Ein „Beitrag zur Naturgeschichte der Bestialität“
Der exilierte Schriftsteller Konrad Heiden berichtet über die Novemberpogrome von 1938
Von Jens Flemming
In der Nazi-Presse wurden die Ereignisse zu Manifestationen eines urwüchsigen „Volkszorns“ umgedeutet, zur kollektiven Vergeltung an den deutschen Juden für die Tat eines ihrer Glaubensgenossen stilisiert: die Ermordung des Legationssekretärs an der Pariser Botschaft, Ernst vom Rath, durch einen verzweifelten, in die Illegalität abgetauchten und von Abschiebung bedrohten jungen Mann namens Herschel Grynszpan, dessen in Hannover lebende Eltern mit zahllosen anderen nach Polen ‚abgeschoben‘ worden waren und dort im Niemandsland unmittelbar hinter der Grenze unter unwürdigsten Bedingungen kampieren mußten, eine erste Massendeportation, gleichsam ein Präludium auf das, was noch kommen sollte. Für in- und ausländische Beobachter, die sich den Blick durch die braune Propaganda nicht hatten trüben lassen, waren es dagegen organisierte, von oben befohlene Akte blinder Zerstörungswut und der Barbarei. Synagogen brannten, Polizei und Feuerwehr standen bereit, nicht um zu löschen, sondern um das Übergreifen des Feuers auf ‚arischen‘ Besitz zu verhindern. Dutzende von Menschen wurden umgebracht oder in den Freitod getrieben, Tausende verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Der 1933 eröffnete Krieg gegen die Juden war erneut und auf schreckliche Weise eskaliert.
Zu denen, welche die Vorgänge in Deutschland und die sich darin offenbarenden Zielsetzungen der Machthaber mit bemerkenswerter Klarheit erfassten, gehörte Konrad Heiden. Geboren 1901 in Frankfurt als Sohn eines sozialdemokratischen Funktionärs und einer jüdischen Mutter, wuchs er in wenig stabilen familiären Verhältnissen auf, widmete sich an der Universität München den Rechts- und Staats-Wissenschaften, engagierte sich im „Republikanischen Studentenbund“, schloß seine Studien aber nicht ab. Er war, wie Markus Roth, einer der drei Herausgeber, notiert, „ein Kind der Arbeiterbewegung, aber kein Arbeiterkind.“ 1923 warf er sich auf den Journalismus, arbeitete bis 1929 im Münchener, danach im Berliner Büro der „Frankfurter Zeitung“, 1931 dann für einen der hauptstädtischen Artikeldienste, 1932 bis 1933 für die „Welt am Montag“ und den „Montag-Morgen“. Zu Hause war er im Feuilleton ebenso wie in der Politik. Schon früh beobachtete und beschrieb er das Treiben der NSDAP, 1932 erwuchs daraus eine scharfsichtige, bei Rowohlt publizierte Analyse des Nationalsozialismus, die Ideologie und Psychologie der Parteihäuptlinge aufs Korn nahm. Schon deshalb stand er auf den Proskriptionslisten der Nazis weit vorn. Trotzdem flüchtete er erst im Mai 1933, zunächst nach Zürich, dann nach Paris, ehe er 1940 nach dem Sieg der deutschen Truppen über Frankreich, auf gefährlichen Wegen die Vereinigten Staaten erreichte.
