Hochstapler im Spiegel

Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ liegen in einer kommentierten Ausgabe vor

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine der meistgelesenen fiktiven Autobiografien des 20. Jahrhunderts liegt nun, sehr ausführlich kommentiert, im Rahmen der Großen Frankfurter Thomas-Mann-Werkausgabe vor – der gut vierhundertseitige Textband wird von einem 900 Seiten umfassenden Kommentarband begleitet, der kaum noch Fragen offen lässt.

Mann hatte insgesamt über vier Jahrzehnte lang, also fast über seine gesamte Schaffenszeit hinweg, an den Memoiren des oberflächlichen jungen Schönlings gearbeitet – und war doch am Ende seines Lebens weit davon entfernt, den auf drei Teile angelegten Roman zu vollenden. Nach einer frühen Entstehungsphase noch vor dem Ersten Weltkrieg, die bereits die seit den Verfilmungen legendäre Musterungsszene mit umfasste, nahm sich Thomas Mann gegen Ende seines Lebens das Manuskript zusammen mit seinem umfangreichen Materialienkonvolut nochmals vor und ergänzte über 300 Druckseiten.

Das ungebildete, aber sich seiner Wirkung auf die Menschen sehr wohl bewusste Glückskind, Sohn eines pleite gegangenen Schaumweinfabrikanten aus dem Rheingau, beginnt seine berufliche Laufbahn als Hotelpage, um dann eine Grand Tour in der Maske eines Adeligen anzutreten. Der bürgerlich-bekenntnishaften Autobiografie, die von Bildung und Liebe, von Gewissensnöten und Kunstsinn handelt, stellte Mann eine der Moderne gemäße Parodie gegenüber, die einen vielgeliebten, aber wenig ehrgeizigen und wenig entschiedenen Dandy modelliert, der erst als über vierzigjähriger Ich-Erzähler in der Retrospektive Zweifel an sich und der Welt bekommt. Bis dahin war ihm allenfalls an der Zurichtung seines Körpers zur Bezirzung seiner Mitmenschen gelegen. Als Narziss, der sich in diesen Mitmenschen und ihren Wünschen spiegelt, verfügt er über keine eigene Identität, seine menschliche Substanz bleibt ungreifbar. Allen unangenehmen Seiten des Lebens entzieht er sich, echte Bindungen geht er nicht ein. Seine Manieren und die Zeitlosigkeit, die ihm anhaftet, seine Fähigkeit zur Dissimulatio statt zum echten Gefühl und viel Weltmännisches – dies alles ist der Kultur des Adels entlehnt, und folgerichtig scheint ihm der Identitätstausch mit einem Marquis die Rolle seines Lebens zu bieten.

Diese Steilvorlage war im späten Kaiserreich so aktuell wie noch in der restaurativen Atmosphäre der frühen Adenauer-Ära. Als 1954, ein Jahr vor seinem Tod, das bis dahin entstandene Romanmanuskript publiziert wurde, war Mann längst ein Weltstar. Sein letzter Roman schien, anders als das übrige Spätwerk, spielerisch und heiter zu sein. Kritik und Leser nahmen ihn gleichermaßen positiv auf. Die Heiterkeit seines Nihilismus wollte man wohl nicht wahrhaben. Es ist trotz vieler Goethe-Anspielungen doch immerhin die personifizierte Geistlosigkeit, die hier zu Wort kommt und von ihren Erfolgen berichtet.

Der von Thomas Sprecher und Monica Bussmann besorgte sehr umfangreiche Stellenkommentar weist gesicherte oder auch nur mögliche Prätexte zuhauf nach, doch steht die lebenslang erprobte Souveränität des Autors in der Montage von angelesenen Wissenspartikeln im Kontrast zu der gänzlich ungelehrten Glätte des für ein großes Publikum schreibenden Protagonisten-Erzählers. Der Kontrast manifestiert sich vor allem in den früh entstandenen Romanabschnitten in einer bis zur Lächerlichkeit hyperbolisch-euphemisierenden Sprache. Sie bereitet dem Leser von heute vielleicht noch das allergrößte Vergnügen.

Die Herausgeber werden nicht müde, Querverweise zu Gesamtwerk und Leben Thomas Manns anzubringen – die Leser profitieren von dieser Akribie ungemein. Das 1907 entstandene feuilletonistische Selbstporträt Manns „Im Spiegel“ ist in der Tat eine „Vorstudie“ zum „Krull“: Der Jungautor stellt sich darin als dandyesker Hochstapler vor, der wenig bürgerlichen Fleiß vorzuweisen habe, dennoch (oder gerade deshalb) erfolgreich sei und sogar eine „Prinzessin“ seine Frau nennen dürfe. Dass Mann die Memoiren der zeitgenössischen Hochstapler Georges Manolescu (alias Fürst Lahovary) und Harry Domela („Der falsche Prinz“) gelesen hatte, ist seit langem bekannt. Manns lange gehegtes, aber auch lange aufgeschobenes Vorhaben sagt manches über das Selbstverständnis des so „repräsentativen“ deutschsprachigen Autors des 20. Jahrhunderts aus.

Der „Krull“ sollte Manns letzter Roman werden. An ihm lässt sich seine Arbeitsweise besonders gut studieren, denn die Materialien und Manuskripte sind, wie der Kommentarband nachweist, erhalten. Hunderte von Zeitungsartikeln, Texten und Bildern hatte Mann gesammelt und teils auch für den Roman genutzt. Die umfangreichen Dossiers, die heute noch im Thomas-Mann-Archiv Zürich (doch leider nicht frei zugänglich als Digitalisate) vorliegen, haben Titel wie „Elegante Festlichkeit“ oder „Hotel. Reise (Dandy. Gartenarbeit). Heimat. Zuchthausaufseher“. Hinzu kommen zahlreiche handschriftliche Notizen, die Exzerpte und Ideen Manns sammeln. Aus einer solchen Notiz geht hervor, dass Felix’ Geburtsjahr 1875 sein sollte, also das des Autors. Krulls Vater stirbt 1893, wie Manns Vater – ein Jahr später geht Krull nach Paris, der junge Thomas Mann begann 1894 in München an seiner Schriftstellerkarriere zu basteln.

Mit dem peniblen und materialreichen Kommentar zieht die neue „Krull“-Edition eine veritable Summe einer fast sechzigjährigen Forschung und leistet beinahe mehr als eine Edition leisten kann und muss. Die Fülle der genannten möglichen Prätexte, die der Autor gekannt haben könnte oder sollte, wirkt manchmal beliebig, wenn es sich um Zeitphänomene handelt wie etwa bei dem Hochstaplermotiv. Unter dem altehrwürdigen Titel „Quellen und Einflüsse“ sind die hier wie in anderen Kapiteln immer wieder gesammelten kultur- und literaturgeschichtlichen Abrisse nicht mehr zu subsumieren, so wertvoll diese umfangreichen Materialsammlungen auch sind. Der Stellenkommentar ist ein Kleinod der Kommentierungskunst, das die Grenzen zur Deutung immer wieder überschreitet, dabei Thomas Manns Interpretationsvorgaben immer wieder einarbeitet. Dies tut freilich dem Gesamtbefund keinen Abbruch, dass es sich bei den jetzt vorliegenden beiden Bänden um eine editorische Meisterleistung handelt. Da sie sogar bezahlbar sind, sollten Thomas-Mann-Leser künftig nur noch zu diesem „Krull“ greifen.

Titelbild

Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Text und Kommentarband in einer Kassette.
Herausgegeben von Thomas Sprecher.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011.
1356 Seiten, 80,00 EUR.
ISBN-13: 9783100483454

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch