Im Kino der Traumata

Mit Andreas Latzko ist ein Klassiker der Literatur zum Ersten Weltkrieg wiederzuentdecken

Von Michael PilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Pilz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist es übertrieben, den Schriftsteller Andreas Latzko einen Klassiker der Literatur zum Ersten Weltkrieg zu nennen? Wohl kaum, wenn man in Betracht zieht, dass seine erstmals 1917 als Eröffnungsband der „Europäischen Bücher“ bei Max Rascher in Zürich erschienene Erzählungssammlung „Menschen im Krieg“ buchstäblich in einer Reihe mit der deutschsprachigen Erstausgabe von Henri Barbusses „Le Feu“ und Leonhard Franks „Der Mensch ist gut“ erschienen ist und mit diesen bis heute bekannten Werken zu den frühen Zeugnissen einer Antikriegsliteratur über die Jahre 1914–1918 zählt, die noch unmittelbar während des Krieges selbst niedergeschrieben und verlegt wurde. Die zunächst anonym in der Schweizer Tagespresse sowie in René Schickeles Zeitschrift „Die Weißen Blätter“ erstveröffentlichten Erzählungen, denen Latzko im Jahr 1918 noch einen weiteren Sammelband unter dem Titel „Friedensgericht“ folgen ließ, wurden in Buchform schnell zu einem international übersetzten Bestseller. In den kriegführenden Staaten sofort verboten, machten sie schlagartig auf einen Schriftsteller aufmerksam, der von den Zeitgenossen in einem Atemzug mit den großen pazifistischen Autoren der Kriegs- und Zwischenkriegszeit wie Romain Rolland und Stefan Zweig genannt wurde.

Während die letzteren bis heute ihren Platz im Kanon der Weltliteratur gewahrt haben, ist der Name Andreas Latzkos freilich gründlich in Vergessenheit geraten. So gründlich, dass sogar die basale Registrierung biografischer Fakten in Nachschlagewerken von anerkannter Autorität durch gravierende Fehlinformationen gekennzeichnet ist. Die sowohl im „Österreichischen Biographischen Lexikon“ als auch im biografischen Normdaten-Eintrag der Deutschen Nationalbibliothek nachzulesende Angabe etwa, Latzko habe unter dem Pseudonym „Carl Seelig“ publiziert, identifiziert den Autor kurzerhand mit einem seiner wichtigen Förderer. Auf „Wikipedia“ ist diese offenkundige Verwechslung zwar nicht zu finden, dafür aber der Hinweis, Latzko sei auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in New York gestorben. Ob dieser Fehler mit seinem Todestag am 11. September zusammenhängt, der seit 2001 im kollektiven Gedächtnis so nachhaltig mit der Topografie der US-amerikanischen Metropole verbunden ist, dass man selbst den Sterbeort des runde sechs Jahrzehnte zuvor in Amsterdam aus dem Leben geschiedenen Autors kurzerhand dorthin verlegt?

Mag die Beantwortung dieser Frage getrost offen bleiben: Die Unsicherheiten und Widersprüche im Umgang mit der Biografie Andreas Latzkos sprechen jedenfalls für sich – ebenso wie die Tatsache, dass Latzkos 1950 posthum in einem Amsterdamer Verlag erschienenen und von seiner Witwe Stella Latzko-Otarowa ergänzten Erinnerungen mit dem Titel „Levensreis“ bis heute nicht aus dem Niederländischen ins Deutsche (rück-)übersetzt worden sind. Für das Verständnis der Werk- und der Lebensgeschichte wie für die Selbstdarstellung des Autors Latzko dürfte freilich gerade dieses Buch wichtiges Quellenmaterial bereithalten, das bis dato noch weitgehend ignoriert wurde. Die germanistische Fachwissenschaft jedenfalls hat kaum Interesse an Latzko als Gegenstand gezeigt. Eine verlässliche Biografie, die auch die gänzlich unterbelichteten Phasen seines Lebens wie etwa seinen Aufenthalt im revolutionären München der Räterepublik von 1919 im Umfeld Gustav Landauers und Ernst Tollers aufarbeiten würde, fehlt bislang. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit seinem literarischen Werk blieben auf vereinzelte, zum überwiegenden Teil vonseiten der Auslandsgermanistik unternommene Anläufe beschränkt. Sieht man von der von János Szabó an entlegener Stelle herausgegebenen und längst vergriffenen Sammlung „Der Doppelpatriot“ von 1993 einmal ab, liegt eine editorisch befriedigende Auswahlausgabe aus Latzkos Gesamtwerk nicht vor. Eine Edition seiner verstreut überlieferten, für eine Geschichte der intellektuellen Netzwerke im Europa der Zwischenkriegszeit gleichwohl aufschlussreichen Briefe (unter anderem an Romain Rolland, Stefan Zweig oder Hermann Bahr) scheint nicht in Sicht.

