Ausdruckskünste

Ein von Marion Saxer und Julia Cloot herausgegebener Sammelband befasst sich mit dem „Phänomen Expressionismus“ in Musik, bildender Kunst, Literatur und Film

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Herbst 2010 fand im Frankfurter Haus am Dom ein Symposion zum Thema „Expressionismus heute“ statt. Die Tagung war Teil des vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain initiierten Projekts „Phänomen Expressionismus“. Diese Veranstaltungen, die Musik, bildende Kunst, Literatur und Film des Expressionismus zum Gegenstand von Diskussionen, Konzerten und Filmvorführungen machten, werden im vorliegenden – von der Musikwissenschaftlerin Marion Saxer sowie der Musik- und Literaturwissenschaftlerin Julia Cloot herausgegebenen – Sammelband aufbereitet.

Im Mittelpunkt stehen zunächst exemplarische Kunstwerke des Expressionismus: Arnold Schönbergs „Sechs kleine Klavierstücke“ op. 19 (1911), August Stramms Gedichte „Patrouille“ und „Sturmangriff“ (1914/15) sowie Franz Marcs Gemälde „Die weiße Katze“ (1912). Diese Werke werden jeweils zunächst von einem zeitgenössischen Künstler, sodann von Fachwissenschaftlern interpretiert und kommentiert. Eine Reihe weiterer Beiträge dient der vertiefenden Kontextualisierung der vorhergegangenen Einzelfallstudien, besonders auch unter dem Aspekt der Folgen des Expressionismus und seines Nachlebens bis in unsere Zeit. Quellentexte aus dem expressionistischen Jahrzehnt von Wilhelm Hausenstein („Über Expressionismus in der Malerei“) und Arnold Schering („Die expressionistische Bewegung in der Musik“) liefern quasi die O-Töne zur Publikation.

Schon vom Wort her verweist „Expressionismus“ auf das semantische Feld des „Ausdrucks“, der „Expressivität“. Wer nun von „künstlerischer Expressivität“ spricht, artikuliert, wie Martin Seel („Expressivität. Eine kleine Phänomenologie“) in seiner Analyse ausgewählter Filmszenen darlegt, die im Expressionismusbegriff eingeschlossene Dialektik: Zwar kultivierten die Expressionisten „die emotionalen Komponenten künstlerischer Kommunikation“ (Thomas Anz) und pflegten das Pathos unmittelbaren Gefühlsausdrucks, doch war die Traditionslast der Nötigung zur Stilisation, zu „ästhetischer Formbildung“ nicht einfach postulatorisch abzuwerfen.

Giselher Schubert („Arnold Schönbergs ambivalenter Expressionismus“) demonstriert die dem Expressionismus inhärente Spannung zwischen Tradition und traditionsnegierender Innovation an den „Sechs kleinen Klavierstücken“ und der Entwicklung hin zur Zwölftontechnik: „Das künstlerische Subjekt, so erweist die Entwicklung Schönbergs bis in die 1920er Jahre hinein, kann sich nicht gegen, sondern nur mit der Tradition ‚befreien‘.“ Und für diejenigen, die ihre Schwierigkeiten mit Schönbergs Atonalität haben, fügt Schubert hinzu, man müsse die „Sechs kleinen Klavierstücke“ ja nicht unbedingt „verstehen“; es reiche doch, diese Musik „zunächst einmal möglichst hingebungsvoll zu ‚erleben‘“.

Die Komponistin Isabel Mundry nähert sich August Stramms „Patrouille“ von der Warte ihres Metiers. Das Gedicht lautet so:

Patrouille

Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
berge Sträucher blättern raschlig
gellen
Tod.

