Die Signatur der Freiheit?

Lukas Bärfuss ergründet in seinem Roman „Koala“ die Quellen unserer tiefsitzenden Angst vor der Muße und vor dem freien Willen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Der Daumen, sagen die einen, das Lachen, meinen andere. Oder ist es der Suizid, „der freie Tod, der ja nur kommt, weil ich will“, wie es in Friedrich Nietzsches „Zarathustra“ heißt? Diese letzte Antwort beleuchtet Lukas Bärfuss in seinem Roman „Koala“, seinem zweiten nach „Hundert Tage“. Ist ein Selbstmord Zeugnis eines „Heroismus des freien Willens“ oder nur der Feigheit?

Ein Schriftsteller fragt sich dies aus Anlass des plötzlichen Selbstmords seines Bruders. Während er selbst vor mehr als zwanzig Jahren dem Ort seiner Jugend förmlich entfloh, blieb sein Bruder darin gefangen. Eine letzte Begegnung ergab sich durch die Einladung an den Schriftsteller, im Ort einen Vortrag über Heinrich von Kleist zu halten. Das eher flüchtige Treffen endete, ohne dass sie miteinander ins Gespräch gekommen wären. Monate später legte sich der Bruder in die Badewanne und tötete sich mit einer Überdosis Heroin. Zuvor hatte er ein Testament verfasst, die Wohnung aufgeräumt und die Türe offen gelassen, damit sie nicht aufgebrochen werden musste.

Dieser Tod macht den Schriftsteller und Ich-Erzähler betroffen. Vor allem die Art und Weise, wie der Bruder das Leben hingab, „wie den Schlüssel einer Wohnung, aus der man zieht“, beunruhigt ihn. Er ist traurig, dann auch wütend, vor allem aber ratlos. Auf seiner Suche nach Antwort bemerkt er, dass etliche Menschen in seinem Bekanntenkreis vergleichbare Erfahrungen gemacht haben, darüber sprechen will aber niemand. Deshalb weitet er seine Erkundungen aus, sucht in der Philosophie nach Antwort, und in der Psychiatrie, bloß um zu konstatieren, dass die Wahrheit wohl nur beim Bruder selbst zu finden wäre.

Erst nach und nach verdichten sich die Erinnerungen an seine „schattenhafte Existenz“ zum Bild eines Menschen, dem eine sonderbare Trägheit und Antriebslosigkeit eigen schien. Das Nachdenken darüber führt den Erzähler schließlich zu einem Erlebnis, in dem er einen Kern der brüderlichen Biografie zu erkennen meint: das nächtliche Alptraumszenario, als er seinen Pfadfindernamen zugeteilt erhielt: „Koala“ – ausgerechnet jenes Tier, das sich durch eine natürliche Faulheit auszeichnet.

Lukas Bärfuss’ Roman gründet auf einer autobiografischen Erfahrung. Im Dezember 2011 beging sein Bruder Selbstmord. Den besagten Vortrag über Heinrich von Kleist hat er ein halbes Jahr vorher gehalten. In seinem Roman dient ihm der Selbstmörder Kleist nun nicht allein als Ankerpunkt für seine Erzählung, er ist ihm auch eine stilistische Referenz. Akkurat, präzise, dicht bedient sich Bärfuss dessen hypotaktischer Schreibweise, sie verschachtelt Gedanken und Begebenheiten, zugleich schafft sie Klarheit und Konzentration. Diese Diktion hilft dem Autor ebenso wie seinem Erzähler, sich gegen den brüderlichen Freitod zu wappnen und ihm dennoch so nahe wie möglich zu kommen. Vielleicht, ließe sich kritisch einwenden, gibt sich Bärfuss stellenweise etwas allzu beherrscht und distanziert. Andererseits treibt er sein Fragen gerade so konsequent und geradlinig voran, bis zu jenem schmerzhaften Punkt, an dem vielleicht eine mögliche Antwort erkennbar wird.

Allein gelassen mit seinem Wunsch, das Geschehene besser zu verstehen, steigt der Erzähler immer tiefer in die eigene Vorstellungswelt hinab. Alles, was er sich ausmalt, geschieht in seinem Kopf. Die nächtliche Erfahrung des Bruders ist reine Mutmaßung, er hat wohl kaum je mit ihm ein Wort darüber gewechselt. Dem entsprechend ist auch das brüderliche Räsonieren über sein Totemtier jenem nur untergeschoben. Während die Gedankenkreise immer weitere Bögen schlagen, verpuppt sich das Bild des Bruders mehr und mehr in den Vorstellungen des Erzählers.

Dabei rückt der Koala, diese „Karikatur der Harmlosigkeit“, in den Fokus der Aufmerksamkeit. „Ich wurde das Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben, etwas stimmte nicht“, spürt der Erzähler. Die Suche nach dem Kern seiner Irritation lässt ihn schließlich ins Ungefähre der australischen Kolonialgeschichte abdriften. 1788 waren die ersten Kolonisatoren – Gefangene und ihre Aufseher – aus England an der Küste des neuen Kontinents aufgetaucht. 14 Jahre später konnte erstmals ein freilebender Koala von einem Ingenieur namens Barrallier gefangen und in Spiritus eingelegt werden. Während dieser Zeitspanne ahnte niemand der Neuankömmlinge, wer sie heimlich von den Baumwipfeln herab beobachtete.

