Der Tag, an dem die Republik erwachte

Ein vom „SPIEGEL“ herausgegebener Tagungsband unterrichtet über das journalistische Heldenleben in der frühen Bundesrepublik

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist nach der tiefen Nacht von Weimarer Krisenjahren und Diktatur, Massenmord, Kriegskatastrophe und Nachkriegselend 1949 nach zwei Jahrzehnten gewiss nicht in einem perfekten freiheitlichen Rechtsstaat aufgewacht. Auch wenn das (für einige) blitzblanke Wirtschaftswunder nicht lange auf sich warten ließ, musste die halbwegs funktionierende Demokratie erst mühsam erkämpft werden, und das heißt: Sie musste sich vor allem im Umgang mit Minderheiten und „Andersdenkenden“ bewähren. Die sogenannte „SPIEGEL-Affäre“ vom Herbst 1962 war ein entscheidendes Lehrstück für diese Geschichte des Aufwachens[1] der BRD zu einem liberalen Rechtsstaat mit einer kritischen Öffentlichkeit und ist seither, noch vor „Achtundsechzig“, vor den sozialliberalen und später den rotgrünen Regierungen, die aus der schwarzen Gewöhnlichkeit von Adenauer bis heute herausragen, zu einer „Pathosformel“ (Norbert Frei) für die politische Identität einer engagierten Generation geworden.

Hintergrund war die um 1961/62 zu Ende gehende erste Phase der Republik unter dem Kanzler Konrad Adenauer, dessen Politik der „Westbindung“ in der Nato, die eine Wiedervereinigung trotz gegenteiliger Beteuerungen auf Jahrzehnte unmöglich machte, des sich verschärfenden Kalten Krieges, der Wiederbewaffnung und Atomgefahr, des militanten Antikommunismus und des massenhaften Einsickerns alter Nazikader auch in den Journalismus und die öffentlichen Ämter, vor allem die Justiz und die Geheimdienste, verstärkt seit den frühen 1950er-Jahren. Typisch für die Adenauerzeit, die auch eine Ära Adenauer-Globke war, ist nicht allein die sprichwörtliche Restauration, etwa des Klerikalismus, sondern vielmehr der Autoritarismus der sozialen Verkehrsformen und der Rechtspolitik (Stichwort: „Obrigkeitsstaat“), für die der Vorwurf vom „Landesverrat“ so locker saß wie der Western-Colt. Adenauers entschiedene Westintegration gilt als seine größte Leistung und wird heute von niemandem ernsthaft in Zweifel gezogen, spätestens seit man auch im Westen Genaueres darüber wissen kann, was das Gegenstück, Ostintegration und Sowjetisierung, bedeutet hat. Aber die Westintegration war nur die notwendige, gewiss nicht die hinreichende Bedingung für die Konstitution eines funktionierenden Rechtsstaats, in dem nicht staatliche Verfolgung und Gefängnis riskiert, wer sich öffentlich an einer kontroversen Debatte um dessen sicherheitspolitische und andere Grundlagen beteiligt. Eben dies aber traf im Herbst 1962 den „SPIEGEL“ mit der vollen Härte der Exekutive eines autoritären Staates. Die Ereignisse waren und sind überschaubar und leicht verständlich, und diese Einfachheit ist vielleicht mit ein Grund für den tiefen Eindruck, den sie hinterlassen, und die Mobilisierungskraft, die sie entfaltet haben.

Sie sind dem Interessierten von vielen Anspielungen und Rekapitulationen bekannt: vom Erscheinen des inkriminierten Heftes 41 am Montag, dem 8. Oktober 1962 (mit Datum vom Mittwoch, dem 10.10., wie das damals beim „SPIEGEL“ noch üblich war), das die Titelgeschichte „Bedingt abwehrbereit“ über die Nato-Stabsrahmenübung „Fallex“ enthielt und das Porträt des Generalinspekteurs der Bundeswehr Friedrich Foertsch auf dem Titel trug, zur Besetzung der Redaktion in Hamburg in einer Nacht- und Nebelaktion am 26./27. Oktober durch die Polizei im Auftrag von Karlsruhe (unter Leitung des Bundesanwalts Siegfried Buback) und der Verhaftung Rudolf Augsteins, seines älteren Bruders und Anwalts Josef Augstein, des Verlagsdirektors Hans Detlev Becker und der Autoren der Story, Conrad Ahlers und Hans Schmelz, bis zur Debatte im Bonner Bundestag (Adenauer: „ein Abgrund von Landesverrat“) mit nachfolgender Regierungskrise bis hin zum Rücktritt und Rückzug des Verteidigungsministers Strauss aus dem Kabinett sowie Adenauers Versprechen, 1963 vorzeitig als Kanzler zu gehen; Ludwig Erhard sollte dann für drei Jahre sein Nachfolger werden, ehe es 1966 zu der Großen Koalition kam, die bereits im Zuge der Krise von ‘62 vor der Tür gestanden hatte. Franz Josef Strauss hatte mit dieser Affäre den Versuch gestartet, mit Hilfe seiner Gefolgsleute in Ministerien, Militär und Bundesanwaltschaft mit dem „frechen“ „SPIEGEL“ als dem Hauptorgan der mehr oder weniger linken Kritiker und Vaterlandsverräter endlich aufzuräumen (Strauss: „die Schweine – jetzt haben wir sie endlich“) – auch die Vokabeln „Nihilisten“ und „nihilistisch“, die dabei immer wieder auftauchten, besaßen damals noch den gewollt furchterregenden Klang in den Ohren des staatstragenden Spießbürgers, dem man gesagt hatte, er dürfe sich nun wieder in Übereinstimmung mit den „abendländischen“ Werten wähnen. Aber dieser Versuch hatte dann eben zu der bis dahin schwersten innenpolitischen Krise der neuen Republik geführt, und die „SPIEGEL“-Affäre gehörte gewiss zum Stärksten, was Strauss gegen sich selbst unternommen hat.

