Einsicht durch Blindheit

Barbara Naumann spürt in ihrer „Bilderdämmerung“ dem ikonisch Prekären in Romanen nach

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der heute schon fast vergessene Literaturnobelpreisträger Paul Heyse schreibt am 14. Januar 1881 in einem Brief an Gottfried Keller: „Ich habe längst erwartet, daß einer der modernen Experimental-Ästhetiker eine Abhandlung schreiben würde über den Einfluß der Photographie auf unsere Kunst und Literatur, da ich in derselben die Erzeugerin und Amme unseres heutigen Realismus erblicke.“ Bilder – speziell die Fotografie – galten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Abbilder der Realität; viele sehen in ihnen noch heute das Dokumentationsmedium par excellence, getreu dem Sprichwort: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“.

Dass dem nicht so ist, führt die an der Universität Zürich lehrende Literaturwissenschaftlerin Barbara Naumann in ihrer jüngst erschienenen Studie „Bilderdämmerung“ vor, mit der sie – so der Untertitel – eine „Bildkritik im Roman“ vorzulegen beabsichtigt. Anhand ausgewählter Werke Johann Wolfgang von Goethes, Victor Hugos, Gottfried Kellers und W. G. Sebalds spannt Naumann einen Untersuchungsbogen, der gut 200 Jahre Literaturgeschichte umfasst. Zur Auswahl der vier Schriftsteller erfährt man, dass es sich bei ihnen um „besonders bildsensitive[] Denker[] ihrer Zeit“ handle, die in ihren Werken über den „Bildcharakter ihres Erzählens“ reflektierten.

Und genau das ist das Thema des Buches: „Es soll um Bilder gehen, die in wesentlicher Weise teilhaben an der Erzählung und am spezifischen Kunstcharakter des Erzählens.“ Selbstredend kann eine Studie, die kaum 150 Seiten umfasst, keine erschöpfende Analyse medialer Interferenzen liefern. Doch gerade in ihrer konzisen Beispielhaftigkeit bei zugleich epochenübergreifendem Betrachtungszeitraum liegt die Stärke des Naumann’schen Bändchens. Die herangezogenen Schriftsteller sind wohlausgewählt: Während Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ Tableaux vivants inszeniert, sind Hugo und Keller nicht nur Schriftsteller, sondern zugleich Maler und Zeichner, die sich mit Collagen, Farbverläufen und Zeichnungen auseinandersetzen. Sebald schließlich bringt die Fotografie in den Text ein, die als Abbildung maßgeblichen Einfluss auf sein Erzählverhalten hat. Somit werden die unterschiedlichsten ikonischen Medien mit dem Medium Text konfrontiert.

Wie Naumann im Folgenden Bild und Schrift, Malerei und Literatur, Fotografie und Text miteinander verbunden wissen will, kann bereits am Titel ihrer Studie erahnt werden: Die Medien treffen sich in der ‚Dämmerung‘, einer nicht eindeutigen, nicht klaren Grenze zwischen Tag und Nacht, Helligkeit und Dunkelheit. Hier geht das eine in das andere über, hier wirken Bilder auf Texte, Texte auf Bilder ein. Der Übergang ist fließend; die Bilder sind ‚prekär‘: „Damit ist ein Bildcharakter gemeint“, so Naumann, „der nicht auf den linearen oder direkten Ausdruck einer Objekt-Repräsentation reduziert werden kann; ein Bildcharakter, der auf dem Weg zwischen dem Objekt und seiner Darstellung einen Riss, eine Diskontinuität, ein Defizit zu erkennen gibt.“

Diese Darstellungsproblematik thematisieren die von Naumann untersuchten Texte. So sind die dreidimensionalen Bildinszenierungen der vier in den „Wahlverwandtschaften“ beschriebenen Tableaux vivants Ausdruck der narzisstisch-körperlichen Präsentation Lucianes, Charlottes Tochter. Dabei verkehren die lebenden Bilder „durch ihren Bezug auf Blindheit, Ohnmacht, Heimlichkeit und verstellte Blicke ironisch die Tatsache, dass sie Schau-Stücke, also auf das Zuschauen angewiesene theatralische Formen sind“. Schon in dieser frühen „medialen Hybridisierung“ (Goethes Roman erschien im Jahr 1809) wird die traditionelle Auffassung der Bildfunktion sabotiert, indem das Sehen, der Blick auf Widerstände stößt: „Blinde Stellen sind inhärente Aspekte jedes medialen Übertragungsprozesses.“

