Schreiben gegen die kranke Seele
Hermann Hesses Versuch, das Leben literarisch zu bewältigen
Von Werner Huber
Auf seiner Hinterindienreise fiebert Hermann Hesse Ende Oktober 1911 der Rückfahrt von Sumatra nach Singapur entgegen. In der Pfahlbaustadt Palembang – im Gezeitentakt der Java-See abwechselnd Wassersiedlung oder Sumpfloch – wartet er zermürbt von Hitze, Gestank und Moskitos und gepeinigt von einer „fast unerträglichen Depression“ auf die längst überfällige Abfahrt der „Maras“. Es wird noch geladen, ein Tropenunwetter bricht los und verzögert alles noch weiter. In seiner Todesstimmung betäubt Hesse sich mit einer Flasche Bordeaux.
Unverklausuliert zeigen seine Reisenotizen die Plagen der beschädigten Seele, von dauernder Schlaflosigkeit, gegen die nur starke Schlafmittel helfen, bis zu Todesstimmungen, in die er bei „allem Wein kaum für Viertelstunden ein Loch hineinreißen“ kann. Im Reisegedicht „Nachts in der Kabine“ schrecken ihn seine inneren Dämonen: „Und alles sieht ihn wild und teuflisch an, / Weil er den Feind im eignen Busen trägt / Und nie entrinnen kann.“ Das klingt nach Resignation, nach verlorener Hoffnung, den Seelenfrieden zurückgewinnen zu können.
Kein Wunder, hängen dem 34-jährigen Erfolgsschriftsteller die Probleme doch schon seit zwei Jahrzehnten an: „Schwer zu behandeln; leidet an Größenwahn, fühlt sich zu Großem berufen, träumt von großen dichterischen Erfolgen“, so der Befund eines Anstaltsarztes zum ausgestoßenen Klosterschüler Hesse. Der Arzt vermutet ein Vorstadium zum Irrsinn und sieht sich dazu von verschiedenen Vorkommnissen genötigt: Ohne erkennbaren Grund war der 14-Jährige aus dem Maulbronner Seminar entlaufen, plan- und ziellos und trotz Winterkälte nur leicht bekleidet. Anderntags hatte man ihn kältestarr auf freiem Feld aufgegriffen. Aber es kam noch schlimmer: Er drohte einem Mitschüler, ihn umzubringen, und ging tatsächlich auf ihn los – glücklicherweise mit glimpflichem Ausgang. Danach sprach er von einem Schmerz im Kopf, der nur geheilt werden könne, wenn er einen Menschen umbringe. Die verzweifelten Eltern – pietistische Missionarsleute – brachten den „Rappler“ in einem christlichen Heilzentrum unter, aber nach einer Selbstmorddrohung verwies man ihn auch von dort: in die geschlossene Anstalt. Es ist weniger der Verdienst des Arztes als eines Seelsorgers, dass sich deren Tore für Hesse nach einigen Monaten wieder öffnen.
Die literarische Verarbeitung, die Erzählung „Unterm Rad“, geht Hesse ein Jahrzehnt später an, als er in der Wehmutszeit nach dem Tod der geliebten Mutter sein Werden erinnern und verstehen will, besonders die Ursprünge seiner Seelenverstörung. Protagonisten sind zwei befreundete Klosterschüler, der strebsame Hans Giebenrath und der rebellische Schwarmgeist Hermann Heilner, die in ihrer Gegensätzlichkeit Hesses beide Wesensarten zu Beginn seiner Seminarzeit repräsentieren. Giebenraths allmähliche geistig-seelische Zerrüttung unter dem suggestiven Einfluss von Heilner und schließlich sein Zerbrechen unter dem Druck der Schule ist nichts anderes als Hesses eigene Geschichte.
„Unterm Rad“ wird häufig als Abrechnung mit dem autoritären wilhelminischen Schulsystem verstanden: Das war es auch, nicht aber Hesses primärer Intention nach. Zudem schwächte er später seine Kritik als tendenziös und zu pauschal ab.
