Machtergreifung der Krähen

Martin Mosebachs „Das Blutbuchenfest“ ist ein politisches Buch und ein Fest der Sprache

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Satz „Die Marquise verließ das Haus um fünf Uhr“ würde er niemals einen Roman anfangen lassen, soll Paul Valéry einmal zu André Breton gesagt haben. Denn der besäße nur einen informellen, aber keinen poetischen Wert. Was für eine Herausforderung für jemanden wie Martin Mosebach. Und so fängt dessen neuer Roman just mit dem von Valéry geächteten Wortgebilde an: „Die Markies verließ um fünf Uhr das Haus […]“ Mit dieser kleinen ironischen Verbeugung vor der Literaturgeschichte lässt der Frankfurter Autor es dann aber auch gut sein. Denn seine „Markies“, eine ortsansässige Geschäfts- und Gesellschaftsdame, bricht um fünf Uhr in der Früh auf, zu einem Zeitpunkt also, da Valérys adlige Müßiggängerin sich noch von den Strapazen der Soiree vom Vorabend ausruhen dürfte.

Mosebachs „Das Blutbuchenfest“ erinnert ein wenig an seinen letzten Roman „Was davor geschah“ (Hanser 2010). Hier wie da der Schauplatz Frankfurt am Main. In dem einen wie in dem anderen Angehörige des juste milieu der Mainmetropole als Personal und ein Erzähler, der ein wenig Außenseiter ist, nicht ganz dazugehört, sich sozusagen auf Schnupperkurs in der besseren Gesellschaft befindet, um sich prompt zu verlieben – was nur zu einem Unglück führen kann. Und natürlich Tiere: Waren es 2010 der Kakadu im Hause Hopsten, eine Nachtigall und eine Tigerkatze, die der Autor emblematisch auflud, sind es diesmal vor allem Krähen, deren Wesen und Wirken Mosebach auf unnachahmliche Weise mit dem Tun – beziehungsweise Nichttun – seiner Protagonisten kurzschließt.

Selbst einzelne Figuren sind miteinander vergleichbar. So erinnert Inge Markies, die taffe Geschäftsfrau, die sich spätes Aufstehen nicht leisten kann, an die weizenblonde Heroine Helga Stolzier, die um nichts in der Welt französisch „Stolzjé“ ausgesprochen werden wollte. Und die Allüre des Privatiers Wereschnikow, in jedes Gespräch die Namen der Großen dieser Welt einzuflechten, mit denen er in beständigem Gedankenaustausch zu stehen vorgibt – von Boutros Ghali über Henry Kissinger bis hin zu Jack Lang –, hat ihr Gegenstück in der Marotte des Ministers adé Schmidt-Flex, der es in „Was davor geschah“ nicht lassen kann, ständig auf seine intime Bekanntschaft mit „zwei Päpsten, drei amerikanischen Präsidenten und dem Kreis der deutschen Nobelpreisträger“ anzuspielen.

Nur jene Gestalt, die die Herren und Damen der Frankfurter Gesellschaft miteinander verbindet, gehört ganz in den aktuellen Roman. Denn mit der bosnischen Putzfrau Ivana Mestrovic, die von Wohnung zu Villa, von Haus zu Salon eilt, um sich, ihren Mann Stipo und die zahlreiche Verwandtschaft in einem kleinen Dorf weit weg von all den Dingen, deren Augen- und Ohrenzeuge sie in Deutschland Tag für Tag wird, über Wasser halten zu können, hat Mosebach eine Figur ersonnen, die eine innereuropäische Brücke schlägt: aus dem verschlafenen Westen mit seinem wichtigtuerischen Wortgeklingel hin zu den existenziell-attavistischen Abgründen, die die Völker des Balkans nach 1990 erst auseinander und dann gegeneinander trieben.

Wenn der Roman beginnt, ist Jugoslawien allerdings noch ein Begriff und eine Idee, für die zu kämpfen sich zu lohnen scheint. Die Konferenz, die Wereschnikow unter dem Titel „ Die Wurzeln und Fundamente der menschlichen Würde in den Kulturen des Balkans“ plant, soll deshalb einen Beitrag leisten gegen den „Rückfall in den Postkutschen-Nationalismus“. Jugoslawien als Modell – von Wereschnikow bezeichnenderweise auf eine Ebene mit dem Libanon gestellt – gilt es deshalb zu feiern wie zu unterstützen. Denn im Zusammenschluss von Ländern und Völkern, deren Beieinandersein eigentlich durch nichts anderes legitimiert ist als durch die menschlicheVernunft, sieht der in diesen Dingen doch etwas arg blauäugige Hans-Dampf-in-allen-Gassen die Zukunft ganz Europas. Allein das, was einmal Jugoslawien war, beginnt just in dem Moment zu zerfallen, da Wereschnikow seine Aktivitäten verstärkt und Aufträge zu verteilen sich anschickt.

