Philip Hoare, Polyhistor

Warum man „Leviathan oder Der Wal“ lesen muss

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Entledigt man Philip Hoares „Leviathan oder Der Wal“ seines etwas lieblos gestalteten Umschlags, wähnt man sich über dem Ozean schwebend: Der blaue Pappeinband, auf dem sich die Zeichnung eines 1827 gestrandeten Wals und seines Skeletts findet, passt hervorragend zu dem Buch, das er in sich birgt. Und schlägt man ihn dann auf, ist es, als tauche man hinein in den Lebensraum der großen Meeressäuger, so tiefblau ist das Vorsatzpapier. Selten macht der erste Kontakt mit einem Buch so viel Freude wie hier.

Und eintauchen kann man in Philip Hoares Buch tatsächlich. Der Brite, der sich bereits mit Biografien zu so illustren Personen wie Stephen Tennant oder Noel Coward einen Namen gemacht hat, bietet mit seinem „Leviathan“ eine völlig singuläre Leistung. Denn sein Werk (es erschien 2008 auf Englisch, inzwischen ist ihm ein weiteres über „The Sea Inside“ gefolgt) ist die Arbeit wahrhaft polyhistorischer Bemühungen. Kaum ein Thema, das nicht angesprochen, nicht erörtert, nicht eingebettet wird in andere Zusammenhänge.

Das verdankt sich wohl vor allem der persönlichen Dimension, die das Buch für seinen Autor hat. Hoare berichtet ausführlich, aber unaufdringlich von seiner eigenen Beziehung zum Meer, zum Wal, zur Geschichte des Walfangs: Wie er lange Jahre nicht schwimmen konnte, sich inzwischen aber so oft wie möglich weit hinaus aufs Meer treiben lässt; wie seine Vorfahren in den britischen Walfangzentren lebten und arbeiteten; wie er „Moby Dick“ las, nach vielen erfolglosen Versuchen mit wachsender Begeisterung, die in einer völligen Verzauberung mündete. So wichtig wurde ihm jenes Buch, wurde ihm der Wal, dass er sich in jeden Aspekt der Natur- und Kulturgeschichte dieses Tiers hineinwühlte. Das Ergebnis, dieses Buch, gibt davon Zeugnis.

Von zoologischen Details über die Geschichte des Walfangs (zunächst in den Vereinigten Staaten, dann in Großbritannien, zuletzt mit internationalen Fangfabriken, die die Bestände bekanntlich fast vollständig ausgelöscht haben) bis hin zur literaturhistorischen Bedeutung des Wals reichen seine Ausführungen. Im Verlauf des Buchs bereist Hoare die amerikanischen Walfangzentren des 19. Jahrhunderts, New Bedford und Nantucket; er verfolgt die Strandungen und den Walfang an den englischen Küsten und er reist auf die Azoren, wo er schließlich mit einem Pottwal schwimmen kann. Er spricht mit Biologen, Tierschützern, Küstenbewohnern, Reiseführern und bindet ihre Sichtweisen und Erlebnisse in seine Schilderungen ein. So reich Thema und Reise auch sind, es bleibt dennoch Platz für ausführliche Exkurse: Das Leben Melvilles, seine Freundschaft zu Nathaniel Hawthorne, selbst Thoreaus „Walden“ findet Eingang in den Text. Anekdotisches (das erste Foto eines lebenden Wals im offenen Meer entstand erst nach der Mondlandung) steht neben Grausamem (ein englischer Naturforscher, der sich tagelang durch die endlosen Eingeweide eines gestrandeten Wals wühlt, um eventuell einen kostbaren Ambrabrocken zu finden), die ehrfürchtige Sicht auf die Tiere steht neben der Schilderung der brutalen Walfangpraktiken – ohne anklagend den Zeigefinger zu heben, wird der Schrecken dieses Gewerbes gleichsam von allein spürbar.

Das alles ist wundervoll ge- und beschrieben. Das große Vergnügen, das die Lektüre bietet, verdankt sich nicht nur Hoares Stil, sondern auch seinem kongenialen Übersetzer Hans-Ulrich Möhring, dem der Autor ganz zu Recht ausdrücklich für seine Leistung dankt. Die tadellose Buchgestaltung, der saubere und fehlerfreie Druck runden den positiven Eindruck ab und machen dieses intime, unaufdringliche und zugleich fesselnde Buch zu einem, das seinesgleichen sucht.

Titelbild

Philip Hoare: Leviathan oder Der Wal. Auf der Suche nach dem mythischen Tier der Tiefe.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring.
Mare Verlag, Hamburg 2013.
522 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481541

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