Fülle zivilisationskritischer Aspekte

Rainer Nägeles Lektürefrüchte zum Theater der Moderne als Ort schwarzer Aufklärung

Von Peter HöyngRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Höyng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser schmale Band Rainer Nägeles versammelt acht Essays zu Dramatikern, die für den Autor so etwas wie die Genealogie „eines radikalen modernen politischen Theaters“ ausmachen: Georg Büchner, Bertolt Brecht, Antonin Artaud und Heiner Müller. Der chronologischen aber losen Anordnung an Aufsätzen zu ausgewählten Stücken – Büchners „Dantons Tod“, Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, Müllers „Prometheus“ und „Philotekt“– und thematischen Schwerpunkten –“ Ökonomie der Pest“ und zum Obszönen – fehlt zwar eine begründende Einleitung, dennoch entwickelt sich aufgrund wiederholender Aspekte in thematischer und insbesondere in methodologischer Hinsicht bald ein roter Faden: Die genannten Dramatiker zeigten Körper und Geist beziehungsweise das sprechende und handelnde Subjekt als nie mit sich identisch, so dass sich ein anderer Schauplatz einstelle, indem dieses Auseinanderfallen als nicht auflösbare Verschränkung in einem „Zwischenraum“ zur Darstellung gelange. Diese Zusammenfassung des wiederkehrenden Hauptarguments verweist bereits auf den Ursprung von Nägeles intellektueller Heimat: den Dekonstruktivismus.

Obwohl die dekonstruktivistische Methodologie längst nicht mehr das dominante Paradigma komparatistischer und literaturwissenschaftlicher Arbeit ausmacht, zeigen Nägeles Lektürefrüchte gerade aufgrund ihrer Ungleichzeitigkeit – auch daran ablesbar, dass zwei publizierte Aufsätze aus den Jahren 2000 und 2005 inkludiert wurden – die Stärken als auch die Schwächen jenes theoriegeleiteten Ansatzes, der vor drei Dekaden die akademischen Gemüter erhitzte, weil er das Bild eines autonom oder rational agierenden Subjektes und andere wohlgehütete Grundannahmen ins Wanken brachte.

Zu den Schwächen gehört nicht nur die Auslassung einer Einleitung oder Begründung der alles in allem arbiträr wirkenden Aufsatzsammlung, sondern auch die Aussparung performativer, literaturhistorischer, theaterwissenschaftlicher oder rezeptionshistorischer Aspekte. Dass beispielsweise Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist oder Arthur Schnitzler vielleicht auch das eine oder andere zum (politischen) Theater der Moderne beigetragen beziehungsweise sich theoretisch darüber geäußert haben, bleibt gänzlich ausgeblendet. Umso mehr wird allerdings auf Friedrich Hölderlins poetische Verfahrensweise rekurriert, was trotz der Fragment gebliebenen Tragödie „Der Tod des Empedokles“ und seiner Schriften zu Sophokles angesichts der erwähnten Lücken und dem Fokus auf das moderne Drama bisweilen befremdlich anmutet. Dieser Band richtet sich an fortgeschrittene LeserInnen, um nicht zu sagen Eingeweihte, die im Französischen und Griechischen ebenso versiert sind wie mit den vielfältigen philosophischen, literatur- und theaterhistorischen und theoretischen Bezügen, so dass es beispielsweise keinem Leser ein Geheimnis sein solle, dass „die Figur von Bild- und Leibraum dem Surrealismus-Essay von Walter Benjamins entstammt“.

Unabhängig von diesen möglichen kritischen Einwände gegen die expliziten Lücken und die impliziten Voraussetzungen, zeichnen sich die einzelnen Aufsätze durch die Stärken dekonstruktivistischer Lektüre im allgemeinen und Nägeles Talent zum close reading im besonderen aus. Wenn unter LiteraturwissenschaftlerInnen das Wort Philologie nicht negativ belastet wäre, so könnte man es hier einmal als bestes Exempel einer solchen (ehemaligen) Disziplin begreifen. Oft spürt Nägele einzelne Wortschöpfungen auf oder geht vermeintlich Abgelegenem nach, um ihnen auf den Grund zu gehen beziehungsweise sie in ihren Zwischenräumen auszuloten, wodurch er einerseits Genauigkeit des Lesens fordert und fördert und er andererseits überraschende wunderbare literarische Einblicke und historische Assoziationen hervorlockt, wenn er beispielsweise den Gemeinplätzen zum Trotz Affinitäten zwischen Bertold Brecht und Antonin Artaud entdeckt. Die Aufsätze, die unabhängig von den übrigen mit Gewinn gelesen werden können, sind arabeskengleich im Sinne Friedrich Schlegels gestaltet, in der „die unendliche Fülle in der unendlichen Einheit“ sichtbar wird beziehungsweise Inhalt und Form stets aufeinander bezogen bleiben. Gerade weil die Aufsätze in Inhalt und Form lose, aber durch das erwähnte Hauptargument untereinander verbunden bleiben, lässt sich der Band anhand eines Aufsatzes skizzieren, um ihn als pars pro toto aufgefasst zu wissen.