Dass Latzko auf diese Weise zu einem einschlägigen Beispiel für die posthume Dekanonisierung eines zu Lebzeiten international bekannten Schriftstellers geworden ist, mag vielerlei Ursachen haben. Ob der von den wenigen ausgewiesenen Latzko-Experten wie János Szabó oder Andrew Barker wiederholt angeführte Grund, der Autor passe eben in keine Schublade, eine ausreichende Erklärung dafür liefert, sei dahingestellt. Heute immerhin dürfte es gerade seine Resistenz gegen eindeutige (respektive simplifizierende) Etikettierungsversuche sein, die dazu beitragen könnte, das Interesse an Leben und Werk Andreas Latzkos im Zeichen trans- und interkultureller Fragestellungen wieder neu zu entfachen. Aus den belegbaren Etappen seiner Biografie jedenfalls entsteht das Bild eines Autors, der von Anfang an zwischen den unterschiedlichsten Sprachen und Kulturen hin- und hergewechselt ist.

1876 in Budapest als Sohn eines ungarischen Vaters und einer Wiener Mutter in einen assimilierten jüdischen Haushalt hineingeboren, wurde Latzko nach römisch-katholischem Ritus auf die Namen Adolf Andór getauft, verfasste seine ersten literarischen Arbeiten noch auf Ungarisch und begann erst nach seinem 1901 erfolgten Umzug nach Berlin konsequent in seiner ‚Mutter-Sprache’ Deutsch zu schreiben. Nachdem er sich nach Kriegsende zunächst für ein rundes Jahrzehnt in Salzburg niedergelassen hatte, übersiedelte er schließlich bereits im Jahr 1931 nach Amsterdam, wo es ihm gelang – weitgehend unabhängig von der Formierung einer deutschsprachigen Exilliteratur – mit den Übersetzungen seiner Bücher und Artikel ins Holländische auf dem niederländischen Buchmarkt zu reüssieren. Noch bis weit nach 1945 scheint sein Name im literarischen Diskurs der Niederlande präsenter gewesen zu sein, als im deutschsprachigen Raum. 1948, ein halbes Jahrzehnt nach seinem Tod, wurde Latzko auf dem Amsterdamer Friedhof Zorgvlied ein bronzenes Denkmal gesetzt, das bis heute erhalten geblieben ist. In dem auch in stilistischer Hinsicht keiner klaren Richtung zuzuordnenden und allenfalls mit seinen Antikriegsbüchern im Umfeld des Expressionismus zu verortenden Latzko gilt es mithin noch immer, einen Schriftsteller von buchstäblich europäischem Format zu entdecken.

Eine erste Gelegenheit dazu bieten nun gleich zwei Neuausgaben jenes Buches, dem Latzko in erster Linie seine kurzzeitige Berühmtheit zu verdanken hatte: Die Novellensammlung „Menschen im Krieg“ von 1917 liegt seit Kurzem nicht nur als gebundene Ausgabe in der Reihe „Revisited“ des Wiener Milena-Verlags vor, sondern auch als achter Band der „Reihe Erster Weltkrieg“ im „Elektrischen Verlag“ Berlin, wo der Text neben einer E-Book-Version auch als gedrucktes Taschenbuch zu haben ist. Darüber hinaus ist in Wilhelm Krulls bereits im Vorjahr bei Wallstein herausgekommener Anthologie „Krieg – von allen Seiten“ die Erzählung vom „Heldentod“ des ungarischen Leutnants Otto Kádár aus Latzkos „Menschen im Krieg“ enthalten – womit es nach langen Jahrzehnten des Desinteresses nachgerade eine kleine Latzko-Renaissance auf dem deutschsprachigen Buchmarkt zu verzeichnen gibt. Dass dem so ist, dürfte freilich nicht zuletzt der glücklichen Koinzidenz geschuldet sein, dass sich das literarische Ausgrabungen befördernde Weltkriegsgedenken des Jahres 2014 termingerecht günstig mit jenem Zeitpunkt überschneidet, in dem die Werke des 1943 verstorbenen Autors gemeinfrei geworden sind und somit problemlos nachgedruckt werden können.