Das Hamburger Nachrichtenmagazin war schon vor der Affäre zur maßgeblichen kritischen Stimme aufgestiegen, anfangs gegen Adenauers Klerikalismus und seine Politik der Westbindung, mit den berühmten Kommentaren Rudolf Augsteins unter dem Pseudonym Jens Daniel, und seit Strauss’ Übernahme des Verteidigungsministeriums 1956 gegen dessen Militärstrategie der Einbindung der Bundeswehr in eine bilaterale, also auch europäische Atomstreitmacht, was zwar nicht unbedingt den Besitz, aber den Zugang der Deutschen zur Anwendung von Atomwaffen bedeutete. Der Bericht über das Nato-Manöver, in dem eben diese Strategie erprobt wurde, sollte das Scheitern des Nato-Konzepts des „preemptive strike“ (mit den von Strauss angeschafften „Starfightern“) aufzeigen, von dem sich um diese Zeit auch die amerikanische Politik der Kennedy-Administration mit der Formel des „flexible response“, dem Einsatz auch konventioneller Waffen, verabschiedet hatte. Auch damit hatte der Wechsel der Feindbilder des „SPIEGEL“ von Adenauer zu Strauss zu tun (den Henry Kissinger damals „nuclear obsessed“ genannt haben soll).

Rudolf Augstein wurde als letzter der verhafteten Redakteure am 7. Februar 1963 nach 103 Tagen Untersuchungshaft entlassen, das Bundesgericht lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens im Mai 1965 mangels Beweisen ab. Nach ausgestandener Affäre war der „SPIEGEL“ stärker denn je, die Auflage war von circa 400.000 um 1960 auf mehr als eine halbe Million gestiegen, und Augstein konnte sein Blatt selbstbewusst zum „Sturmgeschütz der Demokratie“ erklären. Der von Strauss und den Seinen geführte und krachend daneben gegangene Schlag hatte neben solidarischen Aktionen der liberalen Presse (besonders des„Stern“ und der „Zeit“) zum ersten Mal auch die breitere Mobilisierung einer Art außerparlamentarischen Spontanopposition erreicht, mit Straßendemonstrationen („Augstein raus – Strauss rein“, „SPIEGEL tot, Freiheit tot“), wie sie bis dahin höchstens die Anti-Atom-Bewegung zustande gebracht hatte (die Fotos zeigen vor allem Studenten, damals noch fast alle in Anzug und Krawatte). Die Gruppe 47 schickte ein Telegramm an den „SPIEGEL“ mit einer von acht Autoren unterzeichneten Protesterklärung, die dann in Heft 45/1962 erschien. Die Nummer 43/1962 hatte bereits eine Titelgeschichte über die damals höchst einflussreiche Gruppe gebracht, die zeitgleich mit der Polizeiaktion gegen den „SPIEGEL“ Ende Oktober ihre Tagung am Berliner Wannsee abgehalten hatte, fünf Jahre vor ihrem Ende 1967.

Über all das und sehr viel mehr veranstaltete der „SPIEGEL“ im September 2012 in seinem neuen Hamburger Verlagshaus eine Tagung mit namhaften Historikern, Politikern, Journalisten und ‚Zeitzeugen‘, deren Vorträge in dem von Martin Doerry und Hauke Janssen herausgegebenen Band gesammelt sind. Die Beiträge verteilen sich auf fünf Themenschwerpunkte. Der erste Schwerpunkt bietet weitere detaillierte Überblicke über die Ereignisse mit Erinnerungen von Zeitzeugen (knapp Hans-Ulrich Wehler, ausführlich Peter Merseburger mit einem Kapitel aus seiner Augstein-Biografie von 2007), daneben werden eine Menge neuerer Erkenntnisse über die größeren politischen Kontexte zur Diskussion gestellt, in denen die Affäre zu sehen ist und die weit über die politisch eigentlich unbedeutenden Anlässe und Machenschaften der Beteiligten hinausreichten, besonders instruktiv von Eckart Conze über Strauss’ Militärstrategie („Griff nach der Bombe?“) im Rahmen der internationalen Politik des Kalten Krieges, über die Rolle des BND von Jost Dülffer und über die Frage nach dem „Versagen der Justiz“ von dem früheren Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem, während der Tutzinger Historiker Michael Mayer die Vorgänge um die Verhaftung und Auslieferung von Ahlers in Spanien viel genauer beleuchtet, als man dies bisher wusste. Man muss ja auch daran erinnern, dass die Vorgänge um den „SPIEGEL“ durch die in der gleichen Oktoberwoche eskalierende sogenannte Kuba-Krise mit einer zusätzlichen Dramatik aufgeladen wurden. Diese Angst vor einem Atomkrieg, der jeden Tag ausbrechen konnte, wurde von Adenauer und Strauss auch bewusst genutzt, indem sie und andere mit dem Gerücht hantierten, Augstein selbst habe sich bereits „nach Kuba abgesetzt“: Er war also nicht nur akuter Geheimnisverräter, sondern, wie auch die Schreiber seines Schlages und seine linken „nihilistischen“ Leser, schon immer ein Agent der anderen Seite.

