Cervantes, Sorel und die Gattungsfrage

Daniel Syrovys Problemgeschichte des Romans im 17. Jahrhundert

Von Frank EstelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Estelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Imitatio und Originalität, Epigonalität und Kreativität, einander entgegenzusetzen, um die Antriebskraft literarischer Entwicklungen zu beschreiben, ist gattungs- und literaturgeschichtlich weitgehend unfruchtbar. Daniel Syrovy hat dies mit der vorliegenden Studie erneut unter Beweis gestellt. Er zeigt darin zum Beispiel, wie der als einzigartiger Gründungstext der modernen Literatur missverstandene „Don Quijote“ von Miguel de Cervantes leicht aufgrund seiner nachahmenden Qualitäten in eine gattungsgeschichtliche Reihe mit der Tradition des Ritterromans gestellt werden kann.

Problemgeschichte der Romangattung (1585-1645)

In „Tilting at Tradition“ geht es darum, eine Art Problemgeschichte der Romangattung in einem Zeitraum zu  geben, der zwischen Cervantes’ „La Galatea“ (1585) und Charles Sorels „Polyandre“ (1645) liegt. Im Zentrum der Studie steht neben dem „Don Quijote“ an erster Stelle Sorels „Le berger extravagant“ (erstmals 1627–1828), ein Werk, das dessen Autor ab 1633 unter dem veränderten Titel „L’Anti-Roman“ publizierte. Die Verbindung zwischen den beiden zentralen Texten von Cervantes und Sorel, und damit die für eine gemeinsame Untersuchung benötigte Vergleichsachse, bleibt recht unspezifisch. Der Autor verortet sie allgemein im Bereich vergleichbarer Gattungsreflexionen auf die Romanform.

In der Diskussion von Sorels monumentalem Roman, die den Auftakt der Studie bildet, verfolgt der Autor entsprechend zwei ziemlich allgemeine Leitgedanken. Zum einen beobachtet er, dass die Heterogenität von Sorels Werk sich auf den zweiten Blick nicht bestätigt, sondern dass dieser Text trotz einer beispielsweise maßlos digressiven Natur romanesken Gestaltungsprinzipien gehorcht. Zum anderen weist er nach, dass Sorel die Romangattung ernst genommen haben muss, und zwar auch in dem Sinne, dass der in „Le Berger extravagant“ zu beobachtende romaneske Formanspruch nicht in Widerspruch zum Gesamtwerk des Autors gestellt werden kann. Er stellt dies unter anderem unter Beweis, indem er detailliert die Unterschiede zwischen den verschiedenen Versionen von „Le berger extravagant“ untersucht und die Bedeutung des in dieses Werk integrierten ausführlichen Anmerkungsteils (Remarques) herausarbeitet.

Syrovy macht auch klar, dass das Verhältnis zur Romangattung bei Sorel von der Komödienform geprägt wurde. Das Genre sei im Blick Sorels mit der linguistischen Mimesis, dem personalen Sprechen, verbunden gewesen. Die Anlehnung an die Komödie habe daher die poetologische Forderung nach der Wahrscheinlichkeit des Erzählten eher erfüllen können als es durch die Anlehnung an die epische Tradition möglich gewesen wäre. Diese Position wird, zumindest in Ansätzen, mit den romantheoretischen Diskussionen zur Zeit Sorels abgeglichen.

Der „Don Quijote“ als Fortsetzung der italienischen Ritterromane

In einem zweiten, längeren Teil von „Tilting at Tradition“ erweist sich, dass die konventionelle Lektüre des „Don Quijote“ als eines vorrangig parodistischen Textes dann fehl geht, wenn sie nicht berücksichtigt, dass Cervantes die Gattung des Ritterromans keineswegs abgelehnt haben kann. Die Invektiven gegen die Ritterromane, die im Prolog des „Quijote“ zu finden sind, werden entsprechend dialektisch relativiert. Nicht nur seien die spanischen Ritterromane (libros de caballería) als stilistisches Modell des Werks zu betrachten, auch habe sich Cervantes in vielerlei Hinsicht im stilistischen Repertoire der italienischen Humanisten und Literaten bedient, insbesondere in dem von Luigi Pulcis „Morgante“, Teofilo Folengos „Baldus“, Matteo Maria Boiardos „Orlando innamorato“ und Ariostos „Orlando furioso“. Mit deren Beispiel einer Ironisierung der Gattungskonventionen des Ritterromans korrespondiere der „Don Quijote“, was etwa an einem Vergleich der jeweiligen Herausgeber- und Übersetzerfiktionen und an einer kontrastiven Lektüre des Wahnsinns des Protagonisten gezeigt wird. Entsprechend verbinde den „Don Quijote“ mit diesen Texten „a similiar genre-pedigree“. In der Konsequenz dieses Gedankens könne der Text von Cervantes gattungsgeschichtlich nicht als Gegenmodell zum Ritterroman verstanden werden, sondern als eine seiner, über italienische Vorbilder (die romanzi cavallereschi) vermittelten Spielarten. Der Romanist Werner Krauss schon hatte „Don Quijote“ als Literaturroman bezeichnet; Syrovy findet weitere Argumente dafür.