Fünf Jahre nach der Grenzerfahrung als Anstaltszögling druckt eine Literaturzeitschrift ein Gedicht Hesses ab, ein Jahr später erscheint seine erste Gedichtsammlung „Romantische Lieder“. Eine „kranke Seele“ singt da über schmerzliche, oft todesnahe Stimmungen und über Einsamkeit, Heimweh, vergangenes Kindheitsglück und die Sehnsucht nach der fernen Mutter. Zu distanziert war diese ihm schon seit Kindertagen, immer hatte sich der Junge mehr Zuwendung ersehnt, als die gefühlsarme und im Dienst an Gott aufgehende Missionarsfrau zu geben fähig war. Der Mangel muss ihn umso härter getroffen haben, als er von klein auf von empfindlichem und besonders liebesbedürftigem Gemüt war.
Die Mutter bleibt für Hesse eine lebenslange Sehnsuchtsgestalt, zahllos sind die Zeugnisse ihrer Anrufungen, von Jugendbriefen über die „Romantischen Lieder“ bis zu Zeilen des reifen Mannes: „Ihre Augen will ich wieder sehen, / Ihr Blick ist mein Stern, / Alles andre mag gehen und verwehn.“ Unerfüllte Sehnsucht und emotionale Entbehrung scheinen überall durch wie Urgründe der Verstörung und Antriebe von Hesses Schreiben.
Mit 26 Jahren ist Hesse plötzlich arriviert: Sein „Peter Camenzind“ erscheint, die Geschichte des begabten Schweizer Bauernsohns und Naturburschen, der in die Welt zieht, um Schriftsteller zu werden, nach ersten Erfolgen aber von der Seichtheit des Literatur- und Feuilletonbetriebs zunehmend abgestoßen ist und sich für die Rückkehr in sein Heimatdorf entscheidet. Hesses Erfahrungen während seiner Basler Buchhändlerexistenz: Seine Menschenscheu überwindend hat er Zugang zur Kulturszene gefunden, erkannte aber deren Oberflächlichkeit und grübelte über den Sinn seines Dichterstrebens.
Der Erzählton ist leger weltläufig, launig persifliert der Ich-Erzähler das eitle Intellektuellengetriebe der Metropolen. Was ist da passiert – vorher sentimentale Innerlichkeit, jetzt satirisches Gesellschaftsbild?
In einem Schreibrausch hat Hesse das Manuskript binnen zwei Monaten fertiggestellt. Und das nicht lang nach dem Tod der Mutter, der ihn in eine der schlimmsten Depressionen seines Lebens gestürzt hatte. Ein Götterfunke war es, der ihn aus der monatelangen Lähmung gerissen und zum hypomanischen Umschwung in Euphorie und Arbeitsfieber geführt hatte: das unerwartete Angebot des angesehenen Berliner S. Fischer Verlags, seine künftigen Arbeiten zu publizieren. In nie gekannter Fabulierlust schrieb er den Roman nieder, und das Thema sollten nicht seine Depressionen sein, sondern die Welt, von den Schweizer Bergen bis nach Paris: „Die Alpen sollen den inneren Alp erdrücken“, so Hesses kongenialer Biograf Hugo Ball.
Aber selbst hier verlangt es ihn nach Mitteilung seiner Heimsuchungen, will er sich das Leiden von der Seele schreiben, schildert er die Zustände einer „schauerlichen Einsamkeit“, einer trostlosen Gleichgültigkeit und Lähmung der Schaffenskraft, des „Stockens der Seele“. Ein Jahrzehnt später wird Sigmund Freud eine Schrift zur Therapie seelischer Traumen veröffentlichen, mit dem programmatischen Titel „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten.“ Intuitiv kam Hesse dem mit seiner Schreibtherapie schon sehr nahe.
Mit dem ersten Weltkrieg ziehen für Hesse erneut schwere Krisenjahre auf. Von vielen Seiten lastet Druck auf ihm: Der kriegerische Zeitgeist brandmarkt ihn als Drückeberger und Defätist, die Kluft zu seiner psychisch erkrankten Frau Mia wird vollends unüberbrückbar, der jüngste Sohn erkrankt lebensgefährlich, der Tod des Vaters 1916 stürzt ihn in noch tiefere Verzweiflung. Er hat rasende Kopfschmerzen, leidet unter Schwindel, ständiger Schlaflosigkeit und Angstzuständen, ist schwer depressiv: Es droht der Zusammenbruch.