Der Erzähler verknotet sich förmlich in diese Pionierzeit, die sich vordergründig zusammenhangslos als Geschichte in der Geschichte entwickelt. Von den ersten Gefangenentransporten über die Versuche, auf dem unwirtlichen Kontinent Fuß zu fassen, bis hin zu den ersten Expeditionen ins Landesinnere, zieht sich eine Spur von Hybris, Demütigung und Wahnsinn, die direkt auf das mysteriöse Koala-Tier hinzuzielen scheint. Die Entbehrungen der Kolonisatoren werden von dessen Phlegma geradezu provoziert. Es macht ihnen Angst. An diesem Punkt findet Bärfuss überraschend den Dreh zurück zum Ausgangspunkt seiner Erzählung.

„Koala“ ist ein schillerndes Buch, das eine Fährte auslegt, der die Lesenden willig und gerne folgen. Präzise und hoch konzentriert lässt der Autor nie die Zügel schießen. Im Zeichen des Koalas verschiebt sich dabei sachte, fast unmerklich die Optik; die Schwäche des phlegmatischen Tiers mutiert zur furchteinflößenden Stärke – und auf einmal wird es dem Erzähler klar, ist er bereit, Schlüsse aus seinem irrenden und wirrenden, ins Weite schweifenden Suchen zu ziehen. Der Schlüssel liegt tatsächlich beim Koala – und somit beim Bruder selbst. Er hat sich ein Leben lang als würdiger Repräsentant dieses seltsamen Tieres erwiesen, das regungslos in den Bäumen liegt und sich vom Gift der Eukalyptusblätter ernährt. Wer sich derart dem Phlegma ergibt, ist frei von Angst, folgert der Erzähler. Es steht über dem Ehrgeiz, dieser Kerntugend des Menschen, die letztlich nur eine „Folge der Angst ist, die mit ihm in die Welt gekommen ist“. Gegen diese Angst schützt sich der Mensch seit je her mit Arbeit und Strebsamkeit, sie halten ihn auf Trab und verleihen seinem Leben anscheinend Sinn. Und auf einmal begreift der Erzähler auch die Scheu vor dem Selbstmord. Ein Selbstmörder klagt nicht an, mit seiner Tat fragt er vielmehr: „Warum seid ihr noch am Leben?“ Warum entflieht ihr nicht diesem Joch und macht Gebrauch von eurer Freiheit.

Das Nichtstun als Provokation, als Form des Widerstands in einer durchökonomisierten Welt. Die anfängliche Frage nach dem Suizid findet so zu ihrem eigentlichen Kern. Wer behält zuletzt Recht? Wer wie der Erzähler in der Mühle des Lebens zurecht zu kommen versucht, oder sein Bruder, der vom Leben nichts weiter erwartete, als dass es weiter ging, bis er es einmal beenden würde. Vielleicht – dämmert es dem Erzähler – war der Bruder gar nicht unglücklich. So hat es nur seine Umwelt sehen wollen. Eine Antwort ist das nicht, schon gar kein Trost.

Mit seinem Roman öffnet Lukas Bärfuss einen literarischen Echoraum, der über Kleist hinausweist. Dabei wäre nicht nur an Paul Lafargues satirisches „Recht auf Faulheit“, an Gontscharows „Oblomov“, an Kierkegaard oder Camus zu denken, sondern auch an den sarkastischen Roman des Surrealisten René Crevel, „Der schwierige Tod“ (1926), oder an das Werk des schwedischen Autors Stig Dagerman, wie Crevel ein Selbstmörder in jungen Jahren. Denn auch wenn der Selbstmord womöglich die „Signatur der Freiheit“ (Joseph Fletcher) trägt, steckt in ihm stets auch die Frage nach dem lebenswerten Leben. Dagerman hat sie – ähnlich wie der Erzähler bei Bärfuss – mit der Angst verknüpft. „Es ist die Tragik des Menschen von heute, dass er es nicht mehr wagt, Angst zu haben. Das ist unheilvoll, weil er infolgedessen auch aufhört zu denken“ – heißt es in seinem Debütroman „Die Schlange“ (1945). Und seine düstere „Insel der Verdammten“ (1946) erinnert im Kern an das australische Kolonialabenteuer. Je stärker die Angst wächst, umso mehr kommt unter verzweifelten Bedingungen die Menschlichkeit abhanden.

In diesem Feld der Referenzen lässt sich „Koala“ lesen. Bärfuss sucht weder die philosophische Gelassenheit eines Oblomov noch die existentielle Verzweiflung Crevels und Dagermans. Ihm hilft gewissermaßen die stilistische Gefasstheit Kleists literarisch über die Krise hinweg. Ein Trost ist sie nicht, wie Bärfuss in einem Interview bemerkt hat. Das wäre auch zuviel verlangt. 1954, kurz vor seinem Selbstmord, schrieb Stig Dagerman einen berührenden Text mit dem Titel „Unser Bedürfnis nach Trost ist unermesslich“.

Was zuletzt übrig bleibt, gleicht der zu Beginn des Romans anklingenden Kleist-Erzählung „Marquise von O…“. Darin geht alles gut aus mit Heirat und Kindern, doch bloß scheinbar, weil das versöhnliche Ende nur notdürftig über eine ruchlose Vergewaltigung hinwegtäuschen kann. Auch Bärfuss’ Ende ist nur scheinbar versöhnlich, weil der Erzähler für sich eine mögliche Antwort gefunden hat. Der Skandal des brüderlichen Selbstmords bleibt dahinter bestehen. Wie mit ihm umzugehen sei, lässt Lukas Bärfuss offen. Wer sein Buch liest, muss darauf eine persönliche Antwort finden.

Titelbild

Lukas Bärfuss: Koala. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
182 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835306530

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