Gleichwohl bieten die zwei Neuausgaben der „Menschen im Krieg“ nicht einfach nur einen schlichten Neusatz der Erzählungssammlung von 1917 (respektive der 3. Auflage von 1918, die erstmals nicht mehr anonym, sondern unter dem vollen Namen des Autors veröffentlicht worden war). Beide Editionen sind vielmehr auch darum bemüht, durch sachkundige Nachworte des jeweiligen Herausgebers in Leben und Werk Andreas Latzkos einzuführen, um den Leser mit einem Unbekannten bekannt zu machen. Der Salzburger Germanist Hans Weichselbaum, der diese Aufgabe für den Milena-Verlag übernommen hat, tut dies mit einem philologisch soliden Nachwort, das neben der kargen Forschungsliteratur auch entlegenere Rezeptionsdokumente und ungedruckte Nachlassbestände wie etwa Briefe Latzkos an Hermann Bahr einbezieht und zudem pointierte interpretatorische Einordnungen der enthaltenen Einzelerzählungen vornimmt. Demgegenüber wirbt Eckhard Gruber in der von ihm besorgten Ausgabe des „Elektrischen Verlags“ zwar nicht minder kundig und engagiert für eine Wiederentdeckung des Autors, wenn er neben der Rekapitulation der biografischen Fakten etwa die zahlreichen literarhistorische Kontextbezüge von Latzkos Schriften zur zeitgenössischen Kriegs- und Antikriegspublizistik von Karl Kraus bis Alice Schalek herausarbeitet, verzichtet aber bei seinen zahlreichen Zitaten bedauerlicherweise immer wieder auf einen befriedigenden Quellennachweis. (Was freilich nicht der einzige Mangel einer Ausgabe ist, der man das fehlende Lektorat deutlich genug ansieht: auch die zahlreichen Druckfehler schmälern den positiven Gesamteindruck dieses zweifellos um die Sache bemühten und ambitionierten Bandes leider erheblich).

Als Ausgangspunkt ihrer Interpretationen greifen beide Herausgeber ein naheliegendes biografisches Faktum auf, aus dem sich zwar nicht zwangsläufig eine streng autobiografische Lesart der einzelnen Erzählungen entwickeln lässt, das aber sehr wohl ein wichtiges, wenn nicht sogar das entscheidende Movens für die Entstehungsgeschichte des Buches vor Augen führt: Latzko, der vor 1914 zunächst versucht hatte, in Berlin und München das Leben eines freien Schriftstellers und Journalisten zu führen, findet sich nach Kriegsausbruch in der Rolle eines Reserveoffiziers der k. u. k.-Armee wieder und wird zuletzt an der italienischen Front am Isonzo eingesetzt, wo er nach einer Malaria-Erkrankung noch im Jahr 1915 einen schweren psychischen Zusammenbruch erleidet. Romain Rolland liefert in seinem Tagebuch den einschlägigen Bericht dazu, der sich einer späteren Selbstaussage Latzkos in einem Gespräch verdankt und von Hans Weichselbaum im Nachwort seiner Edition wie folgt zitiert wird: „Er hatte einen schweren Nervenschock. Er hat gesehen, wie zwei Ochsen und drei Männer von einer Granate in Stücke gerissen wurden. Im ersten Augenblick spürt er nichts. Aber zwei Tage später, als man eine Platte mit noch blutigen Steaks auf seinen Tisch stellte, begann er zu heulen, spie, wurde von Krämpfen geschüttelt. Sechs Monate zitterte er am ganzen Leibe und verweigerte jede Nahrung.“

Der gängigen (militär-)medizinischen Klassifikation der Zeit entsprechend, wurde Latzko als typischer Fall eines sogenannten „Kriegszitterers“ eingestuft. Wie Eckhard Gruber eingehend ausführt, würde man heute von einer „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS) sprechen. Nach mehrmonatigen Aufenthalten in diversen Kriegsspitälern der Monarchie wurde Latzko zur Rekonvaleszenz in die neutrale Schweiz geschickt, wo er in Zürich nicht nur Anschluss an die dortigen pazifistischen Intellektuellen-Kreise fand und wieder zu schreiben begann, sondern sich auch erfolgreich seiner abermaligen Einberufung zum Frontdienst entziehen konnte.

