Nach dem Versprechen

Brasilien lesen nach der Fußball-Weltmeisterschaft

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

‘Zeit, um sauber zu machen’ – so überschreibt der brasilianische Journalist Pedro Motta Gueiros den letzten Abschnitt seines Artikels über das Spiel am Tag nach der historischen Niederlage Brasiliens gegen Deutschland. 7-1. Sauber gemacht haben die Brasilianer tatsächlich, zunächst nämlich sich selbst vor dem Spiel gegen die Holländer um den dritten Platz: die seleção verbrachte den Tag beim Coiffeur – und verlor das Spiel um dann lautstark und unter vielen Tränen Besserung zu geloben. Die Fernsehbilder zeigten passend dazu ins leere blickende Fans, traurige Alte und verzweifelte Kinder, schöne Frauen mit großen, niedergeschlagenen Augen aus denen in slow-motion eine Träne kullert und immer wieder die enttäuschten Schönlinge auf dem Rasen. Kaum eine WM, wo man so viel Ästhetik gesehen hat: Tattoos auf perfekt trainierten Männerkörpern in allen Ausführungen, in Szene gesetzte Fans, über 20 verschiedene Torkameras, die wichtige Szenen in nahezu jedem beliebigen Winkel aufzeichnen und wieder und wieder abspielen konnten. Und dazu die Choreographie der Gewalt: kaum eine WM war jemals brutaler und dennoch gab es seit 1986 nie so wenige Karten wie jetzt in Brasilien. Dafür konnte man sich die Fouls zeitweise bis zu fünf Mal in der super-slow-motion ansehen und kurze Zeit später bei Youtube. Den Anlauf, den Aufprall, das schmerzverzerrte Gesicht, alles in Hochglanzästhetik, viel besser ausgeleuchtet und aufgenommen als bei Box-Übertragungen oder Kämpfen der Mixed Martial Arts, wo immerhin das Treffen des Gegners die Hauptsache ist, im Gegensatz zum Fußball.

Was man nicht sehen konnte war, was alle befürchtet hatten: Demonstrationen, Proteste, Randale. Es gab sie zwar, doch in geringerer Zahl als erwartet, und wenn es sie gab, dann blieben sie unsichtbar. Man wird daraus nicht schließen dürfen, dass der Fußball für Brasilien eine ‘große Party’ bedeute, wie es uns ARD und ZDF mit ihren Moderatoren-Paaren vor idyllischer Strandkulisse mit jubelnden Einheimischen und Ausländern, vereint durch den Fußball, gern glauben machen wollten. Der Fußball ist ein Politikum – und Gueiros Diktum, dass jetzt die Zeit sei, um sauber zu machen, ganz dezidiert politisch zu verstehen. Erstaunlich, dass Gueiros Forderung gerade bei “Globo” erschien, der Zeitung, die zum Rede Globo gehört, dem größten Medienkonzern des Landes, der weite Teile der Berichterstattung kontrolliert und vor der WM tunlichst darauf setzte, möglichst wenig brisante Informationen über die unfassbaren politischen Vorgänge im Vorfeld an exponierter Stelle erscheinen zu lassen. Doch der Burgfriede ist vorbei – es ist daher kein Zufall, wenn mit Bernarde Buarque de Hollanda ein renommierter Sozialwissenschaftler in der linksliberalen Folha de S. Paulo schon am Abend des Finales die Aufarbeitung der WM-Schmach einläutet und auch die politischen Strukturen des Landes für die Niederlage verantwortlich macht. Und wenn das passiert, dann heißt das auch, dass der brasilianische Fußball weiter daran arbeiten muss, seine „ligações com o regime“, also seine Verbindungen zum Militärregime damals und zu hochrangigen Politikern und zur Wirtschaft gegenwärtig, ins Reine zu bringen. Es heißt, zur Sprache zu bringen, was möglichst wenig thematisiert wurde anlässlich der Buchmesse des letzten Jahres und der WM in diesem. In einem Land, das noch immer eine unverändert hohe Mordrate aufzuweisen hat (entgegen anderslautender Berichte vor der WM), die sich zudem seit 2002 quasi kaum merklich verändert hat, und die in der vergangenen Dekade (2002-2012) mit insgesamt 556.000 Mordopfern höher war, als in den meisten anderen Länder der Erde, inklusive derer, in denen Krieg oder kriegsähnliche Zustände herrschten – wie ein offizieller Bericht nachweist und in dem die Schere zwischen Arm und Reich keine Schere, sondern längst ein Graben ist, ist eine Diskussion über die WM 2014 und die wirtschaftlichen Vorgänge im Vorfeld – der Bau unnötiger Stadien als nur ein Beispiel – auch eine gesellschaftspolitische Diskussion. Mit dem achthöchsten BIP der Welt zählt Brasilien zu den stärksten Wirtschaftsnationen – investiert aber wenig in das Bildungs- und Gesundheitssystem (49te und 47te Stelle der Welt). Die Ungleichheit in Brasilien ist höher als in fast allen anderen Staaten der Welt: mit Rang 16 im Gini-Index ist der Abgrund zwischen Arm und Reich in nur einigen afrikanischen Ländern sowie Paraguay und Chile größer. 