Da alles andere nicht hilft, liefert er sich einer noch jungen Wissenschaft aus: der Psychoanalyse, die durch Erkennen unbewusster seelischer Belastungen Krankheiten zu heilen versucht. Die Tiefenerforschung, die zu einer „Höllenreise“ durch sein Inneres wird, verändert Hesses Verständnis von sich selbst und wirkt stark auf seine künftigen Werke: Sie eröffnet eine Innenschau, die ihm seine Doppelnatur aus edlen und zerstörerisch-menschenfeindlichen Anlagen vor Augen führt. Die Schlussfolgerung: Er muss mit Bürgerleben und Familie brechen, um nicht selbst zu zerbrechen.
Die Psychoanalyse wird zum Götterfunke dieser Lebensphase, der ihn aus Krankheit und Depression erlöst und den schon bekannten Umschwung in den Schreibrausch bewirkt: In zwei „brennenden“ Monaten schreibt er den „Demian“. Die Tiefenerforschung war die innere Vorbereitung dafür.
„Demian“ wird zur neuen Bibel der Jugend, zu einer gefeierten Verheißungsschrift einer neuen Moral und Menschlichkeit, angesichts des Untergangs der überkommenen Moral im Massentöten des Krieges. Dabei ist die Handlung alles andere als revolutionär: Sie baut auf Hesses Kindheits- und Jugenderlebnissen auf, die psychoanalytisch hinterleuchtet und auf das Ideal einer rigorosen Selbstverwirklichung zugespitzt werden. Gezeigt wird der Werdegang des empfindsamen Jungen Emil Sinclair. Neben der Familie prägt ihn besonders der geheimnisvolle Freund und Erwecker Demian, der ihm zum Mentor wird auf dem Weg durch die Lebens- und Seelendualität von Geist und Trieb, Schöpfung und Zerstörung. Demian lehrt ihn, beides in sich anzunehmen, als höchste Stufe der Selbstwerdung.
Demian mag man als das Über-Ich von Sinclair sehen, als höchste Bewusstseinsstufe, die über die Bürgernormen hinausgewachsen ist und sich eine eigene, höhere Moral geschaffen hat.
Zum Ende tritt eine Frau Eva auf, Demians Mutter. Sie ist Sinclairs lang erträumte Sehnsuchts- und Leitgestalt: „ein Sang von der Gewalt des Muttertums“, so Hugo Ball, der die Szene als Ausdruck von Hesses unerfüllter Mutterbeziehung interpretiert, die er „durch Jahrzehnte in sich ausgetragen und verschwiegen hatte.“ Die Psychoanalyse hatte ihm geholfen, sie zutage zu fördern und zu Literatur werden zu lassen.
Zwei Jahre später entsteht die Novelle „Klein und Wagner“, eine erschreckende Allegorie auf die Extreme, die eine Menschenseele in sich zu vereinen fähig ist: Liebe zur Musik und Philosophie ebenso wie Mordbesessenheit. Fast unverschleiert autobiografisch, ist sie Hesses gnadenloseste Selbstenthüllung. Eigentlich ist der Protagonist Klein ein pflichttreuer Angestellter, Ehemann und Vater, ein Kulturmensch, der die Musik Richard Wagners und die Philosophie Arthur Schopenhauers schätzt. Aber die Frustration über sein als Joch empfundenes Familienleben weckt in ihm Hass und barbarische Mordträume, in denen er Frau und Kinder „töten, sie schlachten und in ihrem Blut liegen sehen“ möchte. Aus Angst, dass die Träume Wirklichkeit werden, flieht er, nachdem er sich durch Betrug Geld beschafft hat, von zu Hause in sein südliches Traumland – genau wie Hesse dies, mit Ausnahme des Betrugs, gerade hinter sich hat, Mordfantasien eingeschlossen.
