Ich, die Ratte

In seinem grandiosen Roman „Am Ufer“ zeichnet der Spanier Rafael Chirbes ein bitterböses Bild der ökonomischen Gegenwart

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegen Ende spricht die kolumbianische Haushälterin einen bösen Verdacht aus. Sie hatte gelesen, der Papst habe erklärt, dass es keine Hölle mehr gebe, woraus sie messerscharf schließt: „wenn es keine Hölle gibt, dann gibt es auch keinen Himmel und keinen Gott, deshalb passiert auch all das, was jetzt so passiert“. Was wie eine Drohung klingt, ist für Esteban, ihren Arbeitgeber, eher ein Zeichen der Hoffnung. Er hat längst alle Illusionen verloren, seit die Immobilienkrise auch ihn betrifft. „Ich fürchte nicht die Menschen, ich fürchte, dass es Gott gibt. Der hat sich das Böse für jeden Einzelnen von uns ausgedacht, das Böse in uns, das nach außen drängt, um alles zu verbiegen.“

In Rafael Chirbes Roman „Am Ufer“ scheinen sich beide Ahnungen zu bewahrheiten. Der Mensch ist zu allem fähig, sodass, wenn nicht der Himmel, so doch die Hölle real zu existieren scheint. Chirbes beschreibt allerdings keine widerlichen Greueltaten, der gewöhnliche Alltag im spanischen Dorf Olba reicht, um die Kehrseite von menschlicher Gier und Verantwortungslosigkeit aufzuzeigen.

In Folge der Immobilienkrise ist auch Estebans Schreinerei pleitegegangen. Kommt hinzu, dass er als Teilhaber des Investors Pedrós viel Geld in eine Bauruine investiert und verloren hat. Deshalb muss er zusperren. Damit verlieren auch Alvaro, Ahmed, Jorge, Julio und Joaquin ihre Arbeit, ihr Einkommen und ihre kleinen Träume vom bescheidenen Wohlstand. Mit 400 Euro Arbeitslosengeld und etwas Familienzulage lassen sich keine Sprünge machen.

Olba und das benachbarte Misent, irgendwo südlich von Valencia an der Küste, sind innerhalb weniger Jahre zu einem Touristengrill verschandelt worden. Selber blöd, wer dabei nicht sein Schnäppchen machte. Doch nach dem Platzen der Blase stehen die Kräne still und der Wind pfeift durch die Bauruinen. Der Geldfluss der Banken ist versiegt, die Arbeit wird rar. Blanke Existenzangst greift um sich – „niemand hat uns an so etwas herangeführt“, sinniert Julio auf dem „Gipfel der Mutlosigkeit“.

Esteban hält Rückschau. Ein letztes Mal trifft er sich mit Bernal, Justino und Francisco zum Domino. Keiner von ihnen ist noch Herr der Lage, auch wenn ihnen die Krise unterschiedlich schwer zusetzt. Einst fühlte sich Esteban zu Höherem berufen, doch er verließ die Kunstakademie schnell wieder, um das väterliche Geschäft zu übernehmen. Seither sitzt er in Olba fest. Leonor hat ihn längst verlassen und sich mit seinem Freund Francisco zusammengetan, um in Madrid ein Nobelrestaurant aufzubauen.

Man kennt sich in Olba, und man weiß auch um die Geschichte der Familien. Estebans kommunistischer Vater hat dem Sohn nie verziehen, dass ausgerechnet Francisco sein Feund ist, ein Spross von Franco-Anhängern. In den Köpfen der Alten geistert noch immer der Bürgerkrieg herum. Zumindest die Verlierer tragen jene Erfahrungen von Tod, Folter und Verfolgung mit sich herum. Die neue Krise macht sie aber vergessen. Die Gesellschaft der großen und kleinen Schlaumeier trauert den bescheidenen Freuden nach, insbesondere die Männer, die Chirbes in den Fokus nimmt. Palavern, Spielen und zuweilen bei einer Hure absteigen, das ist das Leben. Und natürlich Geld, Geld, Geld. Alles dreht sich darum. Esteban macht sich seine Gedanken darüber und plant seinen Abgang. Vater und Hund nimmt er mit, Ahmed wird ihn als erster im Sumpf finden.