Noch immer sind diese Zusammenhänge vielfach unklar. Noch immer sind die medialen Strukturen in Brasilien perfide organisiert, gelesen wird wenig, die Informationen können vom Rede Globo sorgsam ausgewählt werden und brisante Nachrichten mit einer dicken Schicht von Telenovelas, die das Abendprogramm beherrschen, zugekleistert werden. Der 1997 verstorbene, weltberühmte brasilianische Soziologe und Schriftsteller Darcy Ribeiro, der mit seinen scharfsinnigen Analysen und wunderbaren literarischen Texten noch der Wiederentdeckung harrt, hatte schon in seiner letzten großen Studie „O povo brasileiro“ 1995 geschrieben, dass es Kennzeichen der neuen brasilianischen Wirklichkeit sei, dass die Reichen und Mächtigen sich hinter einer „barreira de indiferença“, einer Barriere der Gleichgültigkeit, verschanzen würden um die andere Seite der marginais, der Ausgeschlossenen, nicht sehen zu müssen oder sie schlicht zu vergessen. Das System von “Globo” mit seinen Telenovelas und Talkshows ist Teil dieser Struktur. Das mag sich verändert haben unter Lula und Rousseff, und dennoch hat man gerade wieder gesehen, wie Recht Ribeiro noch immer hat, wenn er schreibt:

„Boa expressão desse pavor pânico [do alçamento das classes oprimidas] é a brutalidade repressiva contra qualquer insurgência e a predisposição autoritária do poder central, que não admite qualquer alteração da ordem vigente.“

(„Zentraler Ausdruck dieser panischen Angst [vor der Revolte der unterdrückten Klassen] ist die repressive Brutalität gegen jedwede Erhebung und die autoritäre Neigung der Zentralmacht, keinerlei Änderung der geltenden Ordnung zuzulassen.“) 

Es war ein guter Indikator für die tatsächliche Panik, die bei der Zentralmacht herrschte, als bei der WM Polizeihundertschaften gegen vielleicht hundert Demonstranten eingesetzt wurden. Freilich, die Fans bekamen davon nichts mit, denn zwei bis drei Kilometer vor den Stadien sorgte der Kordon dafür, dass die Barriere der Gleichgültigkeit intakt blieb und die Proteste dem Blickfeld entzogen blieben. Wann immer so etwas wie die nackte Wahrheit ans Tageslicht zu kommen drohte, immer dann nämlich, wenn die sogenannten Flitzer den Rasen enterten, sahen wir davon nichts. Dahinter nur Prüderie zu vermuten heißt, Josef Blatter als den freundlichen Großvater mit dem großen Geldbeutel anzusehen, den er so gern gibt. Es ist natürlich kein Zufall, dass das neue Dach des Maracana von schweizer und deutschen Firmen gebaut wurde (von brasilianischen und ukrainischen Arbeitern, nebenbei bemerkt). Aufbau, Abbau, Logistik, Catering, Sicherheit, alles wurde von globalen Firmen erledigt, mit Hilfe von Zeitarbeitern, angeheuert vor Ort. Wo es lokale Firmen gab, die am Projekt WM mitarbeiteten, durfte man davon ausgehen, dass sie in gutem Kontakt zu einflussreichen Politikern standen. Es ist Strategie. Strategie, diejenigen Seiten auszusparen, die nicht in das Bild passten, das die FIFA von Brasilien nach außen vermitteln wollte und auf das sie die brasilianische Regierung über die Verhandlungen mit dem brasilianischen Verband festlegte.