Am Ende ihrer klanganalytischen Strukturuntersuchung gelangt Mundry zu der Überlegung: „Was würde ich also tun, wollte ich mit diesem Gedicht komponieren? […] Eine Vertonung schiene mir offensichtlich eine Verletzung zu sein. Doch selbst wenn ich diesen skrupulösen Gedanken ausblendete, erzeugte das Gedicht immer noch keinen anderen Klang in meiner Vorstellung als denjenigen, der ihm innewohnt. Aus diesem Grunde beließe ich dieses Sprachgebilde bei sich, so wie es ist. Im Umgang mit Patrouille von August Stramm wäre letztlich dies meine Komposition: Sie würde gar nicht erst existieren.“

Als Literaturwissenschaftlerin erkennt Susanne Komfort-Hein in „Patrouille“ und „Sturmangriff“ den Ausdruck der Negation alltagssprachlicher Kommunikabilität. Die Gedichte seien Paradigmata des „symbolischen Bündnis[ses] von Kunst und Krieg“: „August Stramms avantgardistische Wortkunst ist […] als Patrouille ins Zentrum eines unfassbaren, traumatisierenden Geschehens lesbar, das sich jeder Mitteilbarkeit entzieht; sie gibt sich zugleich als von kulturrevolutionärer Erwartung getragener Sturmangriff, in dem sich die Kunst und der Krieg im Zeichen eines Elementaren, Absoluten auf paradoxe Weise berühren.“

Von Franz Marcs „Die weiße Katze“ ließ sich Hans-Ulrich Treichel zu einem räsonnementsgesättigten Essay über „schlafende Tiere“ anregen. Die „Embryonalstellung“ ruft „Paradies- oder Erlösungsvorstellungen“ hervor und evoziert Erinnerungen an ruhiges Glück der Kreatur inmitten einer von Unruhe umstellten Kindheit: „Wenn ich Marcs weiße Katze sehe, dann sehe ich einen schwarzen Hund. Wenn der Hund geschlafen hat, dann herrschte Frieden in der Welt, dann brauchte es keine Religion und keinen Schutzengel und keine Heilsgeschichte. Dann war die Welt schon erlöst. Wenn der Hund geschlafen hat, dann war die Familie und vor allem der Vater außer Haus und ich habe am Küchentisch gesessen und gelesen. Oder Radio gehört. Aber nur ganz leise, um den Hund nicht zu wecken. Oder aber ich habe den schlafenden Hund betrachtet, der auf der Wohnküchencouch lag und bin dabei selbst auf die friedlichste und kreatürlichste Weise müde geworden.“

Auch der Kunsthistoriker Gregor Wedekind („Der Schlaf der weißen Katze. Franz Marc und der Somnambulismus der europäischen Avantgarde“) erblickt in Marcs „Weißer Katze“ eine „zufriedene Heimeligkeit […], in die sich das Tier zurückgezogen hat“. Die Nationalsozialisten nahmen an dem Bild, das Treichel sich gut als „Kitschbild“ an der Wand jeder Arztpraxis vorstellen kann, in erster Linie das „Gefällige“ wahr; und so „wurde es bei der so genannten Säuberung der deutschen Museen von der so genannten entarteten Kunst […] zusammen mit einigen anderen Tierzeichnungen Marcs von ihrem Bildersturm wegen seines Mangels an Gefährlichkeit ausgenommen und durfte in Halle bleiben.“

Wedekind gibt aber zu bedenken, dass Marcs „Weiße Katze“ just 1912, in jenem „Triumphjahr […] der expressionistischen Gegenkultur in Deutschland“ geschaffen wurde, in welchem derAlmanach des „Blauen Reiters“ der Künstlerfreunde Marc und Wassily Kandinsky entstand. Auch war 1912 das Jahr der epochalen Kölner Sonderbund-Ausstellung, sodass Grund zu der Erwartung besteht, in dem kleinen in Öl auf Pappe gemalten Bild ein visualisiertes Programm zu entdecken. Wäre es vielleicht den symbolhaften Werken der expressionistischen „Wilden“ zuzurechnen, die, so Marc, „auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören“?