Die Dreidimensionalität ist auch in Victor Hugos Mal- und Collage-Experimenten gegeben, die als Hybride aus Bild, Schrift, Farbverläufen und textilen Objekten daherkommen. Der Analyse des Hugo’schen Kraken als Symbol des Monströsen, Hässlichen, Unheimlichen, der als hybrides Wesen selbst von einer prekären Aura umgeben ist, räumt Naumann ein wenig zu viel Platz ein. Dafür sind ihre Ausführungen zur Schrift, deren Funktion die Konkretisierung im Abstrakten sei, umso prägnanter und griffiger. Im Gegensatz zu Hugos „Offenheit und Vielbezüglichkeit der Darstellungsformen“ möchte Gottfried Keller in seinem „Grünen Heinrich“ Malen und Schreiben deutlich voneinander getrennt wissen. Doch auch Keller beschäftigt „das komplizierte Verhältnis“ dieser ästhetischen Ausdrucksformen „zutiefst“. Durch die Erinnerung, die eine ikonische ist, thematisiert er in seinem Roman den „intermedialen Austausch zwischen den verschiedenen Darstellungsmedien“. Als besonders interessant erweisen sich Barbara Naumanns Ausführungen zu Kellers ‚Kritzeleien‘, die einen weiteren Hybriden zwischen Bild und Schrift in den Fokus stellen.

Im abschließenden Kapitel zu W. G. Sebalds „Poetik der Unschärfe“ liefert Naumann endlich eine Bild-Definition, in der es unter anderem heißt: „Bilder sind das Ergebnis von gesetzten Begrenzungen, Rahmungen und Erwartungen“. Dass Fotografien mehr sind als nur indexikalische Zeichen, dass sie größtenteils als symbolische Figurationen betrachtet werden müssen, zeigt das Sebald’sche Erzählen von „Sedimentierung, Verschiebung, Verwischung und Verlust“. Da Konflikte und Widerstände in Text und Bild thematisiert und somit vom Individuum in die Medien transferiert werden, bewegt sich Sebald an der Grenze zwischen Konstruktion und Destruktion: „Erzählen und Malen sind Prozesse des Festhaltens und Bewahrens und zugleich der Übermalung, Überschreibung und Auslöschung.“

Barbara Naumann selbst setzt bei ihrer oft erhellenden Interpretation Transfers ein, nämlich Übertragungen auf unterschiedlichen Ebenen. So wird ein Phänomen auf der Text- beziehungsweise Narrationsebene mit einem auf der Bildebene verknüpft; ferner gibt es metonymische Verbindungen, die auch am Beispiel von Fechten und Schreiben in Kellers „Grünem Heinrich“ anschaulich und überzeugend vorgeführt werden. Zudem weiß Naumann den kulturhistorischen und mythologischen Hintergrund gekonnt und wohldosiert anzubringen, um Unerkanntes, Übersehenes oder Überlesenes in neuem Licht zu inszenieren. So entsteht auch hier eine Dynamik, die keineswegs prekär, doch für das Verhältnis von Text und Bild charakteristisch ist.

Damit sich der Leser von den im Text erwähnten Bildern schnell und unkompliziert selbst ein Bild machen kann, findet sich im Anhang ein Abbildungsverzeichnis, das 23 farbige und schwarzweiße Darstellungen zeigt. Doch Vorsicht: Ein Bild sagt nicht immer mehr als tausend Worte! Nach Lektüre der „Bilderdämmerung“ ahnt man, dass Bilder, statt Klarheit zu schaffen, häufig tausend Fragen offen lassen.

Titelbild

Barbara Naumann: Bilderdämmerung. Bildkritik im Roman.
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Schwabe Verlag, Basel 2012.
164 Seiten, 16,50 EUR.
ISBN-13: 9783796528613

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