Man muss all das nicht überbewerten, aber die verordnete Blindheit für die soziale Realität während der WM kann dennoch als ein Symptom gelesen werden. Nicht nur als Symptom für die Machenschaften der FIFA, was ja nun zur Genüge getan wurde, sondern vielmehr als Symptom für die Informationspolitik und die medialen Zustände, aber auch die Befindlichkeiten eines Landes, was noch immer mit den Altlasten seiner Kluft von radikaler Modernisierung (und Kapitalisierung) und gesellschaftlicher Evolution zu kämpfen hat. In diesem Sinne kann die WM, und vor allem das, was sie gerade aus dem Blickfeld gerückt hat, als Annäherung an die brasilianische Realität dienen. Noch immer die verlässlichste Möglichkeit bildet in Brasilien hierzu die Literatur, die seit ihren Anfängen immer als Gegendiskurs zu den Medien aufgetreten ist und damit immer das versuchte in den Blick zu rücken, was sonst ausgeschlossen war. Die brasilianische Literatur war von Beginn an immer eine sozial engagierte Literatur, in ihrer realistischen genauso wie in ihrer experimentell-avantgardistischen Form. Sich dem Teil des Landes zu nähern, den uns die FIFA im Fußballsommer nicht zeigen wollte, dazu bietet uns immer noch die Literatur eine Möglichkeit – und das auch durchaus in ihrer unterhaltenden Form.

Kriminalität zwischen Realität und Fiktion und das ironische Spiel mit der Gewalt

Eine der Seiten, die während der WM gern ausgespart wurde, ist die düstere, gefährliche und kriminelle Seite Brasiliens. Obgleich – oder vielmehr weil – dieser Topos inzwischen zum Klischee geronnen ist, haben sich jüngere Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur längst davon abgewandt oder spielen auf geschickte und unterhaltsame Art damit. Die fantastischen Krimis Patrícia Melos (geb. 1963) sind nur eine Ausprägung dieser bewussten Aneignung der kriminellen Seite Brasiliens. Zur Buchmesse im letzten Jahr erschien „Leichendieb“ bei Klett-Cotta (bezeichnenderweise unter dem Label „Tropen-Verlag“), der jetzt den deutschen Krimipreis erhielt und mit den bewährten Mitteln Melos arbeitet: überbordende Gewalt und Brutalität, ironisches Spiel mit den stereotypisierten Vorstellungen der brasilianischen Unterwelt, abwechslungsreiche, spannende Plots und zuletzt hochgradig neurotische, ins Krankhafte abgleitende, exzentrische Figuren. Die brasilianische Großstadt als Topos von Kriminalität und Gewalt – das als Realität und literarische Fiktion gleichermaßen ansichtig zu machen, ist ein Verdienst der Romane Melos. 

Unbedingt und noch immer empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang auch der temporeich erzählte und spannungsgeladene, ebenfalls bereits zur Buchmesse im letzten Jahr erschienene Roman „Krieg der Bastarde“ von Ana Paula Maia, einer jungen Autorin aus Rio. Der Plot ist schnell erzählt: mehr durch Zufall als aufgrund eines sorgfältigen Plans kommt der abgehalfterte Porno-Star Amadeus an eine ansehnliche Menge Kokain, die einem finsteren Unterweltboss gestohlen wurde. Amadeus verkauft den Stoff, um mit seiner Geliebten Gina endlich ein schönes Leben beginnen zu können – dummerweise an eine Handlangerin des Gangsterbosses, weshalb der Capo den Stoff als den seinen erkennt und die Jagd auf den Dieb eröffnen lässt. Der jedoch wird, noch bevor er davon Wind bekommt, von einem Taxi im Großstadtdschungel überfahren und stirbt, nicht ohne seinem Mitbewohner Horácio, der zu allem Überfluss in genau diesem Taxi saß, den Auftrag zu geben, „ihr“ die Tasche mit dem Geld zu geben – ohne, dass Horácio wüsste, wer damit gemeint ist und ohne, dass er mehr über den Verbleib der Tasche wüsste, als dass sie irgendwo im Haus gegenüber auf dem Dachboden versteckt ist. Gina hat derweil ihre eigenen Probleme, hat sie doch bei einem illegalen Vale Tudo (Free Fight) Kampf, den ausgerechnet jener Gangsterboss veranstaltet hat, der wegen des verlorenen Kokains ohnehin schon extrem schlechte Laune hat, entgegen der Vorgabe gewonnen und sich mit einer gehörigen Geldsumme aus dem Staub gemacht, weshalb sie nun ebenfalls auf der Flucht ist.

