Ein Attentat mit Folgen – Ulrich Sieg schreibt über „Geist und Gewalt“

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In seiner Rede „Deutschland und die Deutschen“ beklagte Thomas Mann 1945 die „modern-nationalistische Form deutscher Weltfremdheit, deutscher Unweltlichkeit, eines tiefsinnigen Weltungeschicks, die in früheren Zeiten zusammen mit einer Art von spießbürgerlichem Universalismus, einem Kosmopolitismus in der Nachtmütze sozusagen, das deutsche Seelenbild abgegeben hatte.“ Es ist dieser Nationalismus, den Ulrich Sieg in seiner Studie „Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus“ darstellt.

Siegs Darstellung beginnt mit der Haltung deutscher Philosophen im Reichsgründungsjahr 1871, und endet im Jahre 1945. Der Marburger Historiker zeigt, wie es zum politischen Rechtschwenk unter Bismarck, zur Dämonisierung des „inneren Feindes“ im Ersten Weltkrieg und zum „nationalen Extremismus“ in den dreißiger Jahre kam. Dabei passieren das Attentat auf Wilhelm I. 1878 durch Max Hödel, das Weimarer Nietzsche-Archiv, wo man nachdrücklich die nationale Gesinnung des Philosophen unterstrich, und verschiedene Universitäten (vor allem Jena) Revue. Anhand des Attentats auf Wilhelm I. schildert Sieg, wie ein von Bismarck erwünschter Rechtsruck zustande kam, der Geisteswissenschaftler dazu veranlasste, sich als Lobredner der bestehenden Ordnung zu präsentieren.

Sieg beruft sich dabei auf Thomas Nipperdey, „dem die Ambivalenz und der Schattierungsreichtum der deutschen Geschichte ein inneres Anliegen war.“ Wie Nipperdey in seinem lesenswerten Essay „1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte“, so weist auch Sieg auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Zeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Er setzt sich so ab gegen Zunftgenossen, die den „Unikatcharakter der deutschen Entwicklung“ unterstreichen. Die Vorstellung eines nationalen »Sonderwegs« habe zu Studien geführt, die vor allem den Ausnahmecharakter des deutschen Kaiserreiches erweisen sollten. Sieg weist darauf hin, dass die deutsche, bürgerliche Kultur „in mancher Hinsicht sogar modellhafte Züge“ trug und um 1900 internationale Besucher lockte, „die wissen wollten, wie man ziviles Engagement für die Einrichtung und Verbesserung von Kindergärten, Museen oder sozialen Stiftungen weckt“.

Gezielt wählte das preußische Kulturministerium junge, ehrgeizige Männer für die auswärtige Kulturpolitik aus und erwartete von ihnen eine positive Zukunftseinstellung. Wissenschaftler wie der Philosoph und Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken (1846-1926) ließen keine Zweifel daran, dass sich das Deutsche Reich auf einem guten Weg befinde. Allerdings stand Eucken, als Wilhelm II. aus wirtschaftlichen und militaristischen Gründen auf die vermehrte Berücksichtigung der Naturwissenschaften im Lehrplan drang, auf der anderen Seite. Er betonte den Wert der Persönlichkeitsbildung, die für ein gutes Leben unverzichtbar sei.

Siegs Buch möchte anregen, über die deutsche und europäische Geschichte nachzudenken – und über die Geschichte der Universitäten, die sich auf akademische Freiheit beriefen, aber in den Fängen der Politik verstrickt waren.

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Titelbild

Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
320 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241435

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