Chirbes formuliert dieses Dasein in einem rabenschwarzen, bösen Monolog, der trotz seiner mäandernden Form eine unmissverständliche Botschaft enthält. Er erzählt (eine) Geschichte von unten. Aus der intimen Perspektive der kleinen Leute: Am Beispiel der kleinen Schlaumeier und Konjunkturritter erleben wir mit, wie es diese als erste trifft, wenn der künstlich aufgeblähten Ökonomie die Luft ausgeht. Sie werden nichts auf die Seite geschafft haben, doch ehrlich waren auch sie nicht geblieben. Jeder und jede hat sein privates kleines Schnäppchen gemacht. Julio arbeitete auf eigenen Wunsch schwarz bei Esteban, um daneben weiterhin Arbeitslosengeld zu beziehen. Esteban selber schöpfte heimlich die Konten seines Vaters leer, um sich den Traum vom Immobiliengewinn zu erfüllen. Auch Estebans tröstliche Haushalthilfe Liliana wird das ihr geliehene Geld nicht mehr zurückzahlen, vergesslich wie sie diesbezüglich ist. Und der sanfte Joaquin entgeht der totalen Katastrophe eigentlich nur, weil er nach all dem Wohlstandsmüll nicht auch noch das Reihenhäuschen gekauft hat.

Am Ende bleibt ihnen allen nur Resignation, Ohnmacht und Existenzangst. Derweil einer wie Pedrós, der klüger in die eigene Tasche gewirtschaftet hat, sich mit dem Flugzeug zu neuen Ufern aufmacht. Ob er aber der Glückliche ist? Auch ihm bleibt letztlich nur die Genugtuung, mit den anderen nicht auch selbst in den Abgrund gefallen zu sein. Ein Paradies ist das nicht.

„Am Ufer“ ist ein sarkastisches, scharf und schonungslos formuliertes Buch, das dennoch Raum für viele subtile Facetten hat. Für jeden seiner Protagonisten lässt Chirbes mildernde Umstände gelten. Es ist die teuflische Verführung des globalen Konsumismus, dem sie nicht widerstehen können, oder dem Wunsch, dass es die Familie besser haben sollte. Früher war es vielleicht anders, das Leben gemächlicher, einfacher, bescheidener. Doch besser? Wer sich bei Chirbes erinnert, bleibt unweigerlich an Bürgerkrieg, politischer Verfolgung und übler Denunziation hängen. Estebans Großvater, ein Republikaner, wurde durch Genickschuss exekutiert. Wer auf der andern Seite stand, wurde von den Franquisten ausgemerzt. Und später dann, nach Ende der Diktatur, ging diese Erinnerung im Wirtschaftswunder unter. Pedrós spricht es aus: Der Sozialist Felipe González „war am konsequentesten“ – weit mehr als die bigotten Konservativen. „Schließlich und endlich ist Sozialismus Reichtum, Wohlstand, Knete für jedermann.“

Estebans Selbstgespräch an jenem 14. Dezember 2010, seinem letzten Tag, erzeugt einen Mahlstrom der Resignation, in welchen sich andere Stimmen einflechten. Liliana tritt ins imaginäre Zwiegespräch mit ihm ein, Estebans Arbeiter erzählen aus ihrer Perspektive. Auf diese Weise weitet sich der Monolog zum imaginären Dialog und gibt eine breite Palette an existentiellen Erfahrungen aus dem Süden des modernen Spaniens wieder. Das Bild ist düster – und es gilt wohl nicht nur für Olba und Misent, zu denken wäre ebenso an Griechenland, Italien et cetera. Für Chirbes ist die spanische Immobilienkrise bloß der Anlass für eine zuweilen auch politisch lustvoll unkorrekte Abrechnung. Die ruinöse Ökonomie und – in ihrem Schatten – die ausbeuterische Egogesellschaft, die sich in der Krise entfalten, sind fundamental schon in der Hochkonjunktur angelegt. Wenn sich alle nur noch wie Schnäppchenjäger gebärden und den Nächsten übers Ohr hauen, gibt es keinen sozialen Zusammenhalt und kein Halten mehr. Chirbes beschreibt es detailgenau und anschaulich ganz aus der Lebenspraxis. Korruption allenthalben, von Solidarität ganz zu schweigen. Diese ist bloß noch ein altes Wort in den löchrigen Erinnerungen des vergesslichen Vaters. Alle sind Täter in diesem System – und zugleich Opfer. Letzteres ist in der Krise jedoch leichter einzusehen und sich einzugestehen.

Die Freiheit, schließt Esteban für sich, besteht einzig darin, das eigene Ende frei zu wählen. „Nie wirst du so sehr dein eigener Herr sein, du wirst dem nie näher kommen, dich selbst zu besitzen, Herr über deinen Terminkalender zu sein.“ Den vergesslichen Vater und den treuen Hund nimmt er mit. Der Sumpf wird ihre Seele aufbewahren. Zu dem Zeitpunkt wird Pedrós bereits über alle Berge sein. Er bleibt der klägliche Krämer und Aufschneider – es ist nicht leicht und billig, sich jener Ökonomie zu entziehen, die einem die Seele auffrisst.

Titelbild

Rafael Chirbes: Am Ufer. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Verlag Antje Kunstmann, München 2013.
430 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783888978678

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