Bambus, Vogel und Schmerz
John Berger sucht den Sinn und das Geheimnis im Leben
Von Georg Patzer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Es gibt zwei Arten zu erzählen. Eine, die von dem Unsichtbaren und Verborgenen handelt, und eine andere, die etwas aufdecken und das Offenbarte weitergeben möchte. Und ich will sie – in meiner ganz speziellen auf das Physische zielenden Deutung – introvertiert und extrovertiert nennen.“ John Berger, der englische Maler, Kunstkritiker und Schriftsteller, der seit über 40 Jahren in einem französischen Bergdorf lebt, neigt ohne Zweifel der ersten Art zu: Das Geheimnisvolle reizt ihn, nicht das offen Ausgesprochene, das flirrend Atmosphärische, nicht das Dokumentarische.
Auch sein neuestes Buch spricht die Dinge eher auf Umwegen aus. Am schönsten dann, wenn er (die) Geschichten erzählt, die zu den Gedanken, Erfahrungen, Erlebnissen der Protagonisten gehören. Zum Beispiel von dem Ehepaar, das er regelmäßig in einem Schwimmbad trifft. Er beobachtet, dass der Ehemann ihr immer aus dem Becken hilft. Auch hinein kommt sie nur mit seiner Hilfe, und Berger sieht, dass „ihr Körper beim Gehen wie angespannt war – als gehe sie auf glühenden Kohlen.“ Sie hat, wie er erfährt, Polyarthritis, und er denkt an Kambodscha, wo sie herstammen: „Ich fand es unmöglich, den Schmerz, dessen offensichtlicher Erbe ihr Körper war, von dem Schmerz der Geschichte ihres Landes zu trennen.“ Er schenkt ihr schließlich einen wertvollen Pinsel. Ein paar Monate später gibt sie ihm das Bild einer Bambusstaude mit einer Blaumeise, mit Tusche auf Reispapier gemalt: „Während der Bambus zu fließen scheint, wirkt der Vogel wie gestickt, als ob man die Farbe mit einem nadelspitzen Pinsel aufgetragen hätte.“ Ihm geht auf, „wie heimatlos dieser Vogel ist.“ Irgendwann sieht er in einem illustrierten Wörterbuch das Bild einer Blaumeise und erkennt, dass es die Vorlage gewesen ist: „Und wieder verstand ich etwas mehr über Heimatlosigkeit.“
Ineinander verflochten, nachdenklich, sanft und politisch sind die Geschichten oft, die Berger erzählt. Eine weitere Dimension bekommen sie durch die eingestreuten Zitate aus dem Werk von Baruch Spinoza, Spitzname Bento, der selbst auch gezeichnet hat. Während sie die Welt theoretisch zu fassen versuchen, erzählen Bergers Geschichten unmittelbar und vielschichtig von seinen Versuchen, zu zeichnen oder zu erzählen, von der Kontur der Gegenstände, von der Ähnlichkeit zwischen Motorradfahren und Zeichnen. Von dem verschwörerischen Blick der Gaukler auf einem Gemälde von Velázquez und einer Kreuzigungsszene von Antonello, in der er die „luzide sizilianische Tradition“ wahrnimmt, „die Dinge selbst zum Maß zu nehmen – ohne Sentimentalität oder Schmeichelei“. Von den Gesichtern der Mächtigen, die „angestrengt und beinah leer sind“. Vom Alltag, der immer auch ein Geheimnis in sich birgt, man muss es nur wahrnehmen und dann wiedergeben. Was nicht immer gelingt, einmal schreibt er, als er ein Gemälde abzeichnet: „Ich mache nicht zweimal den gleichen Fehler. Aber mir unterlaufen andere. Ich zeichne, korrigiere, zeichne.“
Sein schmales Buch ist reich an Eindrücken und Empfindungen, durchdrungen von einer taghellen Mystik und sensiblen Beobachtungen. Auch viele Zeichnungen wurden mit abgedruckt, sodass man seinen direkten und kräftigen Strich sehen kann, seine tastenden Versuche, den Sinn in den Dingen zu finden, die Gegenstände zu umschmeicheln, sie sich durch Erzählen und Wiedergeben anzueignen. Immer wieder neu.
|
||