Einer, der sich in diesem Sinne plötzlich in weitreichende Pläne eingespannt sieht, ist Mosebachs Ich-Erzähler. Als Kunsthistoriker mit nichts als einer „Cum-laude“-Promotion auf der Habenseite, soll er der Konferenz eine Aufsehen erregende Kunstausstellung an die Seite stellen. Und wer eignete sich besser zur Verdeutlichung der großen Idee hinter Wereschnikows Projekt als der „Michelangelo Bosniens“, ein im amerikanischen Exil verstorbener Bildhauer und „Nationalkünstler“ namens Mestrovic, der nicht zufällig den Nachnamen der Putzfrau Ivana trägt, sondern eng mit ihr verwandt war und aus demselben Dorf stammte, in dem die Familie immer noch lebt.

Und so nehmen die Dinge ihren Lauf, in Frankfurt und in Bosnien. Während am Main viel ge- und zerredet, letzten Endes aber nichts als ein chaotisches Fest unter einer riesigen Blutbuche im Garten eines bekannten Bankiers ins Werk gesetzt wird, brauen sich in dem bosnischen Bergtal, wo Ivanas kroatische Familie Haus und Heimat besitzt, schreckliche Dinge zusammen. Eine Hochzeit wird gefeiert und ein Kind stirbt. Später werden aus Nachbarn Feinde, Schüsse fallen und eine Flucht beginnt, an der Ivana 1.000 Kilometer nordwestlich per Handy und mit klopfendem Herzen sich beteiligt, während sie versucht, Ordnung in das immer mehr aus dem Ruder geratende Fest in Haus und Garten eines ihrer Klienten zu bringen.

Wie Martin Mosebach diese beiden, nebeneinander auf unserem Kontinent existierenden Wirklichkeiten miteinander ins Verhältnis bringt, eine von Schwätzern, Gernegroßen, saturierten Geldsäcken und überkandidelten Projektemachern repräsentierte Welt der westlichen Wunschvorstellungen und die davon nicht zu beeindruckenden, gewaltsam wieder aufbrechenden uralten Konflikte der Balkanregion, ist ganz große Kunst. Kunst, die, ohne dass sie darauf explizit zu sprechen käme, auch etwas über die Fragilität und ständige Bedrohtheit der Idee eines den Völkern gemeinsamen „europäischen Hauses“ aussagt – und in diesem Sinne, ob sich der Autor dessen nun bewusst ist oder nicht, auch politische Kunst.

Aber „Das Blutbuchenfest“ wäre kein Roman von Mosebach, wenn er nicht gleichzeitig auch etwas Leichtes, Verspieltes hätte. Dazu trägt vor allem ein Figurenensemble bei, in dem der Plänemacher Wereschnikow und die PR-Dame Inge Markies nur die Spitze des Eisbergs bilden. Sie und alle anderen versammeln sich in Merzingers Restaurant wie einst – von Patrick Süskind und Helmut Dietl erdacht – die Münchner Schickeria im „Rossini“. Hier, wo das Essen allerdings nicht ganz so gut ist, werden sie geplant und in Angriff genommen, die großen Vorhaben und kleinen Intrigen, heißen Techtelmechtel und tränenreichen Trennungen, deren Folgen, Peinlichkeiten wie Katastrophen, dann die Putzfrau Ivana Mestrovic zu registrieren hat, wenn sie bei den einzelnen Herrschaften zum Saubermachen erscheint.

Mosebachs Text steckt voller erzählerischer Perlen, exquisiter Bilder und aphoristisch anmutender Sätze, die ein eigenes kleines Büchlein ergäben, schriebe man sie alle heraus. „Menschen, die Geld nötig haben, bekommen kein Geld, das ist ein Gesetz“, heißt es da etwa oder, an anderer Stelle und nicht minder wahr: „[…] es ist ein Reflex der großen Monologisten, ihre gehorsamen Zuhörer für besonders gescheit zu halten.“

Ein Wort zum Schluss: Dass ein Roman, der zu Anfang der 1990er-Jahre des letzten Jahrhunderts spielt, seine Figuren per Handy miteinander kommunizieren oder auf dem Laptop Mails empfangen und abschicken lässt, will mich bei Weitem nicht so stören wie etwa den Rezensenten der F.A.Z., der darin eine „Erzählverschluderung“ sah und adornitisch befand: „Es gibt kein richtiges Erzählen im falschen Schreiben.“ Lässt man sich freilich auf einen Darbietungsgestus ein, der auf keinen der bekannten Erzählertypen mehr zur Gänze festlegbar ist und unvermittelt aus einem personalen Erzählen ins Auktoriale springt, um im nächsten Satz wieder die Ich-Perspektive zu bevorzugen, merkt man schnell, dass hier eine Art von „Allwissenheit“ regiert, die sich über das Chronologische souverän hinwegsetzt.

Titelbild

Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
448 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446244795

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