Vom Zerfall der Primärgruppen

Kurt Klusmeiers Erinnerungen erzählen von der Humanität im Kriege

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hochbetagte Männer, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben und sich spät entschließen, davon zu erzählen, scheint es sehr sehr viele zu geben. Hier nun aber ist ein Buch erschienen, das auf Briefen und Aufzeichnungen „von damals“ basiert, und das – vollkommen naiv oder vollkommen authentisch – aus den „Einsatzgebieten“ berichtet. Nämlich so, als ob es die Historikerdebatte und den Streit um die Verbrechen der deutschen Wehrmacht nicht gegeben hätte. Kurt Klusmeier hält in seinem „Tagebuch eines Infanteristen 1942 bis 1945“ am erinnerungsfrischen Wortlaut von damals fest, denn er sieht keinen Anlass, etwas an ihm zu ändern.

Darf man das? Wenn man es wagen möchte, dann ist es sicher klug, das fachgerecht begleiten zu lassen. Und so ist dem Tagebuch von Kurt Klusmeier (Jahrgang 1924) ein Nachwort des Historikers Klaas Voß (vom Hamburger Institut für Sozialforschung) beigegeben. Ferner flankieren einige historische Briefzeugnisse Klusmeiers Ausführungen, denn der junge Soldat war nach der Kapitulation in Breslau in Gefangenschaft geraten und in ein Arbeitslager in Transkaukasien verschleppt worden. Die Familie blieb ohne Nachricht über seinen Verbleib, bis er 1948 in sein Dorf zwischen Oldenburg und Delmenhorst zurückkehren konnte. 1949 begann er eine kaufmännische Lehre in Bremen.

Sein Buch ist erstaunliches Zeugnis und anschaulicher Geschichtsunterricht zugleich. Lakonisch, imperativ, knapp, dabei nicht ohne Witz und Überlebenskunst, berichtet Klusmeier seinen Eltern nach Hause. Eingangs schildert er die Schikanen der Ausbildung, dann die Härten des Fronteinsatzes. Als er mit seinen Kameraden im April 1943 an die Ostfront in die Gegend von Leningrad verlegt wird, ist der Krieg schon verloren, die Wehrmacht bereits auf dem Rückzug. Und obwohl Klusmeier, der Beförderungen grundsätzlich ablehnt, keinen Einblick in die strategischen Planungen des Generalstabs hat, weiß er doch genau, welches Ziel die Frontbegradigungen verfolgen, die er als Meldegänger zu übermitteln hat.

Wie schlimm es um die eigene Truppe steht, erlebt er tagtäglich. Nach dem Tod eines erfahrenen Feldwebels, der sich unsinnigen Befehlen stets widersetzte, übernehmen unerfahrene Reservisten das Kommando und führen ihre Männer ins Verderben. Auf Klusmeiers Rat hören sie dabei nicht. Die meisten dieser Neulinge bezahlen ihren Leichtsinn mit dem Leben: „Ein Militärhistoriker“, so Klaas Voß in seinem klugen Nachwort, „mag an dieser Stelle jene Phase des Krieges an der Ostfront erkennen, in der Omer Bartov und andere Forscher durch den so genannten ‚Zerfall der Primärgruppen‘ eine besondere Relevanz gesehen haben: Die häufig durch gewachsene Freundschaften, gemeinsames Training und regionale Herkunft verbundenen Kampfgruppen zerfielen in der militärischen Katastrophe vom Sommer 1944.“

Und dieser Zerfall der „Primärgruppen“ hatte unter anderem zu Folge, dass Übergriffe auf die Zivilbevölkerung und Kriegsverbrechen am Gegner sich massiv ausweiten konnten. Die entsprechende Antwort blieb nicht lange aus. Auch bei Klusmeier ist davon indirekt zu lesen: „Gegen Abend bin ich bei unserer Kompanie im Borsig-Werk, als dort gerade ein russischer 3YC-Lkw mit zwei Mann von unseren Leuten angehalten und vereinnahmt wird. Lkw und Russen nehme ich mit zum Bataillonsgefechtsstand. Die ›Tula‹-Pistole und der Lederriemen des Offiziers gehen in meinen Besitz über. Die Gefangenen erhalten von uns zu essen und Zigaretten. Ich muß die Russen jetzt zum Regimentsgefechtsstand bringen, wo sie weiter verhört werden sollen. Unser neuer Kraftfahrer übernimmt das Steuer des Lkws, ein weiterer Kamerad und ich setzen uns zu den Gefangenen auf die Ladefläche“.

Wenn hier eine Art Frontsoldaten-Ethos präsupponiert wird, dann hat das natürlich ein Geschmäckle. Aber dergleichen muss es wohl (auch) gegeben haben, folgt man etwa dem Kriegsbuch von Hermann Lenz („Neue Zeit“), das ein ähnlich stoisches Festhalten am humanistischen Erbe erkennen lässt. Lenz wie Klusmeier – der eine ein gemächlicher Schwabe, der andere ein alteingesessener Niedersachse – kamen aus einfachen Verhältnissen und standen der „neuen Zeit“, ihren Machthabern und Kriegszielen skeptisch gegenüber. Gleichwohl wäre es ihnen nicht eingefallen, den Dienst an der Waffe zu verweigern oder zu desertieren. Wobei: Hermann Lenz will nicht einen einzigen Schuss abgegeben haben, und auch der Fall Alfred Andersch („Die Kirschen der Freiheit“) wäre eigens zu erörtern.

Freilich, bei Klusmeier geht es nicht um Literatur. Weder baut er eine Alter Ego-Figur auf, analog etwa zum „Eugen Rapp“, noch distanziert er sich wie Hermann Lenz, indem er sich als Außenseiter und Ausgegrenzter in eine Lage äußeren Zwangs hineinfabuliert. Vielmehr ist es so, dass er diese Zeit nicht missen möchte.

Titelbild

Kurt Klusmeier: Von Leningrad bis Breslau. Tagebuch eines Infanteristen von 1942 bis 1945.
Mit einem Nachwort von Klaas Voß.
Belleville Verlag, München 2013.
208 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783943157338

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