Der Plot offenbart bereits, dass “Krieg der Bastarde” eine sehr ironische Gangsterballade ist, die sicher mehr von Pulp Fiction, dem amerikanischen Hard Boiled-Krimi und den Romanen Bukowskis gelernt hat, als von der brasilianischen Literatur. Das bedeutet auch, dass der Roman ganz ohne gängige Brasilien-Klischees auskommt, ohne Favelas und Exotik, sondern sich einfach auf eine abstruse, tragik-komische Geschichte konzentrieren kann und genau darin seine besondere Stärke entfaltet. Maia erzählt schnell, erfrischend und ironisch und es macht einfach Spaß, die Geschichte um Gina, Horácio und ein paar beschränkte Gangster zu lesen – jedenfalls sofern man mit einem etwas derberen Humor und einer gehörigen Portion Sarkasmus umgehen kann. Seit dem „Krieg der Bastarde“ 2007 sind in Brasilien zwei Novellen und ein Roman der jungen Autorin erschienen, die bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt sind. Es wäre an der Zeit, denn Maia gehört sicherlich zu den unterhaltsamsten Stimmen der zeitgenössischen brasilianischen Literatur.

Der Karneval ist endlich vorbei: Die Öffentlichkeit des Privaten

Eine wunderbare Möglichkeit, sich ein umfassenderes Bild von der Vielstimmigkeit und dem Reichtum der „jungen“ brasilianischen Literatur zu machen, bietet indes die kurzweilige Erzählungssammlung „Popcorn unterm Zuckerhut. Junge brasilianische Literatur“, die im vergangenen Jahr, von Timo Berger herausgegeben, ebenfalls anlässlich der Buchmesse im Wagenbach-Verlag erschienen ist. Der unsäglichen Covergestaltung und dem etwas klischeebehafteten Titel zum Trotz bietet die Anthologie eine zeitweise großartige, durchweg immerhin lesenswerte Auswahl von Kurz- und Kürzestgeschichten brasilianischer Autorinnen und Autoren um die 30. Vertreten sind sowohl Texte von AutorenInnen, die bereits durch Übersetzungen einzelner Romane auf sich aufmerksam machen konnten, so zum Beispiel eine so reduzierte wie eindringliche Erzählung von Michel Laub („Der Mann am Strand“) oder von Daniel Galera, („Laila“), der letztes Jahr mit „Flut“ als einem der besten übersetzten Romane, die zur Buchmesse erschienen sind, auf sich aufmerksam machen konnte. Deutlich blasser als ihre Romane bleiben jedoch die Erzählungen über die Dichtung und das Schreiben von Carola Saavedra („Zusammenleben“) und Andrea del Fuego („Camping Calamares“), während einzelne Geschichten bislang weniger bekannter Autorinnen wie Katherine Funke („Hühnerherz“) oder Tatiana Salem Levy („Zu weit weg“) über die Flüchtigkeit von Alltagsbegegnungen zu vorhersehbar, zu klischeebehaftet sind, um wirklich berühren zu können. 

Doch abgesehen davon gibt es viel zu entdecken: Veronica Stiggers kurze Geschichte “Die Zwerge” ist ein wunderbarer, wenngleich verstörender Einstieg in das literarische Universum der Kunsthistorikerin aus Sao Paulo, die bisher mit drei Erzählungsbänden hervorgetreten ist, wovon allerdings die ersten beiden, O trágico e outras comédias (2003) und Gran Cabaret Demenzial (2007), eher Zyklen denn klassischen unzusammenhängenden Erzählungen ähneln. Der präzise Blick für die Außenseiter der Gesellschaft, die absurden Situationen des Lebens und der besondere Umgang mit der Sprache sind es, die Stiggers Texte auszeichnen und sie zu einer der interessantesten jungen Autorinnen aus Brasilien machen. Ricardo Lísias “Physiologie der Einsamkeit” hingegen zeigt, dass auch das Schreiben über das Schreiben von eindringlicher Kraft und Faszination sein kann, wenn er seinen Protagonisten auf eine Reise nach Dublin schickt, um seiner Obsession für Beckett zu entfliehen und dabei die Parallelen von Literatur und Liebe finden lässt.