Fragt man nach dem lebenden Modell für das Bild, so schließt die neuere Forschung „Marcs beide eigenen Katzen ‚Rudi‘ und ‚Hanni‘“ aus, denn sie „sind gestreift gewesen“. Mithin hat sich die Kunstgeschichtsschreibung vorerst mit einer Hypothese zu bescheiden: „[M]it ziemlicher Sicherheit ist es ein Modell aus seiner näheren Umgebung gewesen.“

Gesichert scheinen hingegen Marcs „formale Anleihen bei [Paul] Gauguin“ zu sein. Auch für diesen war das „Motiv des Wachschlafens“ von „zentraler Bedeutung für den Prozess der Rückgewinnung an Ursprünglichkeit und den Zugewinn einer neuen Spiritualität“. Inspiriert war die Suche nach einer neuen Geistigkeit von einer „Ursprünglichkeitssehnsucht“, die einen Ort der Erfüllung im Reich des „Animalischen“ imaginierte: „Der Blick aus den Augen des Tieres, die einfühlende Nachfühlung, soll […] dem Menschen eine neue Weltsicht ermöglichen, die in der Wesensschau auf die Dinge in ihrer vorkulturellen, ungeteilten Ganzheit besteht. Sie soll es ihm ermöglichen, die Natur wieder aus sich heraus zu verstehen, sie nicht an-zuschauen, sondern zu durch-schauen, wie Marc es einmal formuliert hat, als eine mediumistische Durchdringung der Materie.“

Damit der Leser dieses rückhaltlos zu empfehlenden Bandes Franz Marcs „Die weiße Katze“ in angemessener Weise ansehen kann, wird ihm eine herausklappbare Falttafel mit einer vorzüglichen Reproduktion des Gemäldes bereitgestellt. Lobend zu erwähnen ist überhaupt die illustrative Ausstattung des Buches; insbesondere erweckt die Abteilung mit dreißig Farbabbildungen optisch Gefallen.

Zum Schluss sei darauf hingewiesen, dass die Mitherausgeberin und Musikwissenschaftlerin Marion Saxer nicht nur einen exzellenten und enorm hilfreichen Einführungstext, sondern auch einen umfangreichen, hochlehrreichen Essay („Expressionismus und die Ästhetik des Selbstausdrucks in der Musik“) beigetragen hat. „Aus der historischen Perspektive“, so Saxer, „erweist sich der Expressionismus als Zuspitzung einer Entwicklung, die um 1800 ihren Ausgang nahm.“

Den Ausgangsimpuls für den Prozess zunehmender Ausdruckshaftigkeit ästhetischer Produktion hatte, so sieht es Saxer, Jean-Jacques Rousseaus Pointierung der Authentizität der „inneren Stimme“ des Individuums gegeben, die er den zivilisatorischen „Vorurteilen“ entgegenhielt. Wilhelm Heinrich Wackenroders Künstlerroman „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berlinger“ exponierte, wie angesichts der aufgerissenen „Kluft zwischen Innerem und Äußerem“ nicht nur die Objektivation unmittelbaren Seelenempfindens mittels einer „Kunstgrammatik“, sondern auch die ästhetische Artikulation des je Eigenen in unmittelbarer „Expressivität“ zum Scheitern verurteilt war.

Während E. T. A. Hoffmann im Klang der Äolsharfe ein Symbol der „Identifikation des Inneren mit der Natur“ fand, wurde bei Robert Schumann die Erfahrung des „Misslingens der Selbst-Objektivierung“ zum Stimulus der Erschließung „neue[r] musikalische[r] Ausdrucksdimensionen“. Franz Liszt hingegen formulierte mit dem Rekurs auf religiöse und programmatische Musik seine „Opposition gegen eine zu starke Tendenz der Verinnerlichung“.

Eine strenge „Abkehr vom Ausdrucksparadigma“ ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Erik Satie ist in dieser Hinsicht exemplarisch – zu beobachten. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besteht eine „Pluralität der Ansätze“, welche die Dialektik von (Selbst)Ausdruck und Formprinzip in „eine[r] unerschöpfliche[n] Fülle von Strategien“ variieren.

Titelbild

Marion Saxer / Julia Cloot (Hg.): Expressionismus in den Künsten.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2012.
347 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783487148694

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