Ein leuchtendes Mosaik

Eine von Klemens Renoldner herausgegebene Anthologie enthüllt die Faszination von Stefan Zweigs Werk

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefan Zweig wurde schon zu Lebzeiten von Schriftstellerkollegen geschmäht und angefeindet, sein Œuvre wurde von vielen von ihnen unterschätzt und sogar belächelt. In einer exzellenten Analyse untersucht die US-amerikanische Germanistin Vivian Liska die wichtigsten Positionen der Zweig-Kritiker (Vivian Liska: A Spectral Mirror Image. Stefan Zweig and his Critics. In: Stefan Zweig Reconsidered. New Perspectives on his Literary and Biographical Writings. Ed. by Mark H. Gelber. Tübingen 2007, S. 203-217). Ausgehend von der Diagnose, dass Zweig der „bestgehasste“ Autor seiner Zeit gewesen sei, fasst die Autorin die Urteile mehrerer illustren Kollegen von Zweig zusammen: So lästerte Karl Kraus angesichts von Zweigs schriftstellerischem Riesenerfolg über den „Erwerbszweig“, und Leopold von Andrian bezeichnete Zweigs Schriften als „ein völliges Nichts“. Weitere stark abwertende Urteile über Zweigs Werke, die Liska anführt, sind: „Speckschwarte“, „manierierte Süßlichkeit“, „kandierte Lesefrüchte“ und „Sachertorte mit Schlagobers“. Liska gelingt es, die „Ambiguitäten und Inkonsistenzen“ dieser negativen Kommentare und Meinungen aufzuweisen und die oft sehr ungerechte Kritik zu entkräften.

Einen anderen Weg geht Klemens Renoldner, ein langjähriger Stefan-Zweig-Forscher und Direktor des „Stefan Zweig Centre“ an der Universität Salzburg, in seinem Nachwort zur gerade erschienenen, von ihm herausgegebenen Stefan-Zweig-Anthologie „Stefan Zweig ,Ich habe das Bedürfnis nach Freunden‘. Erzählungen, Essays und unbekannte Texte“. Renoldner stellt die Frage voran: „Was fasziniert uns an Stefan Zweig?“ und beantwortet sie in einzelnen Schritten, wobei er jeweils eine Facette von Zweigs Person und Werk beleuchtet. Sein Fazit etwa über Zweigs Novellen lautet: Sie „gehören zum Besten der österreichischen Erzählkunst im 20. Jahrhundert.“ Im Anschluss an einen Kommentar von Zweigs erster Ehefrau Friderike, die Zweig geschrieben hatte: „Dein Schrifttum ist ja nur ein Drittel Deines Selbst, und auch das Wesentliche daraus für die Deutung der anderen zwei Drittel hat niemand erfaßt“ (18. Juli 1930), macht Renoldner auf Zweigs Bedeutung und auf die spezifische Ausrichtung seines Talents und seiner Aktivitäten aufmerksam: „Wie kein anderer Autor seiner Zeit versuchte Zweig im Dialog, durch Begegnungen, Freundschaften und in tausenden von Briefen die geistige und kulturelle Identität des Kontinents Europa zu erkunden und zu bekräftigen.“

Das von Renoldner zusammengestellte Lesebuch ermöglicht nun den Versuch, in Stefan Zweigs dichterischen und denkerischen Kosmos einzutauchen. Es ist ein eleganter Band, der Zweigs Urbanität, Eleganz und Esprit, aber auch dessen Wärme und enorme Leidenschaftlichkeit zum Ausdruck bringt. Mehrere Fotos von Zweig – darunter solche mit Freunden wie Josef Roth, Paul Valéry, Aldous Huxley, Hermann Bahr und Romain Rolland – geben die Atmosphäre von Freundschaft, intellektueller Rastlosigkeit, Kosmopolitismus und tiefer Menschlichkeit wieder, die Zweigs Werk auszeichnet. Neben bekannten Novellen wie „Angst“, „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“, „Verwirrung der Gefühle“ oder der weltberühmten „Schachnovelle“ enthält der Band auch wenig gelesene Erzählungen wie „Vergessene Träume“ oder „Die spät bezahlte Schuld“, die laut Renoldner „selbst den meisten Zweig-Freunden kaum bekannt“ sind. Hier erleben wir sowohl das lyrische Talent Zweigs als auch seine außergewöhnliche Begabung, dramatische Höhen und Tiefen zu konstruieren und zu präsentieren.