Allen Erzählungen gemein ist dabei jedoch etwas, was in der brasilianischen Literatur neu ist und erst mit der jüngeren Generation perfektioniert wurde: die Konzentration auf und die radikale Ausgestaltung von Persönlichem und Privatem. Fast alle Texte spielen sich fast ausschließlich im privaten Raum ab, gehen in die Introspektion, thematisieren jedoch selten die Gesellschaft oder Politik. Von Ausnahmeerscheinungen wie Clarice Lispector abgesehen ist dieser Rückzug ins Private und die Auslotung von Gefühlen und Beziehungen etwas Neues in der brasilianischen Literatur. Damit verbunden ist die Abkehr von der Ausstellung immer neuer Brasilienbilder und der Erforschung einer nationalen oder regionalen Identität. Ins Zentrum rückt jetzt mehr der Einzelne, weniger das gesellschaftliche Ganze. Das passt zu dem seit einigen Jahren sich vollziehenden wirtschaftlichen Aufschwung und der Entstehung einer ‘bürgerlichen Mittelschicht’, wie es gern genannt wird. Ohne, dass soziale Probleme unwichtig geworden wären – im Hintergrund sind sie in den meisten der hier präsentierten Texte präsent – rücken jetzt Fragen der individuellen Lebensgestaltung, der Familie, des Zwischenmenschlichen in den Fokus. Die den Band beschließende, ganz wunderbare Kurzgeschichte von João Paulo Cuenca bringt diesen neuen Zustand auf die titelgebende Formel „Der Karneval ist vorbei“: was wird sein, wenn der brasilianische Karneval endlich vorbei ist und der Alltag wieder einkehrt? „Bald wird es Morgen, und wir werden nicht mehr sein, wer wir waren. Was wird unser Lebenszweck sein ohne Karneval“, heißt es dort, und 2014 ist diese Frage gleich doppelt zu verstehen. Zum einen steckt darin die Frage danach, was Brasilien abseits der Klischees vom exotischen, gewalttätigen und ewig hoffnungsvollen ‘Land der Zukunft’ eigentlich ist, wer die Menschen in dem Land sind und was abseits der jahrelang kolportierten Bipolarität von sozialer Angst und wirtschaftlicher Kraft das Leben in Brasilien ausmacht. Zum anderen jedoch nimmt die 2012 auf Portugiesisch erschienene Erzählung Cuencas die große Frage vorweg, die sich jetzt, im August 2014, nachdem die FIFA zusammen mit den Sponsoren und den lauten Marketingexperten das Land verlassen hat, so radikal stellt. Der Text ist, wie er sich selbst vorstellt, „eine Glosse für die, die den Tücken der Liebe erlagen im vernebelten Karneval und mit metaphysischem Blick eine Realität sahen, die auch eine Dose lauwarmen Biers nicht mehr weichzeichnet“.  

Genau diese Fragen nach dem Alltag und der Lebensgestaltung spiegeln sich auch in einer zweiten Anthologie wider, die ebenfalls im letzten Jahr zur Buchmesse erschienen ist und die sich etwas spezifischer dem aktuellen weiblichen Schreiben in Brasilien zuwendet, also ausschließlich Texte von Autorinnen präsentiert. Die Anthologie ist herausgegeben von der Münchner Übersetzerin Wanda Jakob zusammen mit der Portugiesin Luísa Costa Hölzl und bietet einen repräsentativen Überblick über zeitgenössische Autorinnen aus Brasilien. Auch hier ist es die Konzentration auf individuelle Schicksale, die auffällt, die literarische Ausgestaltung weiblicher Lebensmomente.