„Die Gesetze der menschlichen Glückseligkeit“ betitelt Nägele seinen Aufsatz zu Brechts Libretto und Kur Weills dreiaktiger Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1930), dem längsten Essay der Sammlung. Wie bei allen übrigen Dramentexten im Band wird auch Brechts Libretto weitestgehend losgelöst von Entstehung, Aufführung, Genre (in diesem Fall Oper), Rezeption et cetera besprochen. Hätte man gleich einem Bibliothekar Schlagwörter zu verzeichnen, so ergäben sich entlang des Textes folgende Leitwörter: Zäsur oder Schnitt; geografische Angaben; Glückseligkeit in Form von Fressen, Liebesakt, Boxen und Saufen versus Glück; Aristoteles, Hölderlin, Überarbeitungen; „Mahagonny“ als exemplarischer Konflikt im ganzen Werk Brechts; Antisemitismus beim jungen Brecht; barocke Figur des Glücksrades; semantische Überdeterminierung von Fall; biblische Schöpfungsszene und lutherische Übersetzung; das Projekt der „Moderne“ oder „Aufklärung“ birgt unabgearbeitete Verdrängungsschichten; die Frau untersteht dem Todestrieb; der Alabama-Song; die Goldstadt Mahagonny als Ort der Heilung vom Unbehagen der Kultur; Mahagonny als anderer Schauplatz, bei dem die Ökonomie und das Begehren sich verknüpfen; Brechts sprachliche Nähe zu Hölderlin; Glückseligkeit offenbart sich im Lachen; Fressszene als paradigmatische Szene des Begehrens; Liebeslied und Liebe und wieder Hölderlin; Theater als Raum sprechender Körper; die Nähe Brechts zu Artaud; Boxkampf; Verdichtung von Theater, Gericht und Chirurgie als Motive der Moderne; Gesetze begründen und vereiteln Glückseligkeit.

Diese schnittartige, thematische Auflistung verweist zum einen auf die assoziative Vorgehensweise Nägeles, die es ihm erlaubt, anhand isolierter Textsegmente eine Fülle von (theater)historischen, biografischen, poetischen, philosophischen, zivilisationskritischen Aspekten zu verknüpfen. Dass diese Vielfalt jedoch nie ausufert oder sich ins Nirgends und mithin an Form verliert, liegt daran, dass jede einzelne Beobachtung oder jeder vorgebrachte Aspekt bereits die Summe aller anderen mitschwingen lässt, so dass jeder einzelne Gedankengang simultan beides ist, Vor- und Nachweis oder Antizipation und Retrospektive. Für den Aufsatz zu Brechts Libretto „Mahagonny“ hat das zur Folge, dass die inneren Widersprüche von Brechts epischem Theater bei Nägele eine kreativ-intellektuelle Schubkraft freisetzen, sie in ihrer ganzen Spannung freizulegen: während Brecht einerseits gegen die Trennung des ganzen Menschen angehen wollte, partizipierte sein Theater an den zivilisatorischen Verdrängungsmechanismen oder der schwarzen Aufklärung, die Schauplätze als ein Anderes freizusetzen. Um diesen jeweils anderen Schauplatz bei Büchner, Brecht, Artaud und Müller der LeserIn sichtbar zu machen, darf und sollte man sich Nägeles Motto anvertrauen: „Vergessen wir also, um zu lesen, noch einmal“.

Titelbild

Rainer Nägele: Der andere Schauplatz. Büchner, Brecht, Artaud, Heiner Müller.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2013.
174 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783861091974

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