Wie der siebzehn Jahre jüngere Ernst Toller und zahlreiche andere Autoren der Zeit gehört auch Andreas Latzko zu den psychisch Versehrten des Krieges, für die das Schreiben jenseits der politischen Wirkungsabsicht zweifellos auch über eine eminent therapeutische Dimension verfügte. Insofern sind die Erzählungen, die der Band „Menschen im Krieg“ versammelt, in mehrfacher Hinsicht als realitätsgesättigte Zeugnisse der Weltkriegslandschaft und ihrer unterschiedlichen Zonen der Verwüstung zu lesen: Latzko wusste aus eigener Erfahrung nur zu gut, wovon er schrieb, wenn er nicht nur vom Fronterlebnis und vom Leben im Hinterland erzählt, sondern auch von den Feldlazaretten, den Kriegsspitälern und von den Zellentrakten der Militärpsychiatrie.

„Menschen im Krieg“ versammelt sechs zyklisch angeordnete, im Einzelnen jedoch unabhängig voneinander lesbare Erzählungen, in denen die Traumatisierungen, Verwundungen und Versehrungen der einfachen Soldaten und ihrer Angehörigen vom „Abmarsch“ in der ersten Erzählung bis zur „Heimkehr“ der Verstümmelten in der letzten Geschichte im Zentrum stehen. Kontrastiert wird diese Perspektive in der Erzählung „Der Sieger“ in der Mitte des Bandes, in der mit bitterer Satire das Porträt eines hochrangigen ‚Schlachtenlenkers’ gezeichnet wird, der im sicheren Abstand zur Front residiert und keine größere Furcht als diejenige kennt, der Krieg könnte vorzeitig zu einem Ende kommen und ihn solchermaßen um die Lorbeeren seines Feldherrenruhms bringen. Doch freilich: „Gott sei Dank! Noch gab es Krieg.“

Charakteristisch für die literarisch ambitionierte Schreibweise wie für die desillusionierende Wirkungsabsicht des Autors Latzko sind die innovativen und mitunter kühnen Bilder, die er für die Beschreibung der traumatischen Wirkungen von physischer und psychischer Gewalt, aber auch für die Konditionierungen des soldatischen Habitus findet, denen die Körper im Krieg unterworfen sind: Körpergedächtnis und Körperschriften, wie sie Aleida Assmann definiert, kommen in diesen Texten wiederholt durch Metaphern zur Sprache, die auf die seinerzeit neuen technischen Medien rekurrieren – vom Kinoprojektor bis zum Grammophon. So wird etwa das letztere als zentrales Motiv in der bereits erwähnten Erzählung „Heldentod“ eingeführt, in der einem mit schweren Kopfverletzungen im Feldlazarett liegenden Leutnant während einer finalen Fiebervision die spitzige Nadel eines Tonabnehmers durch die Schädeldecke ins Gehirn dringt, um von dessen Windungen einen ungarischen Militärmarsch abzuspielen. Am Ende marschieren vor dem Sterbenden in surrealen Bildern entworfene Bataillone von Artilleristen auf, denen die eigenen Köpfe durch Grammophonplatten ersetzt wurden – ebenso gewaltsame wie groteske „Kopplungen von Fleisch und Maschine“ (im Sinne Friedrich Kittlers), die nicht nur auf ihre Weise die „kentaurischen“ Phantasien eines Ernst Jünger von der „organischen Konstruktion“ technisch steuerbarer Massen aus den 1930er-Jahren vorwegzunehmen scheinen, sondern diese zugleich von der entgegengesetzten Position eines engagierten Pazifisten aus ad absurdum führen.

