Der Kampf mit dem Ungeheuer

Timo Rebschloe untersucht den Drachen im europäischen Mittelalter

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Texte und Vorstellungswelt des Mittelalters faszinieren (nicht nur) durch ihre Andersartigkeit und ‚Wunder‘ (in der Menagerie), die gerne in ideenreicher Ausschmückung in die Fantasy- und Popkultur Eingang gefunden haben. Timo Rebschloe hat eine detailreiche und ausführliche Untersuchung zum Drachen vorgenommen und damit ein Desiderat der Forschung vorgelegt.

Die Struktur der Arbeit erweist sich als sehr durchdacht, aber dadurch nicht immer übersichtlich; dies wird teilweise durch die eingeschobenen Zwischenfazits relativiert, die die vorangegangenen Betrachtungen nicht nur zusammenfassen sondern auch die Ergebnisse hilfreich in den Gesamtzusammenhang einbinden. Das Spektrum der Untersuchung ist sehr weit gefasst und betrachtet nicht nur Vorbilder des europäischen Drachen im Zweistromland und das Vorkommen des Drachen in der griechischen Mythologie sondern weitet auch den Fokus auf psychoanalytische Ansätze von Jung und Freud aus. Von diesen Vorüberlegungen ausgehend wendet sich Rebschloe dem Drachen im (christlichen) Europa und den damit verbundenen Ausprägungen zu, um dann einen Einschub zu den naturkundlichen Schriften vorzunehmen und von dieser Basis aus die volkssprachliche Literatur zu untersuchen, indem Heldenepik, Artusroman und Antiken-Roman aufgegriffen werden. Abschließend ergänzt Rebschloe seine Untersuchung mit der Betrachtung von ausgewählten Märchen, Sagen und Legenden und nimmt als letzten Gliederungspunkt die Drachen in der Kultur der Neuzeit in den Blick. Durch diese sehr erschöpfende Betrachtung entsteht ein weit gefächertes Panorama, das schlaglichtartig einen umfassenden Blick auf den Drachen in der europäischen Kultur erlaubt. Exkurse in den asiatischen Bereich vervollständigen den positiven Eindruck einer intensiven Auseinandersetzung.

In der Sache selbst begründet liegt das Problem der Untersuchung. Immer wieder betont Rebschloe, dass der Drache keine einheitlichen Merkmale oder Funktionen aufweist. Das beginnt ganz banal aber schwerwiegend bei der mhd. Benennung des Tiers (slange, wyrm, tracke etc.) und endet bei der unterschiedlichen Ausprägung seiner Darstellung – ist er Hortwächter? Hat er einen bösen Blick/Giftatem/Feueratem/Flügel/Füße etc.? So vielgestaltig die Drachen gedacht wurden, so verloren wirkt jeder Versuch einer Vereinheitlichung und davon ausgehend ist jede Abstrahierung oder der Versuch einer Interpretation der Drachenfigur fast immer zum Scheitern verurteilt. Rebschloe fügt, aus Mangel an eben diesen Möglichkeiten, seinen Beobachtungen eine sehr hilfreiche, gut durchdachte und übersichtliche Tabelle an, die zumindest das Vergleichen der einzelnen Drachen auf deskriptiver Ebene ermöglicht.

Das zweite Problem der Untersuchung besteht darin, dass der Drache im Laufe der Zeit zum topos zu verkommen scheint. Ein Pflichtprogramm in der Erzählung wird mit dem Drachen aufgerufen und routiniert abgearbeitet: Die Gestalt selbst bleibt meist vage, Beschreibungen sind karg und unsicher und der Held überwindet ihn oft mühelos – oder wird recht unheroisch verspeist. Ausnahmen bilden Fafnir, der „Beowulf“-Drache und der Elidia-Drache aus dem „Lanzelet“. Rebschloes Betrachtungen machen genau diese problematische Eigenschaft des Drachen sichtbar; auch die These, dass der Teufel in Drachengestalt auftritt oder der Drache zumindest des Teufels eifriges Helferlein ist, weist Rebschloe in den meisten der Fälle wohlbegründet von der Hand.

Der Leser der Untersuchung wird mit dem etwas unbefriedigenden Untersuchungsergebnis zurückgelassen, dass eine (in der Neuzeit) so monumentale Figur im europäischen Mittelalter zwar sehr präsent in den Köpfen der Menschen, aber nicht zwangsläufig in den Texten war. So hat die Untersuchung notwendigerweise einen kompilatorischen Charakter und erfasst dabei die unterschiedlichsten Textzeugnisse präzise, ohne einen befriedigenden, gemeinsamen Nenner wagen zu können.

Die Auswahl der Texte ist sinnvoll, auch wenn abseits von Chrétien de Troyes und „Beowulf“ der europäische Rahmen ein wenig zu kurz kommt; vermutlich hätten aber weitere Ausflüge in andere europäische Texte und Sprachen keinen weiteren Erkenntniswert erbracht. Schade, aber wahrscheinlich nicht vermeidbar, sind die Tippfehler, die sich in der Arbeit ansammeln, die aber die Verständlichkeit nicht wesentlich beeinträchtigen.

Insgesamt ist es lohnenswert, die Betrachtungen Rebschloes zur Kenntnis zu nehmen und gerade an den oben genannten Schwierigkeiten der Drachenfigur ließe sich eventuell weiterdenken. Warum gerade der Drache eine so prominente Rolle in der Gedankenwelt der mittelalterlichen (und heutigen) Rezipienten einnimmt, und worin die langlebige Faszination des Wesens eigentlich liegt, kann und will die Arbeit nicht beleuchten. Vergleichend und kompilatorisch leistet die Untersuchung aber mit solider Fundierung Pionierarbeit und füllt eine Lücke in der Forschung über Tierdarstellungen und das Wunderbare in der mittelalterlichen Literatur.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Timo Rebschloe: Der Drache in der mittelalterlichen Literatur Europas.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2014.
430 Seiten, 65,00 EUR.
ISBN-13: 9783825362058

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