„Vergessene Träume“ – eine von Zweig in der „Berliner Zeitung“ bereits 1900 veröffentlichte Erzählung, ist genauso unmissverständlich ein zweigscher Text wie „Die spät bezahlte Schuld“ aus dem Spätwerk und dem brasilianischen Nachlass. Eine Leseprobe aus „Vergessene Träume“ des jungen Wieners Stefan Zweig darf dies illustrieren: „Die Villa lag hart am Meer. In den stillen, dämmerreichen Piniengängen atmete die satte Kraft der salzhältigen Seeluft und eine leichte beständige Brise spielte um die Orangenbäume und streifte hie und da, wie mit vorsichtigen Fingern, eine farbenbunte Blüte herab. Die sonnenumglänzten Fernen, Hügel, aus denen zierliche Häuser wie weiße Perlen hervorblitzten, ein meilenweiter Leuchtturm, der einer Kerze gleich emporschoss, alles schimmerte in scharfen, abgegrenzten Konturen und war, ein leuchtendes Mosaik, in den tiefblauen Azur des Äthers eingesenkt.“

Der zweite Teil des Buches, der fast zwei Drittel des Bandes ausmacht, ist eine wahre „Schatztruhe“, wie schon der Klappentext verspricht. Er enthält unter anderem Essays, Aufsätze, Erinnerungen an Zeitgenossen wie Theodor Herzl, Otto Soyka, Hermann Bahr, Otto Weininger, Arthur Schnitzler, Lou Andreas-Salomé sowie Zweigs Trauerreden anlässlich des Todes der verehrten und geliebten Freunde Joseph Roth und Sigmund Freud. Viele dieser in verschiedenen Zeitungen erschienenen Texte wie „Abschied von Wien – Erwin Rieger und Paul Wertheimer“ (Neue Freie Presse, Wien, 28. August 1921) oder „Richard Strauss und Wien“ (Neue Freie Presse, Wien, 09. Juni 1924) wurden noch nie in einer Anthologie veröffentlicht. Dazu schreibt Renoldner in seinem Nachwort: „Faszinierend an diesem Autor ist auch dies: Zweig versuchte die wesentlichen geistigen Strömungen seiner Zeit kennenzulernen und zu verarbeiten. Er war ein wacher, sensibler Beobachter. Dafür entwickelte er ein dichtes Netzwerk, in dem bedeutende Künstler, Intellektuelle und Politiker seiner Zeit mehr oder weniger eng miteinander verbunden waren“.

In diesen Texten erleben wir Zweig als Kulturhistoriker, Literatur- und Zeitkritiker – Rollen, die von der Zweig-Forschung bisher selten untersucht wurden. Überraschen könnte angesichts der Einseitigkeit des tradierten Bildes von Stefan Zweig insbesondere dessen Satire „Die zehn Wege zum deutschen Ruhm“. Dieser Text erschien in „Der Ruf“. (Karnevalsausgabe. Wien/Leipzig, Februar 1912) und wurde von Renoldner nun wieder veröffentlicht. In der Tradition der besten Kritiker und Satiriker formuliert Zweig, für den die deutsche Kritik „nicht kritisch, sondern sentimental ist“, zehn humoristische, aber von tiefer Sorge um die deutsche Literatur getragene Ratschläge, wie man als deutscher Schriftsteller zum Ruhm gelangen kann. Zwei davon seien zitiert: „Der erste: Pflege deinen Körper, damit du alt wirst. Der deutsche Ruhm wächst nicht aus Werken, sondern aus Jubiläen“. Und „Der dritte: Sei allgegenwärtig in deinen Veröffentlichungen. Das Odol-Prinzip muss das deine sein, man muss dir nicht entfliehen können.“

