Familienunglück

Eun Heekyung beschreibt in ihrem Roman „Geheimnisse und Lügen“ Episoden aus der Zeit des südkoreanischen Wirtschaftswunders

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Will man wirklich immer die Wahrheit wissen? Manchmal sind die Geheimnisse und Lügen, die Eun Heekyungs Roman den Titel geben, für das Zusammenleben entschieden vorteilhafter: zum Beispiel im Falle der Familie Chong, die über Generationen hinweg mit der Familie Choi um die Vorherrschaft in einer Kleinstadt in der südkoreanischen Provinz gestritten hat.

Mit Chong Chonguk, der in den 1960er-Jahren als Bauunternehmer aufsteigt, scheint der Kampf entschieden. Allerdings ist Chonguk nur von mittlerer Gewissenlosigkeit und nicht klug genug in der Wahl seiner politischen Bündnispartner. So steht am Ende seine Pleite und der Umzug der Familie in die Hauptstadt Seoul.

Doch ist all das Vorgeschichte. Die eigentliche Handlung setzt mit dem Tod Chonguks und dem Auftrag an seine beiden Söhne ein, das letzte verbliebene Häuschen in der Heimat zu verkaufen und den Erlös an eine ihnen bis dahin unbekannte Verwandte weiterzugeben. Die Brüder könnten kaum unterschiedlicher sein. Der stets distanzierte Yongjun ist der Musterschüler, die Hoffnung der Familie auf Wiederaufstieg, der dann doch nur ein mittelmäßiger Regisseur geworden ist. Yonguh dagegen war stets das Sorgenkind, das Streiche verübte und später weglief. Entsprechend erhielt er Zuneigung und kann Zuneigung erwidern. Selbstverständlich mögen sich die Brüder nicht.

Mehr Leute als erwartet wollen das Häuschen unbedingt erwerben. Ihre sehr unterschiedlichen Gründe liegen alle in der Vergangenheit; die Brüder erfahren einiges über die Geschichte, was sie geahnt haben, und anderes, was sie sich nicht hatten vorstellen können. Die Anlage des Romans erlaubt es der Autorin Eun, einen Überblick über die koreanische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu geben, von den Auseinandersetzungen der Kolonialzeit bis hin zu der raschen Modernisierung seit 1960. Im noch patriarchal geleiteten Familienbetrieb Chong Chonguks treten die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen auf. Die autoritär regierte Familie aber zerfällt genauso wie das Bauunternehmen. Der Auftrag, den der Vater den Söhnen hinterlässt, ist wie eine letzte Mahnung, dass man der Familie nicht entkommen könne. Tatsächlich lernen die Brüder, indem sie sich wieder der Heimat zuwenden müssen, dass sie nicht so befreit sind wie besonders der Regisseur Yongjun gehofft hatte. Doch ist das Resultat nur Hass und Streit. Die Geheimnisse zu erfahren, die Lügen aufzudecken, klärt die Lage und macht nicht glücklicher.

Wer die bisher ins Deutsche übersetzten Werke Eun Heekyungs kennt, dürfte von diesem Roman überrascht werden. Die in dem Band „Das Schöne verschmäht mich“ gesammelten Erzählungen schildern Einzelschicksale im gegenwärtigen Südkorea. Einsamkeit ist auch Thema in „Die Schachteln meiner Frau“ in dem von Ahn Sohyun und Heidi Kang herausgegebenen Band „Ein ganz einfaches gepunktetes Kleid“. Dort beschreibt Eun aus der Sicht eines Ehemannes, wie seine Frau, von ihm kaum begriffen, in einer isolierten und sinnlosen Existenz langsam verrückt wird. Anders als dieser ernste und auf die wesentlichen Stationen des Verlaufs konzentrierte Text gibt der Roman „Ein Geschenk des Vogels“ (im Original 1995, auf Deutsch 2005 im Pendragon Verlag) ein breites Familienpanorama. Die junge Erzählerin, deren Perspektive Eun wählte, durchschaut die Verhältnisse und demaskiert sie in einem sarkastischem Ton, der in der eher ernstgestimmten koreanischen Gegenwartsliteratur erfrischend wirkte.

Mit „Geheimnisse und Lügen“ dagegen nähert sich Eun in Korea etablierten Erzählmustern wieder an. Nur ganz selten findet sich noch der Witz des zehn Jahre zuvor entstandenen Romans, und über weite Strecken werden in ernstem und manchmal sogar belehrendem Ton historische und landeskundliche Informationen gegeben. Das kann durchaus instruktiv sein: Was Eun über die „Kleinstadt K.“ und die in ihr und über sie umlaufenden Meinungen schreibt, erlaubt wertvolle Einblicke in Denkweisen, wie sie auch im modernen Korea noch nicht verschwunden sind.

Der Roman verlangt von den Lesern, sich intensiv auf diese Weltsichten einzulassen. In gewisser Weise ist das ein Vorteil. Die 1959 geborene Eun vermeidet so das Problem vieler koreanischer Autoren und Autorinnen ihrer Generation, etwas wahllos westliche Schreibweisen zu vermischen und sich auf dieser Grundlage als postmodern feiern zu lassen. Allerdings ist Euns Roman über weite Strecken etwas mühsam zu lesen. Auf der einen Seite fehlt jede novellistische Zuspitzung und wirkt manche Passage, besonders auf der Gegenwartsebene, entbehrlich. Auf der anderen Seite sind manche Ereignisse aus der Vergangenheit nur angedeutet und hätten eine breitere Schilderung verdient, um romanhaft-plastisch hervorzutreten.

Es ist dies also eine Übersetzung, die man weniger aus literarischem als aus kulturellem Interesse lesen wird. Wer etwas über koreanische Sichtweisen auf die gegenwärtige Gesellschaft und die jüngste Vergangenheit erfahren möchte, dem ist dieser Roman zu empfehlen.

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Eun Heekyung: Geheimnisse und Lügen. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Edeltrud Kim und Kim Sun-Hi.
Ostasien Verlag, Gossenberg 2013.
271 Seiten, 20,80 EUR.
ISBN-13: 9783940527691

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