Im französischen Exil brachte er mehrere Bücher auf den Markt, darunter eine zweibändige Hitler-Biografie. Sie stießen auf erhebliche Resonanz, fanden allerdings nicht den Beifall des emigrierten Parteivorstands der Sozialdemokratie. Dort ärgerte man sich über kritische Bemerkungen, die ihrer Politik in der Novemberrevolution galten, auch der seltsam hasenfüßigen Hinnahme des „Preußenschlags“ am 20. Juli 1932, mit dem das deutschnationale Kabinett von Papen die letzte republikanische Bastion des Weimarer Staates, dem Geist der Verfassung zuwiderhandelnd, niederriss. Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass die deutsche Diplomatie mehrfach und ohne Erfolg gegen den missliebigen Autor intervenierte. Das letzte, 1939 noch in Frankreich entstandene Werk widmete sich einem brandaktuellen Thema, den Pogromen im November 1938: eine nicht sehr umfangreiche außerordentlich dichte, ja fesselnde Studie, geschrieben im Stil einer investigativen Reportage, die – dramaturgisch geschickt konzipiert – den Leser mit direkter Ansprache sofort in den Bann zieht und bis zum Schluss nicht wieder loslässt. Damals nur in englischer, französischer und schwedischer Übersetzung erschienen, ist der Text nun von Markus Roth, Sascha Feuchert und Christiane Weber erstmals nach dem in der Zürcher Nationalbibliothek lagernden Originalmanuskript für deutsche Leser zugänglich gemacht worden, angereichert mit ausführlichen Erläuterungen und versehen mit einem instruktiven Nachwort.
Heiden stützt sich auf in- und ausländische Presseartikel, vor allem aber auf Augenzeugenberichte jüdischer Flüchtlinge, die das in Amsterdam residierende „Jewish Central Information Office“ gesammelt hatte. Sein Buch wollte er verstanden wissen als „Beitrag zur Naturgeschichte der Bestialität“. Die Beispiele, mit denen er dies untermauert, sind bedrückend. Es war, wie der Autor konstatiert, ein „Gemeinschaftsrausch“, ein „Massenmord an den Produkten der Zivilisation“. Davon zeugten zertrümmerte Wohnungen, zerschlagenes Mobiliar, geplünderte Läden, geschändete Synagogen. Die Nacht vom 9. auf den 10. November, so Heiden, sei eine „Nacht der Zerstörung und Mißhandlung“ gewesen, „nicht“ oder – von heute her gesehen: noch nicht „eine Nacht des planmäßigen Mords“. Dem widersprachen weder Dutzende von Toten noch Tausende von Verschleppten. Indem er aus einem Artikel im „Schwarzen Korps“, dem Organ der SS vom 24. November 1938, zitiert, macht der Autor jedoch deutlich, was fürderhin von den Nazis zu gewärtigen sei: Wir werden, war da zu lesen, „die Judenfrage nunmehr ihrer totalen Lösung zuführen“, was im Ergebnis auf das „endgültige Ende des Judentums in Deutschland“, auf dessen „restlose Vernichtung“ hinauslaufe.Einen gewissen Trost hält der Verfasser bereit, wenn er in seinem Nachwort darauf hinweist, daß die im Mantel der Staatspartei „herrschende Klasse“ keineswegs identisch sei mit dem deutschen Volk: „Es ist nur eine Minderheit, nur in brutaler Kraft überlegen und moralisch zutiefst unterlegen.“ Sie übe freilich Macht aus, und zwar mit den Mitteln der „Überredung“ und des „Zwangs“. Das den Juden zugedachte Schicksal, prognostiziert Heiden, werde sich nicht allein auf diese beschränken, vielmehr übergreifen auf die gläubigen Christen, gleichviel ob Protestanten oder Katholiken, sodann auf die übrigen Nationen des Kontinents. Die Vorgänge im Herbst 1938 werden als „Lehrstück“ charakterisiert. Dem ist auch Jahrzehnte später nichts hinzuzufügen.
Im Blick auf die seither geleistete Forschung erfahren wir aus Heidens Bericht kaum prinzipiell Neues, und er wird uns auch nicht dazu bewegen, die Geschichte neu zu gewichten. Aber er ist ein wertvolles Dokument, das Auskunft gibt über die Wahrnehmungen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen eines wachsamen, mit der nötigen Vorstellungskraft begabten Zeitgenossen. Es gründlich zu studieren, kann gar nicht nachdrücklich genug empfohlen werden.
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