In seinem Artikel „Peter Altenberg und Wien“ (veröffentlicht in „Stimmen der Gegenwart, Monatsschrift für moderne Litteratur [sic] und Kritik, Eberswalde, Februar 1901), fängt Zweig wiederum auf wenigen Seiten die „geheimnisvollen Emanationen der Psyche“, „die nervösen Schwingungen“ und die „Unterströmungen“ sowie die „Ekstasen“ der Seele ein, die das Wesen von Altenbergs eigenwilliger Prosa und zugleich der „nervösen Romantik“ (Hermann Bahr) der Wiener Moderne ausmachen. Bei allem Lyrismus, in den Zweigs einfühlsame Besprechung der Skizzen Peter Altenbergs eingebettet ist, lässt sich auch der scharfsinnige und urteilssichere Kritiker Zweig erkennen: Das „Wellenschlagen in die Meerestiefen unsrer Seelen“ hindert ihn nicht daran, den „harten Realismus“ des Lebens und die „Flut des Alltags“, die „rücksichtslos“ unsere Seelenbewegungen „mitschwemmt“, im Auge zu behalten. Zweig stellt Kriterien für literarischen „Reiz“ und „Subtilität“ auf, als deren höchste Stufe er die „Einfachheit“ erklärt, und kritisiert mit unerwarteter Herbheit, aber großer Präzision Altenbergs Epigonen und deren Bemühungen, „Altenbergskizzen“ zu verfassen, die jedoch bei ihnen „zur Schablone […] erkalten.“

Polternde Kritik ist nicht Zweigs Sache – er ist ein Meister der feinen Unterschiede, der sanften und gewaltlosen, aber umso wirksameren, da tiefgründigen literarischen Wertung, wie auch seine Analyse von Altenbergs „Extrakten des Lebens“ (so nannte Altenberg selbst seine Skizzen) zeigt. Zweigs Aufmerksamkeit entgeht es nicht, wenn Altenberg Altes wiederholt oder Neues bietet, er ist in der Lage, das Charakteristische, „den Extrakt“ der Dichtung Altenbergs zu erfassen und Altenbergs „Hauptfehler“ mit einem knappen, souveränen Strich aufzuzeigen.

Stefan Zweig schließt seine Besprechung von Altenbergs Skizzen mit Betrachtungen über die „ehrliche, panegyrische Begeisterung“ eines Mädchens ab, hervorgerufen durch Altenbergs Skizzenband „Was der Tag mir zuträgt“. Die Skizze dieses Mädchens mit dem Titel „Warum sie dieses Dichters Werke so sehr liebte“ setzt er den stimmungslosen, kalten, von Schriftstellern verfassten Nachahmungen Altenbergs entgegen und begründet sein Urteil: „Die Skizze ist vielleicht nur schön, weil sie jedenfalls auch erlebt ist. Aber das breitet so ein mildes, vertrauensseliges Licht über das Buch, dass man es schon mit geheimer Sympathie liest und sich gerne von ihm gefangen nehmen lässt…“

Ein solches „mildes, vertrauensseliges“ und zutiefst, sympathisches Licht – das über die Literatur vermittelte „Bedürfnis nach Freunden“ und nach dem gemeinsamen Erleben von Literatur und Kultur – liegt auch über dem Band „Ich habe das Bedürfnis nach Freunden“ und wird ihm und dem Schriftsteller neue Freunde gewinnen.

Titelbild

Stefan Zweig: Ich habe das Bedürfnis nach Freunden. Erzählungen, Reiseberichte, Essays und unbekannte Texte.
Herausgegeben von Klemens Renoldner.
Styria Verlag, Graz 2013.
528 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783222133725

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