Thematisch kommen die versammelten zwölf Texte sehr heterogen daher: die Geschichten reichen von kindlichen Perspektiven und pubertären Selbstfindungserfahrungen über Beziehungsprobleme bis hin zu Fragen des Alterns und Sterbens. Dass diese mitunter sehr ernsten Themen auch durchaus mit Humor und Ironie verhandelt werden, zeigt zum Beispiel die wunderbare titelgebende Erzählung „Wenn der Hahn kräht“ von Claudia Lage (geb. 1969), die den letzten Tag im Leben einer alten Frau beschreibt und ihre augenzwinkernde Abrechnung mit der Vergangenheit nachzeichnet. Ähnlich humorvoll wird in „Frau aus dem Volk“ der einwöchige Krankenhausaufenthalt einer älteren Dame beschrieben und damit nicht nur ein literarisches Panoptikum menschlicher Absurdität im Angesicht von Leiden und Krankheit geschaffen, sondern zugleich eine beißende Kritik am brasilianischen Gesundheitssystem gestaltet. Hinter dem scheinbar privaten Schicksal der Frauen tritt hier also – vielleicht deutlicher als das in „Popcorn unterm Zuckerhut“ der Fall ist – die öffentlich-gesellschaftliche Sphäre und damit die Frage nach dem sozialen Raum Brasiliens in den Vordergrund. Es sind Fragen nach der Stellung der Frau im Verhältnis zum Mann, die hier virulent werden und für das südamerikanische Land nach wie vor eine enorm wichtige Rolle spielen. Tércia Montenegros Protagonistin Larissa ist in „Auf offener Straße“ die gut bezahlte Gespielin eines reichen Mannes und muss ihre nackten Brüste aus dem Schiebedach einer fahrenden Limousine halten, weil er das so möchte. Sie selbst schwankt in der Beurteilung ihres Verhaltens zwischen Selbstbestimmung und dem Stolz auf den eigenen Körper und Scham und moralischen Skrupeln – und steht damit auch symbolisch für die Frauen in Brasilien und ihre Suche nach Identität abseits von medial vermittelten Klischees exotischer Schönheiten im Karneval. Es sind diese und andere ungewöhnliche Perspektiven, die die Sammlung von kurzen Geschichten so besonders machen, so beispielsweise auch Beatriz Brachers eindrucksvolle Kurzgeschichte über einen indigenen Familienverband im modernen Brasilien („Zezé Sussuarana“), die nachhaltig das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung hinterfragt und problematisiert.

Fast allen Texten ist dabei ein deutlicher Hang zum realistischen Erzählen gemein. Alle Erzählungen sind klar, verzichten auf allzu große formal-stilistische Experimente oder ästhetische Spielereien. Ihr Fokus liegt auf dem Inhalt, auf ihren Figuren und unterschiedlichen Blicken auf Welt und Gesellschaft. Alle Texte sind in diesem Sinne engagierte Literatur, weil sie alternative Sichtweisen auf die brasilianische Lebenswirklichkeit anbieten und ausgestalten und sich damit dem durch klischeeüberladene, aber wirkungsmächtige Telenovelas aus der Schmiede des Rede Globo, des drittgrößten TV-Netzwerkes der Welt, vermittelte Rollen- und Gesellschaftsbilder entgegenstellen – und damit eine Funktion einnehmen, die für uns womöglich nicht unmittelbar einsichtig, und doch umso interessanter ist. Abseits von feministischen Plattitüden oder leeren Phrasen einer écriture feminine bietet die Anthologie einen hochspannenden und sehr lesbaren Blick auf die Lebenswirklichkeit brasilianischer Frauen und Männer gleichermaßen und kommt zudem als so ansprechend und liebevoll gestaltetes kleines Bändchen des Verlages „edition fünf“ daher, dass man schon fast nur der Aufmachung und der Liebe zum Detail wegen zur Anschaffung und zum Genuss von „Wenn der Hahn kräht“ raten möchte. 

