Meditationen über die Liebe
Anmerkungen zu Bodo Kirchhoff Roman „Die Liebe in groben Zügen“
Von Thomas Neumann
Der Buchtitel lässt den Leser zunächst eine Beschreibung der Liebe vermuten. Oder sind die Erläuterungen zur „Liebe“ eher gewalttätig und nicht sensibel, wie die Formulierung der „groben Züge“ intendieren könnte? Kann man die Liebe überhaupt beschreiben? Zumindest kann man einen Versuch unternehmen. So wie sich Bodo Kirchhoff auf den Weg gemacht hat – um das Verhältnis seiner Romanfiguren zur Liebe – oder was man darunter verstehen könnte – zu erkunden. Dazu hat er sich zwei, oder eigentlich sogar drei Pärchen genommen und sie in ein klassisches Beziehungsverhältnis zueinander gesetzt – oder zumindest erscheint dem Leser das Figurenarrangement auf drei Paare ausgerichtet zu sein. Aber so wie schon in den „Wahlverwandtschaften“ von Johann Wolfgang Goethe ist es kein statisches Bild, das dem Beobachter entgegentritt, sondern ein dynamisches Beziehungsgeflecht, das die verschiedenen Aspekte von Liebe und Tod, von Treue und Betrug, Weisheit und Vertrauen, Hoffnung und Verzweiflung zu spiegeln versucht.
Kirchhof beginnt mit einem Axiom zum Thema „Liebe“, konstatiert einen Zustand, beschreibt damit einen Status Quo der Beziehungen, der sich ändert, sich dreht und doch immer gleich bleibt: „Sehnsucht nach Liebe ist die einzige Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam.“ Und um an dieser Stelle vorzugreifen – zum Ende des Romans steht alles wieder auf Anfang: Die beiden Protagonisten Vila und Renz sind in Italien. Getrennt oder nicht, alles in der Schwebe, wie immer, wie die fast siebenhundert Seiten zuvor. Sollten beide am Ende der Geschichte etwas entscheiden? Kirchhoff greift zur kleinen Geste, aber diese ist so pointiert treffend, wie eine scheinbare Kleinigkeit auf einem Bild von Jan Vermeer van Delft: „[…] aber dann greift sie [Vila, A. d. V.] nach seiner [Renz, A. d. V.] Hand, fast so ungeschützt wie beim ersten Mal.“ Und zwischen diesen beiden Sätzen findet der Leser die Geschichte von Vila und Renz, Vilas Beziehung zu Bühl, dem Mieter ihres Sommerhauses und Renzens Beziehung zu der krebskranken Produzentin Marlies. Und als historischer Spiegel wird die achthundert Jahre zurückliegende Beziehung zwischen Franz von Assisi und seiner Mitordensschwester Klara beschrieben – als Buchthema, an dem der Untermieter Bühl arbeitet. Und dabei lässt Kirchhoff nichts aus, was in einer Beziehung vorkommt – inklusive einer angedeuteten Liebesnacht zwischen dem heiligen Franz von Assisi und seiner Klara: „Es fährt ihr über den Mund; es reicht, daß sie die Dunkelheit mit ihm teilt. Sie beide sind ein Kästlein, das besser zubleibt.“
Der Roman ist gefüllt mit tiefgreifenden Einsichten über das Verhalten von Menschen in Liebesbeziehungen. Kirchhoffs Protagonisten Vila und Renz sind ein Paar um die Fünfzig. Beiden erlaubt er eine neue Liebe – und die damit verbundenen Emotionen – die sich nur graduell von denen Zwanzigjähriger unterscheiden. Darüber hinaus gibt es im Roman Erkenntnisse über das Arbeitumfeld der Protagonisten und ihrer potentiell neuen Partner, die sich alle im Fernseh- und Filmmilieu bewegen. Damit gibt Kirchhoff interessante Einblicke in die Medienwelt. Aber dies ist nicht wirklich wichtig für die Geschichte des Romans und seiner Figuren.
Kirchhoff ist der Meister der Sentenz. Er erzählt in aller Ausführlichkeit und fasst gleichzeitig pointiert die Erzählpassagen zusammen. Über die beiden Protagonisten Vila und Renz heißt es anfangs: „Vila und Renz, das Paar, das noch nicht zu viel voneinander weiß, die beiden nachts auf ihrem Boot, einer alten Sea Ray, mit Kabine unter dem Bug und Postern im offenen Rückteil.“ Und seine Figuren sind fast immer an bezaubernden Orten: ein Haus am Gardasee, hübsche italienische Städte, Jamaika, Cuba mit dem zerfallenden Charme Havannas und letztendlich Frankfurt, das interessanterweise zum Ort des Rückzugs und der beschützten Idylle avanciert. In dem Haus von Vila und Renz in Italien findet Kirchhoff ein treffendes Bild für ein gut situiertes Paar, das unversehens metaphorische Qualitäten entbirgt: „Überall waren die Jahre, wenn er durchs Haus ging, auf dem großen Tisch im Wohnraum, auf den alten Grappaflaschen, im geschwärzten Kamin.“
Vergänglichkeit und das Fließen der Zeit sind große Themen in „Liebe in groben Zügen“. Und wirklich erträglich macht Kirchhoff diese temporären Idyllen, in dem er diese systematisch bricht und negiert, sie mit echtem Leben füllt und damit die Geschichte und den ganzen Roman glaubhaft und an keiner Stelle belanglos werden lässt, etwa wenn er über Renz und seine „Geliebte“ Marlies schreibt: „Und nun also die restaurierten Fresken, ihre Farben strahlend, rein; mit dem Kinn in Marlies’ Haar hatte er nach oben gesehen und dabei plötzlich die Vorstellung, dass erneut alles einstürzen [Die Giotto Fresken wurden zuvor von einem Erdbeben zerstört, A. d. V.] könne und ihm die Konsequenzen aus dieser Reise erspare.“ Hinzu kommt die abwechslungsreiche Verknüpfung und Verflechtung der Figuren und Charaktere miteinander, so dass ein Panorama der Möglichkeiten und Spielarten von gegenseitiger Empathie entsteht – fern von den Klischees aktuell hoch gehandelter Unterhaltungsromane.
Es ist vor allem die Abwesenheit von langweiligen, überflüssigen Passagen und die durchweg auf literarisch hohem Niveau erzählte Geschichte, die dieses Buch so überaus lesenswert und kurzweilig machen – trotz seiner knapp siebenhundert Seiten. Dabei ereilen den Leser nach und nach die Erkenntnisse über die Liebe – mehr oder weniger nachhaltig und in vorliegenden Fall wohl extrem abhängig von der Erfahrungswelt des Lesers. Zusammenfassend ein Roman, der vielleicht etwas mehr als nur einen Platz auf der Longlist des deutschen Buchpreises 2012 verdient hat.
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