Tatsächlich begegnet der Krieg bei Latzko nicht zuletzt als ein Medien-Krieg, in dem die Trichter der Grammophone buchstäblich zu Waffen in den Planquadraten der Schützengrabenlandschaft werden und die Darstellbarkeit respektive Nicht-Darstellbarkeit der letzteren an fotografische und kinematografische Projektionen gekoppelt bleibt: Wenn Krieg Kino ist und Kino Krieg, wie Paul Virilio meint, so beschwört Latzko ein Kriegs-Kino der endlos reproduzierten Traumata, das seinen gemäßen Ort im Spannungsfeld der Heterotopien findet – zwischen den Schreckensräumen der Front und der psychiatrischen Anstalt, in denen sich etwa der Tagebuch schreibende Protagonist aus der Ich-Erzählung „Der Kamerad“ einer furchtbaren Privatvorführung ausgesetzt sieht: „Auch mir hat der Weltkrieg einen Kameraden beschert. […] Er hat sich in mich hineingefressen, sich häuslich in mir niedergelassen; er sitzt in mir, wie der geheimnisvolle Zauberer der Lichtspieltheater in dem schwarzen Kasten, über den Köpfen der Zuschauer an der Kurbel hockt, und wirft sein Bild, durch meine Augen, auf jede Mauer, jeden Vorhang, jede Fläche, die meine Blicke auffängt. […] Mein Hirn liefert das Bild, meine Augen besorgen die Projektion, an der Kurbel aber sitzt der Tote! Er ist der Filmarrangeur; die Vorstellung beginnt, wenn’s Ihm so paßt und hört nicht auf, so lange Er die Kurbel dreht. Wie könnte ich nicht sehen, was Er mir zeigt? Schließe ich die Augen, so fällt das Bild eben auf die Innenwand meiner Augenlider, und das Drama spielt in mir, statt weit weg über Türe und Tapete zu tanzen.“

Das Projektionsbild des toten Kameraden, von dem hier die Rede ist und das den Erzähler mit quälender Gewalt kontrolliert, zeigt ein im Grabenkrieg entstelltes Menschengesicht – ein gewaltsam zur Fratze deformiertes Antlitz, dessen Beschreibung in dem Ausruf gipfelt: „Das war nichts Menschliches mehr …!“

Wenn Joseph Roth drei Jahre später am Ende seiner Reportage „Lebende Kriegsdenkmäler“ über die in abgelegenen Militärspitälern separierten Gesichtsverletzten fordert, in den Kinosälen der Weimarer Republik anstelle der Wochenschauen vor Beginn des Hauptfilms immer wieder das fotografische Porträt eines „Mannes ohne Lippen“ einzublenden, um Verdrängtes sichtbar zu machen und politische Aufklärung durch mediale Schockwirkungen zu erzwingen, und wenn kurz darauf Ernst Friedrich in seinem Collage-Buch „Krieg dem Kriege“ von 1924 ebensolche Bilder von Gesichtsversehrten aus dem medizinischen Fachdiskurs herauslöst, um mit derselben Stoßrichtung eine auf absichtsvolles Vergessen gepolte Nachkriegsöffentlichkeit zu adressieren, ist es genau diese schonungslos vorgeführte „Fratze des Krieges“, die schon in Latzkos frühen Erzählungen die traumatische Dimension der Schlachtfelder sichtbar machen soll und als mahnende Chiffre für deren Grauen schlechthin fungiert: Die Deformation der Köpfe, die Versehrung der Körper wie die Verwundung der Psyche durch den Krieg sind das Leitmotiv seiner pazifistisch engagierten Erzählungen, die immer wieder die sprachliche Mitte halten zwischen expressionistischem Ausdruckspathos über das Leid der geschundenen Kreatur und einer ebenso nüchternen wie ernüchternden Medien-Metaphorik aus den Inventaren der technisierten Welt.

Ob die beiden Neuausgaben dieser Erzählungen zu einer echten Wiederentdeckung Andreas Latzkos über den aktuellen Anlass des Weltkriegsgedenkjahres hinaus führen werden, wird sich zeigen. Zu wünschen wäre es diesem Autor und seinem Werk jedenfalls, das auch jenseits des einstigen Bestsellers „Menschen im Krieg“ eine eingehendere Relektüre lohnen würde.

Titelbild

Wilhelm Krull (Hg.): Krieg - von allen Seiten. Prosa aus der Zeit des Ersten Weltkrieges.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
222 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313460

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Andreas Latzko: Menschen im Krieg.
Mit einem Nachwort von Dr. Hans Weichselbaum.
Milena Verlag, Wien 2014.
180 Seiten, 20,90 EUR.
ISBN-13: 9783902950116

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Andreas Latzko: Menschen im Krieg.
Elektrischer Verlag, Berlin 2014.
132 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783943889512

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch