Tendenziös und einseitig

Über Hartmut Rosas Entwurf einer „Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass sich die westlichen Gesellschaften in einem Zustand fortwährender Beschleunigung befinden, scheint unzweifelhaft und wird von jedem gerne bestätigt: „So wird etwa behauptet, die Geschwindigkeit der Kommunikation sei um den Faktor 107, die des Personentransports um 102 und die der Datenverarbeitung um 106 gestiegen“. Nach Rosa ist aber eben nun nicht die Technik, die als eigentlicher Motor dieses Phänomens fungiert, sondern Wettbewerb und die Verheißungsmythen einer säkularisierten Gesellschaft, die in der Bewegung ihr Heil sucht – und es nicht findet.

Folge sei erstens ein „Beschleunigungszirkel“, was bedeutet, „daß die soziale Beschleunigung in der Spätmoderne zu einem sich selbst antreibenden System geworden ist, das auf externe Antriebsmotoren überhaupt nicht mehr angewiesen ist“; kurz gesagt: Der Motor läuft heiß und heißer, in seiner Unbeeinflussbarkeit einem Perpetuum mobile nicht unähnlich, und letzten Endes allein zu dem Zweck, noch mehr Beschleunigung zu generieren.

Hieraus resultiere zweitens eine tiefgreifende Krise des Individuums, welches alle Bindungen zur Außenwelt beeinträchtige, „also unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen und zur Gesellschaft (zur sozialen Welt), zu Raum und Zeit sowie zur Natur und zur Welt unbelebter Objekte (zur objektiven Welt) und schließlich zu den Formen menschlicher Subjektivität (zur subjektiven Welt) und unseren ‚In-der-Welt-Sein‘ als solchem“.

Gutes Leben, entfremdet

Ausgangspunkt und Ziel der Überlegungen sind das, was Rosa als ‚gutes Leben‘ definiert; in nur scheinbarer Naivität besagt diese Überlegung, „daß menschliche Subjekte in ihren Handlungen und Entscheidungen stets von einer – bewußten und reflexiven oder impliziten und unartikulierten – Vorstellung des ,guten Lebens‘ geleitet sind“. Was aber ist das, ein gutes Leben: „Das Autonomie- und Freiheitsversprechen, die Überzeugung, daß die Individuen das Recht und die Chance haben sollten, ein Leben zu finden, das (‚authentisch‘) zu ihren Fähigkeiten, Bedürfnissen und Hoffnungen paßt, und die Vorstellung, daß aus ebendiesem Grund die politische Gemeinschaft demokratisch verfaßt sein sollte, um die kollektiven Rahmenbedingungen politisch zu gestalten, sind der Kern und das Zentrum der Moderne; sie bilden das Herz dessen, was Jürgen Habermas das ‚Projekt der Moderne‘ genannt hat“.

Doch die soziale Beschleunigung nun verändert den Menschen in einem Maße, die Rosa unter Verweis auf die Kritische Theorie mit dem Terminus der Selbstentfremdung zu fassen sucht und damit einen etwas verstaubten Begriff zurück in die Debatte bringen möchte; nach Rosa obliegt die Entfremdung der Tatsache, dass aufgrund der Beschleunigung gesellschaftlicher und insgesamt allgemeiner Natur jede Form von Erfahrung entwertet wird: „Wenn das Gegenteil von Entfremdung bedeutet, sich an einem Ort, mit bestimmten Menschen oder in bestimmten Handlungszusammenhängen ‚zu Hause‘ zu fühlen, dann lässt sich durchaus sagen, daß spätmoderne Subjekte sich häufig in ihrem eigenen Tun nicht (mehr) wohl bzw. ‚zu Hause‘ fühlen“.

Mit Konsequenzen, die von Rosa leider nur angedeutet werden: „Wenn wir“, erklärt er am Ende der Studie, „tatsächlich von der Zeit, vom Raum, von den Handlungen, Erfahrungen und Interaktionspartnern unseres Lebens entfremdet sein sollten, dann können wir ein Gefühl der tiefen Selbstentfremdung wohl kaum vermeiden. Denn wie Charles Taylor und viele andere in der sogenannten Kommunitarismusdebatte (aber auch schon zuvor) überzeugend dargelegt haben, entsteht ein Selbstgefühl und eine Identität just aus ebendiesen Handlungen, Erfahrungen und Beziehungen, also daraus, wie wir in Raum und Zeit und in der sozialen Welt sowie der Welt der Dinge ‚verortet‘ sind (und uns selbst ‚verorten‘). Wir stricken aus all den Handlungs- und Erfahrungsepisoden, die wir erlebt haben, aus all den uns offen stehenden Optionen, den Menschen, die wir kennen, und den Dingen, die wir erworben haben, die vielen möglichen ‚Erzählungen‘ unseres Lebens, mit deren Hilfe wir unsere Identität bestimmen können. Wenn wir uns all diese Dinge jedoch nicht mehr richtig anverwandeln können, dann ist keine der möglichen Geschichten mehr verbindlich oder überzeugend (was mit ein Grund dafür ist, daß wir uns anderer Leute Lebensgeschichten nicht mehr anhören wollen)“.

Nicht stichhaltig

Folge sei die Depression, der Burnout; und jeder Blick in die „Apotheken-Rundschauen“ zeigt dem Unbedarften ja, dass da etwas dran sein muss – allein, es ist nicht recht stichhaltig: Rosas Argumentation bewegt sich nämlich gefährlich nah an dem, was ich als konservativ motiviertes Vergleichsdiktum bezeichnen würde: Rosa verallgemeinert sich als Vertreter der 1964 Geborenen in unstatthafter Weise und leitet so aus der Beschleunigung allein eine Überforderung ab, die eben er verspürt, aber keine substantielle Mutation, für die er wiederum zu spät geboren ist: Für Rosa wird die Zeit beispielsweise selbst für Argumente zu knapp, was er nun sentimental beklagt, aber nicht darauf hinweist, dass sich mit der Beschleunigung der Informationsverbreitung eben auch die Informationen selbst und vor allem die Empfänger verändern – zumindest theoretisch: Man passt sich an und im Falle der Beschleunigung scheint es doch am sinnvollsten zu sein, seinerseits schneller zu werden, nicht aber sein Selbst umzustrukturieren.

Quantität allein scheint demnach nicht ausreichend, um maßgebliche Entitäten wie etwa die Selbstentfremdung hinreichend zu erklären – es ist einfach nicht überzeugend, allein aus der zunehmenden Beschleunigung der Welt den Verlust der Biografie und letztlich der Authentizität abzuleiten; viel eher würde man doch davon ausgehen, dass sich die eigene Biografie eben aufgrund der überall anziehenden Geschwindigkeit nun erst recht als ruhender Pol inmitten der Hatz etabliert: Die Beobachtung Rosas, man wolle anderer Leute Lebensgeschichte nicht mehr hören, scheint mir zudem rein privater Natur – auf jeden Fall widerspricht sie nicht nur meiner Beobachtung, sondern beispielsweise auch dem herrschenden Boom der biografischen Literatur. Oder, dies als zweite Möglichkeit, man passt sich eben dem Tempo an, indem man seinen Lebensentwurf zu einer entweder schnellen oder aber bewusst kleinteiligen Biografie verändert.

Klagen und ein Ausweg

Letztlich ist es das alte, wohlbekannte Argument vom Ende der Welt, das diesmal aber wirklich da ist, sagt jedenfalls der Forscher: „In diesem Sinn“, sagt Rosa, „können wir meines Erachtens von einem ‚Ende der Geschichte‘ sprechen“. Wenn Max Frisch wiederum in seinem Tagebuch ironischen Sinns darüber sinniert, dass die Eisenbahn aufgrund ihrer enormen Geschwindigkeit eben die gemütliche, dräuende Atmosphäre zerstört, die nötig ist, um sich endlose Darstellungen im Sinne Lew N. Tolstois zu erzählen, dann bedeutet dies vielleicht das Ende des russischen Epos, aber nicht der Literatur – obgleich dies von den Zeitzeugen durchaus anders gesehen werden kann, darf und vielleicht auch muss: Immerhin steckt jeder tief in den Diskursen seiner Zeit, und das Relativieren klingt ja nach einem hübschen Zeitvertreib, kann aber, wird es übermäßig betrieben, durchaus zu Lähmungserscheinungen führen, da die Abstraktion des eigenen Daseins gefährlich ist und demnach vom gesunden Menschenverstand nicht über Gebühr betrieben wird – als sinnvolle Selbstbegrenzung.

Allein, in einer soziologischen Untersuchung gehört eben dieses Relativieren zum Handwerkszeug: Ganz kurz, in einem Satz (der so versteckt ist, dass ich ihn trotz mehrmaligen Durchblätterns nicht mehr habe finden können), geht Hartmut Rosa in seiner Erzählung vom Ende der Welt auf ‚die‘ Jugendlichen ein, die sich anscheinend sehr gut in der beschleunigten Welt zurechtfinden, doch dann lässt er diese interessante Eröffnung einer denkbaren geistigen Mutation wieder fallen und wendet sich der Klage zu: über die Hetze durch iPod und Rechner, Kaffeemaschine und CNN, über diese modernen, nein spätmodernen Krankheiten sowieso – doch wer vermag es schon zu sagen, ob die Menschen heute unter mehr Krankheiten leiden als noch vor hundert Jahren? Sie leiden unter anderen Erkrankungen, da sich die Symptome verschoben haben, aber Krankheiten hatten sie alle, auch vor hundert Jahren.

Wenn Rosa am Ende seiner Darstellung eine neue Ethik im Sinne eines neuen Bewusstseins für Langsamkeit, Gemächlichkeit und überhaupt der Muße andeutet, hierzu religiöse und romantische Systeme beschwörend, dann bewegt er sich sehr nah, gefährlich nah!, am Niveau der Leitartikel des „Focus“. Was ihm durchaus bewusst ist, erklärt er doch am Ende, „eine einseitige und tendenziöse Darstellung des spätmodernen Lebens präsentiert“ zu haben – man wünscht sich, er hätte das Tendenziöse zur Abwechslung mal unaufgeregt und abseits der ohnehin schon durchgekauten Klischees von der Hatz des spätmodernen Lebens verwendet.

Titelbild

Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung. Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
154 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518585962

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