Der folgende Abschnitt ist zunächst der Fortsetzung Avellanedas des „Don Quijote“ gewidmet. Dieser apokryphe zweite Teil des Werks wird als „welcome comment on Cervantes“ aufgefasst, also als zeitgenössischer Rezeptionsbeleg, der gattungspoetische Rückschlusse auf den Ausgangstext erlaube. Avellaneda habe den „Don Quijote“ in seinem sog. Zweiten Teil (Segunda parte) nämlich im Sinne der von Lope de Vega geforderten Komödienkonzeption und eines bedeutend klassischeren Literaturverständnisses umdeuten wollen. Auf diese Art und Weise habe dieser zweite Teil dann auch auf die letzten Kapitel des zweiten Teils von Cervantes von 1615 zurückgewirkt, die als Replik auf Avellaneda verstanden werden können. Daneben sei der Einfluss Avellanedas aber auch positiv ausgefallen, etwa was Cervantes’ Aneignung einiger komödiantischer Elemente von Avellanedas Text angeht. Die Verwobenheit der Texte beider Autoren wird dabei in längeren textanalytischen Passagen nachgezeichnet.

Der dritte Teil von Syrovys Studie wird schließlich von einer Diskussion von Sorels „Polyandre“ abgerundet, in der gezeigt wird, welche Ähnlichkeit die Romangattung des komischen Romans im Blick Sorels – darin dem Avellanedas ähnlich – mit der Komödientradition hat.

Textkommentar und Erzählung

Syrovy gelingt es, erhellende Schlaglichter zu werfen in jene Auseinandersetzungen in der ersten Hälfte des 17. Jh.s, in denen dem Roman seine Unwahrscheinlichkeit vorgeworfen wurde, in dem er moralisch zu sein hatte, in dem sich die Frage nach der imitatio noch im engen aristotelischen Sinne stellte und die erzählerische Konvention verschrien war. Syrovy stellt sich dabei der Bedingtheit einer nationalgeschichtlich angelegten Quellenforschung ebenso wie dem Problem, warum ausgerechnet ein experimenteller Autor wie Sorel sich für eine Literaturdidaxe stark machen konnte, die neben der moralischen Nützlichkeit der Romangattung ein rigoroses Zensursystem des Literaturbetriebs vorsah. Außerdem zeigt er, dass man die Beiträge Sorels und Cervantes’ zur Romantradition als gattungsgeschichtlich positive Beiträge würdigen sollte, nicht als das Ergebnis einer zerstörerischen Methode („destructive method“). Der verstehende Nachvollzug der Debatten um die Romangattung und die genaue Rekonstruktion der poetologisch relevanten Passagen in den Romanen, so erweist sich, sollten die Textanalysen begleiten.

Als Plädoyer für das Studium historischer Rhetorik und der ersten Leserschaft von Texten, bleibt die Studie Syrovys in großen Passagen sehr textbeschreibend. Auch gibt sich der Autor darin hinsichtlich seiner ja letztlich vergleichend angelegten Leitfrage nach der Gattungsproblematik des Romans vielleicht zu oft mit der Rekonstruktion individueller Antworten auf den Erwartungshorizont der Romangattung zufrieden. Narratologische Möglichkeiten, die jeweiligen Text- und Gattungskommentare bei Sorel und Cervantes als narrative Verfahren zu deuten, werden vielleicht etwas vorschnell verworfen, um dann letztlich doch in die Bestimmung des Antiromans als Hybrid zweier textueller Gattungen (Kommentar und Erzählung) einzufließen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Daniel Syrovy: Tilting at Tradition. Problems of Genre in the Novels of Miguel Cervantes and Charles Sorel.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2013.
272 Seiten, 61,86 EUR.
ISBN-13: 9789042037090

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