„Der Mörder mahnt immer wieder laut und peinigend an die Tiefen in uns, die voll Schlamm und dunkler Urwelt sind“, so Hesse in einem Brief dieser Zeit. Seinem Psychiater bekennt er, alles wäre leichter, wenn seine Frau Mia, die ihn mit psychotischen Ausbrüchen quält, nicht mehr leben würde.
Hesse weiß, welche Grenze er mit dieser Novelle überschritten hat, sie sei wie Zyankali, „aber sie ist gut und war notwendig.“ Notwendig, um sich „mit allem Unerlösten und Uralten“ in ihm auseinanderzusetzen, um seelisch zu gesunden. Er hat mit Allem gebrochen, mit Familie, Bürgerlichkeit und seinem Stil. Als Einsiedler lebt er jetzt in Montagnola, und es ist zu fürchten, dass seine Flucht endet wie die von Klein: mit Selbstmord. Als der erste Montagnolasommer und mit ihm das Schreibfieber zu Ende geht, will er nur noch sterben. Mit einer Überdosis Opium versucht er sich zu töten.
Er überlebt. Aber es beginnt ein Elendsjahrzehnt, das des „Steppenwolf“. Seine schwerste Krise fällt zusammen mit dem Scheitern der zweiten Ehe. Das Untier in ihm reißt und tobt. Man muss ihm zu Leibe rücken, es ausleuchten, ihm den Schutz der Dunkelheit rauben. Der Steppenwolf Harry Haller ist auch so ein gespaltenes Mensch-Wolf-Wesen und ein Selbstmörder wie Hesse, gleicht ihm in Allem, ist genau der Hesse der Krise, der gleiche „Schizophrene“, dessen Krankheit ebenfalls in der Kindheit wurzelt. Kein Firlefanz mehr mit Verkleidung und Verfremdung: Hesse neues Schreiben will nichts Geschmücktes, sondern Bekenntnis, „so wie ein Vergifteter sich nicht mit seiner Frisur beschäftigt oder mit der Modulation seiner Stimme, sondern eben hinausschreit.“
Im „Steppenwolf“ führt er Haller durch Abenteuer, die sich als Schritt zur Heilung erweisen. Harrywolf lernt seine unterdrückten wölfischen Triebe kennen und sie als komplementären Persönlichkeitsteil anzunehmen: die Mordfantasien gegen seine Hassobjekte ebenso wie seine Wünsche nach Liebe und Sexualität. Hesse schöpft hier aus der Psychoanalyse, die sein aus dem Pietistenethos erwachsenes lebenslanges Verdrängen offengelegt hatte.
Haller wird außerdem gelehrt, den Lebenswidrigkeiten nicht mit seiner neurotischen Verbissenheit zu begegnen, sondern mit (Galgen-)Humor. Und schließlich lernt er, sich an „Unsterblichen“ wie Mozart oder Goethe aufzurichten, die ebenfalls Leidende waren und doch Großes für die Menschheit schufen.
Das Buch endet optimistisch mit Hallers Hoffnung, dass Heilung möglich sei: „Einmal würde ich das Lachen lernen.“ Hesses Zustand jedenfalls bessert sich beim Schreiben zusehends. Sicher tragen auch günstige äußere Umstände dazu bei, so die beginnende Verbindung mit seiner künftigen dritten Frau Ninon Dolbin, die Beruhigung in sein Leben bringt. Sein Interesse verschiebt sich vom Ich hin zur Gemeinschaft, was seine künftigen Werke prägen wird.
Von den Anfängen bis an die Schwelle zum Alterswerk hat Hesse sein Schreiben zur Bewältigung seiner seelischen Krisen eingesetzt, und umgekehrt diese Krisen als literarischen Stoff benützt. Daraus erwuchs eine Unmittelbarkeit und Authentizität, die auch seine Popularität zu erklären hilft.
Anm. der Red.: Werner Huber hat im Buch „Mit Dichtern auf Reisen“ neben den Fernreisen anderer großer LiteratInnen – von Rilke bis Ingeborg Bachmann – auch Hesses Hinterindienreise geschildert. Meist zeigt sich dabei eine verstörte Psyche der Kreativen – Anlass für Huber, deren Ursprung und Einfluss auf das Schreiben nachzugehen.