Zu den vielen Fragen, die sich weiterhin stellen, gehört die vom „SPIEGEL“ selbst gepflegte Vorstellung von der weichenstellenden Bedeutung der Affäre. Zweifel sind angebracht nicht so sehr wegen des Klopfens auf die eigene Schulter, das für manchen vielleicht schwer erträglich ist, sondern weil man doch fragen muss: War die Gefahr denn wirklich so groß? Gewiss, im schlechtesten Fall wäre es ein autoritärer Staat geworden oder geblieben – aber gab es dazu wirklich eine reale, also nichtdemokratische Alternative, wenn man die Integration der faktisch eingeschränkt souveränen Bundesrepublik in das westliche System bedenkt?

Auch die grundsätzliche Frage nach der Glaubwürdigkeit der Medien und der Medienöffentlichkeit als „Vierte Gewalt“ spielt in diesem Band wie auch in der Medienhistoriografie in diesem Land generell keine Rolle. Jürgen Habermas, dessen mutiges Buch mit dem so harmlos klingenden Titel „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ja im gleichen Jahr 1962 erschienen ist, nachdem er die größten Schwierigkeiten mit seiner Habilitation durchzustehen hatte, hat, wie es scheint, noch immer umsonst geschrieben. Man kann das als typisches Symptom für die Hauptschwäche unserer sogenannten Mediendemokratie sehen: Auch Medienkritik gibt es nur in den Medien. Gerade auch prinzipielle Medienkritik braucht die Medien als Plattform, als Institutionen der Operation und breiteren, über Hörsäle und Seminarräume oder auch ‚Stammtische‘ hinausreichenden Artikulation der Infragestellung und Kritik. Daher wird, wie man es nahezu jeden Tag beobachten kann, ernstzunehmende Medienkritik in den Medien selbst mindestens heruntergespielt, mit den immer gleichen verharmlosenden Redensarten, wenn nicht abgewehrt oder schlicht verhindert – ein geradezu systemkonstitutiver Missstand, der dem mediennutzenden Bürger offensichtlich nicht bewusst ist.

Schließlich seltsam und natürlich ebenfalls zu monieren: Die frühe scharfsinnige und unbestechliche Kritik Hans Magnus Enzensbergers am „SPIEGEL“ und seiner Sprache[2], zuerst gesendet als Radio-Essay im Süddeutschen Rundfunk und am 6. März 1957 (!) vom „SPIEGEL“ selbst in gekürzter Fassung gedruckt, wird in dem Band an keiner Stelle erwähnt. Erklärlich ist das nicht, zumal der Teildruck von 1957 auch ein schönes Beispiel für ein Phänomen ist, das seinerseits nicht leicht zu erklären ist und auch einmal eine gesonderte Beachtung verdienen würde. Gemeint ist jene schon immer, offenbar seit den frühesten Jahren ausgeprägte Selbstkritik des „SPIEGEL“, für die es zahlreiche frappante Beispiele gibt, zu denen nicht zuletzt auch die Hamburger Konferenz und der vorliegende Tagungsband gehören. Was ist das eigentlich, worum handelt es sich dabei? Um praktizierte Inklusion eines Systems, das auch noch die Kritik an sich selbst zu seiner Sache macht und nicht anderen überlässt? Um übergroßes Selbstbewusstsein, den Glauben, selber auch das noch und überhaupt alles besser zu können, – oder um den sozusagen zur Institution gewordenen Habitus des chronisch selbstreflexiven Intellektuellen Augstein?

[1] Zum Titel vgl. den Artikel von Dieter Wild, Redakteur beim SPIEGEL von 1960-1999: „Der Tag, an dem die Republik erwachte.“ In: Süddeutsche Zeitung vom 22./23. Sept. 2012.

[2] Vgl. Hans Magnus Enzensberger: „Die Sprache des Spiegel.“ In: Ders.: Einzelheiten I, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1962, S. 62-87. Sogleich auch in ders.: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1962 (edition suhrkamp 63), S. 74-105.

Kein Bild

Martin Doerry / Hauke Janssen (Hg.): Die SPIEGEL-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013.
460 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046048

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