Plädoyer für eine europäische Solidarität
Jürgen Habermas veröffentlicht mit „Im Sog der Technokratie“ den letzten Band seiner „Kleinen Politischen Schriften“
Von Dieter Kaltwasser
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre entstanden die ersten Beiträge der in der Reihe „Kleine Politische Schriften“ versammelten Texte von Jürgen Habermas, während die Reihe selbst erst 1980 eröffnet wurde und nun in zwölf Bänden vorliegt. Die Texte dürfen, so Habermas, als „Versuch(e) der uneingeladenen argumentativen Beihilfe zum fortlaufenden Prozess der öffentlichen Meinungsbildung“ verstanden werden. Er wollte, so schreibt er, mit der Wahl des Reihentitels eine Rollentrennung bezeichnen, der zwischen den Interventionen oder „Eingriffen“ eines Intellektuellen und der wissenschaftlichen Tätigkeit eines Professors. Den roten Faden, so der Philosoph, bilden die „Aktualität der jeweiligen Themen und die öffentliche Präsenz der vorgestellten Zeitgenossen“.
Zwei ähnliche Aufsatzsammlungen habe er wegen ihres wissenschaftlichen Charakters der titelgebenden Abhandlungen gesondert in der edition suhrkamp, jedoch nicht in der Reihe publiziert: „Die Postnationale Konstellation“ und „Zur Verfassung Europas“. Er hat jedenfalls mit „Im Sog der Technokratie“ das Dutzend vollgemacht und den letzten Band vorgelegt, was er jedoch nicht als Abschluss, sondern lediglich als Beendigung einer Reihe interpretiert wissen möchte. Dies lässt für die Zukunft darauf hoffen, dass Jürgen Habermas weiterhin auch als ein in die politischen und gesellschaftlichen Zeitläufte „eingreifender“ Intellektueller wirken wird.
Versammelt sind in diesem letzten Bändchen Abhandlungen, Reden, Diskussionsbeiträge und Porträts aus den Jahren 2009 bis 2013, in der seine philosophisch-politischen Interventionen zu Europa den Schwerpunkt bilden. Das europapolitische Thema wird ergänzt durch über die Tagesaktualität hinausweisende Beiträge. Die ersten drei Texte betreffen das Verhältnis von Juden und Deutschen, und greifen damit ein Thema auf, so Habermas, „das den empfindlichsten Nerv unseres politischen Selbstverständnisses berührt“. Der letzte Abschnitt des Bandes enthält Dank- und Lobreden, unter anderem auf Ralf Dahrendorf, Michael Tomasello und Jan Philipp Reemtsma.
Der titelgebende Beitrag versteht sich als „Plädoyer für europäische Solidarität“ gegen den Primat entfesselter Finanzmärkte, dem ein „Exekutivföderalismus“ der europäischen Staaten sich auszuliefern im Begriff sei. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hatte 2011 die „Ratspolitik“ eines demokratieschwachen Europas in seiner Streitschrift „Sanftes Monster Brüssel“ mit den Worten bezeichnet: „Politik hinter verschlossenen Türen. Geheimniskrämerei. Kabinettspolitik.“ Die schon lange anhaltende Euro-Krise sowie die halbherzigen, oft populistischen Reaktionen der Politik ließen ein Misslingen des europäischen Projekts derzeit als reale Möglichkeit erscheinen, so formulierte es Jürgen Habermas bereits im Jahre 2011 in seinem Essay „Zur Verfassung Europas“. Er wendete sich auch dort gegen eine seit dem Scheitern des Verfassungsentwurfs im Jahr 2004 sich verselbstständigende postdemokratische Macht des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs im Verbund mit einem „Diktat der Märkte“.
Die Verwendung des Begriffs „Postdemokratie“ durch Jürgen Habermas in seinem Essayband „Zur Verfassung Europas“ wie auch „Im Sog der Technokratie“ weist auf das Buch „Postdemokratie“ von Colin Crouch hin, das im Jahre 2003 eine subtile Diagnose des demokratischen status quo der europäischen Staaten lieferte und zu dem Ergebnis gelangte, dass die demokratischen Institutionen nur noch formal im politischen System existieren und die Bürger der europäischen Länder eine weitgehend apathische Rolle spielen. Im Hintergrund solcher politischen Inszenierung wird Politik hinter verschlossenen Türen gemacht, und zwar von den gewählten Regierungen im Verbund mit Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft und des Finanzsektors vertreten. Sieht man sich die gegenwärtige Politik an, beispielsweise in Bezug auf die hochverschuldeten Länder wie Griechenland oder Spanien, und die Euro-Rettungsmaßnahmen, so können Crouchs Begriff der „Postdemokratie“ und Habermas’ „Exekutivföderalismus“ für das Agieren der europäischen Regierungen nicht treffender formuliert werden, da durch einen „technokratischen Sog“ eine zerrissene Europäische Union „an der Schwelle zur Solidarität“ verharrt, die sie momentan nicht überschreiten will oder kann. Der Preis dieser „technokratischen Lösung“ einer kleinen Funktionselite bestehe darin, dass die Souveränitätsrechte nun allein von den Regierungschefs des Europäischen Rates vertreten würden. Diese seien allerdings nicht, so betont Habermas, von den europäischen Bürgern in Ihrer Gesamtheit gewählt worden. Die Demokratie bleibe auf der Strecke.
Inzwischen hat sich die Krise rund um den „Tatort Euro“, um den neuen Buchtitel Joachim Starbattys zu verwenden, noch verschärft. Der emeritierte Tübinger Professor hatte bereit durch seine, allerdings gescheiterten, Verfassungsklagen gegen die Einführung des Euro und der Euro-Rettungsprogramme Berühmtheit erlangt und zieht nun für seine neue Partei „Alternative für Deutschland“ in den Bundestagswahlkampf. Starbatty schlägt vor, dass die hochverschuldeten „Nehmerländer“ den Euro verlassen „dürfen“ und nur die starken „Geberländer“ in der Eurozone verbleiben. Untergründig sardonisch wünscht Habermas in seinem aktuellen Beitrag „Demokratie oder Kapitalismus?“ der neuen Partei sogar Erfolg, da dieser die anderen Parteien dazu zwingen müsste, ihre „europolitischen Tarnkappen abzustreifen“ und „Merkels clever-böses Spiel der Dethematisierung“ der Europapolitik nicht länger mitzuspielen. Die rein technokratische Konsolidierungspolitik der EU-Regierungen habe das Ziel einer europäischen Wirtschaftsverfassung, die der demokratischen Willensbildung der europäischen Bevölkerung weitgehend entzogen bleibe. Es würden, so Habermas, „Weichenstellungen“ vorgenommen, die „von der Meinungs- und Willensbildung in den nationalen Öffentlichkeiten und Parlamenten entkoppelt“ seien. Mit ihrem postdemokratischen „Exekutivföderalismus“ schreibe eine Funktionselite den nationalen Parlamenten vor, was zu tun sei und was zu unterbleiben habe. Das könne allerdings nur zum Scheitern verurteilt sein. Deshalb müssten die europäischen Institutionen umgebaut und demokratisch „vertieft“ werden. Denn letztlich gebe es, so Habermas mit seiner „klotzigen These“ zu Beginn seines Diskussionsbeitrags auf dem Deutschen Juristentag 2012, nur die Alternative, entweder mit der Preisgabe des Euro „das Nachkriegsprojekt irreparabel zu beschädigen oder die politische Union“ – allerdings zunächst nur im Euro-Raum – „so weit zu vertiefen, dass Transfers und die Vergemeinschaftung von Schulden über nationale Grenzen hinweg legitimiert werden können.“
Wenn man die Währungsunion retten wolle, dann müssten mittels einer kooperativen, solidarischen Perspektive Anstrengungen unternommen werden, um Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in allen Ländern der Euro-Zone zu fördern. Dies verlange von der Bundesrepublik auch, „im längerfristigen Eigeninteresse kurz- und mittelfristig negative Umverteilungseffekte in Kauf zu nehmen – das wäre ein exemplarischer Fall von politischer Solidarität“. Dem Europäischen Rat müsse, so der Starnberger Philosoph, paritätisch ein in seinen Rechten gestärktes Europäisches Parlament an die Seite gestellt werden; die Chancen für ein demokratisch verfasstes Europa würden größer durch die Unterordnung der Nationalstaaten unter supranationales EU-Recht, die Einzelstaaten teilten sich die verfassungsgebende Gewalt des supranationalen Gemeinwesens zusammen mit der Gesamtheit der Unionsbürger.
In seiner großen Rede anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises im Dezember 2012, die im neuen Band schon im ersten Abschnitt wiederzufinden ist, spricht Jürgen Habermas vom „Anblick des jämmerlichen Aufblühens nationaler Egoismen im Zuge der Banken-, Finanz- und Staatsschuldenkrise“. Heinrich Heine schrieb 1828 während einer Reise nach Genua die Worte: „Täglich verschwinden mehr und mehr die törichten Nationalvorurteile, alle schroffen Besonderheiten gehen unter in der Allgemeinheit der europäischen Zivilisation, es gibt jetzt in Europa keine Nationen mehr, sondern nur Parteien, und es ist ein wundersamer Anblick, wie diese […] trotz der vielen Sprachverschiedenheiten sich sehr gut verstehen.“ Diese Worte sind nun fast 185 Jahre alt. Ist es nicht Zeit, endlich aus Europa ein überstaatliches Gemeinwesen zu machen?
Jürgen Habermas hat seine Kleinen Politischen Schriften mit dem nun vorliegenden zwölften Band abgeschlossen. Auch in diesen „Interventionen“ des Philosophen Jürgen Habermas zeigen sich Größe und Format dieses solitären Intellektuellen. Nicht nur unser Land bedarf auch in Zukunft seiner kritischen Eingriffe in die Tagesaktualität ebenso wie der Fortsetzung seiner großen philosophischen Arbeit.
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