geriet, aus Anlass von unverhoffter Kritik an seinem Stück „Trotzki im Exil“, erinnerte er sich in seinen Träumen wieder an den Meister aus Montagnola. Mit seinem Tagebuch, mit „Rekonvaleszenz“ überschrieben, suchte er ins Leben zurückzufinden, indem er auf die unterschwelligen Reize und Stimmen hörte. Auf seine Träume achtend, vergegenwärtigte er sich schonungslos die Lebens- und Schaffenskrise. Zu den warnenden, nunmehr inneren Stimmen gehörte auch Hesse. Dessen Werk, das „ich in meiner Jugend aufgesogen hatte, ist untrennbar mit meiner eigenen Produktivität verbunden, es steht für mich außerhalb der objektiven Beurteilung, weil es tief durchsetzt ist mit eigenen Träumen, Erwägungen und Plänen. Seine Romane, Erzählungen und Gedichte sind Spiegel, in denen eine süchtige Identifizierung gebannt ist. In depressiven Stadien und Krisen, in einem Hang zum Irrationalen, im Fliehen aus der äußeren Realität hatte ich zu dieser Lektüre gegriffen, und so grundlegend verändern wir uns nicht, dass uns das, was einmal der Inbegriff einer geistigen Bestätigung gewesen war, ganz fremd werden könnte“. So wachsen in dieser Phase der „Rekonvaleszenz“ Traum und Wirklichkeit unter dem Patronat des „verehrten Zauberers“ wieder zusammen.

Hesses wohlwollende, zutiefst menschliche Fürsprache hatten beim jugendlichen Weiss den noch schwachen Glauben an die eigene Künstlerschaft gestärkt. Damit repräsentiert Weiss die produktive, nachhaltige Wirkungskraft des Mentors und Förderers Hesse. Genau in diesem Sinn halten ihm auch viele Gegenwartsautoren die Treue. Das ist die eine Seite, die andere ist: Selbst Schriftsteller, die ihn gar nicht gelesen haben, profitieren von Hesse, indem sich dessen Bücher während Jahrzehnten so gut verkauft haben, dass der Suhrkamp Verlag einen Teil ihres Erlöses in jüngere Autoren und Autorinnen reinvestieren konnte. Auch dafür gebührt Hermann Hesse Respekt.

Zwei Briefwechsel beleuchten die Beziehung von Hermann Hesse und Peter Weiss:

Hermann Hesse – Peter Weiss: »Verehrter großer Zauberer«. Briefwechsel 1937–1962. Hg. und komm. von Beat Mazenauer und Volker Michels. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009.
Peter Weiss: Briefe an Hermann Levin Goldschmidt und Robert Jungk. Hg. und komm. v. Beat Mazenauer, Reclam Verlag, Leipzig 1992.