Samba und Fußball als Versprechen: Brasiliens Kulturgeschichte

Um zu verstehen, wie sehr der Fußball in Brasilien in der Lage ist, soziale Spannungen und politische Unzufriedenheiten zu unterdrücken, lohnt sich der Blick auf die kulturelle Stellung des Sports in Brasilien, ja lohnt sich ein Blick auf die Kulturgeschichte des Landes als Ganzes. Ebenfalls zur Buchmesse im letzten Jahr erschien hierzu bereits im Suhrkamp-Verlag ein gerade jetzt mit viel Gewinn lesbares Buch: Kersten Knipps „Das ewige Versprechen“ ist ein 350 Seiten starker Durchmarsch durch die brasilianische Kulturgeschichte von den kolonisatorischen Anfängen bis in die Gegenwart. Stefan Zweigs bekanntes Diktum, dass Brasilien das ‘Land der Zukunft’ sei, wird hier weniger auf den Prüfstand gestellt, als vielmehr als gegeben genommen und begründet: Brasilien erscheint hier tatsächlich als das Land der Zukunft – weniger jedoch im Sinne einer Prognose, als vielmehr als Topos, der sich durch die Geschichte des Landes zieht wie kaum eine andere Selbstbeschreibung. Ohne, dass Knipps Buch diese These so explizit vetreten würde, wird bei der spannenden, erstaunlich flüssigen Lektüre des Bandes eines ganz deutlich: für alle Epochen, alle sozialen oder ethnischen Gruppen bot Brasilien immer so etwas wie ein Versprechen für die Zukunft an. Für die Portugiesen als Kolonisatoren galt das riesige Land im frühen 16. Jahrhundert als künftiges Siedlungsgebiet, für die Händler als Rohstoffmekka, für die verschleppten Sklaven nicht ausschließlich Exil, sondern auch als utopisches Freiheitsversprechen und gar für den portugiesischen König  Joao VI. 1822 als sein künftiges Königreich, um dessentwillen er bereit war, auf das alte zu verzichten.

Diesen so heterogenen Perspektiven und Volksgruppen gleichermaßen gerecht zu werden schaffte die Politik lange Zeit nicht und bis heute nicht vollständig, und doch war es gerade der Fußball, der sich von Beginn an als blind für soziale Unterschiede herausstellte: “Mitmachen darf jeder, egal welchen Beruf er hat, wie viel er verdient und wo er wohnt”, fasst Knipp zusammen. Der Fußball im Speziellen und der Sport im Allgemeinen bilden daher einen Schwerpunkt seines kundigen Buches, der lange Weg der Sklaven zur Freiheit einen anderen. Entgegen den eher politisch-historischen Überblicksdarstellungen mit wissenschaftlichem Anspruch aus dem letzten Jahr, wie beispielsweise Walther L. Berneckers „Eine kleine Geschichte Brasiliens“ (edition Suhrkamp) oder Stefan Rinkes und Frederik Schulzes „Kleine Geschichte Brasiliens“ (C.H. Beck), bietet Knipps dezidiert als Kulturgeschichte betitelte Darstellung den Vorteil, dass sie die historische, politische, soziale und wirtschaftliche Sphäre des riesigen Landes nur anreißen muss, sofern sie zum Verständnis notwendig sind und sich somit viel stärker auf Einzelaspekte der brasilianischen Entwicklung konzentrieren kann, ohne deshalb jedoch beliebig oder marginal zu werden. Denn mit den Themenkomplexen der ethnischen Heterogenität, der Suche nach kultureller Identität und den Fragen von Inklusion und Exklusion, die zuerst kulturell, aber in zweiter Instanz immer auch politisch und wirtschaftlich bedeutsam sind, behandelt Knipp ganz zentrale Fragen der brasilianischen Vergangenheit und Gegenwart und leistet daher ausgesprochen viel für das Verständnis des europäischen Lesers der brasilianischen Verhältnisse. „Das ewige Versprechen“ macht, ohne, dass es explizit darüber sprechen würde, verständlich, wieso die Weltmeisterschaft 2014 für Brasilien so sehr zum Politikum werden konnte – über alle wirtschaftlichen und politisch zweifelhaften Entscheidungen hinaus. Mit dem Fußball ist diejenige Instanz angesprochen, die zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Brasilien zum ersten Mal so etwas wie eine gesellschaftliche Gleichheit, eine Einheit der so heterogenen Bevölkerungsteile herbeiführen konnte. Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der Fußball, wie alle Versprechungen in Brasilien, seine Enttäuschungen bereit hielt und gerade in Zeiten der Militärdiktatur gern zum Propaganda-Instrument missbraucht wurde, und dennoch bleibt er als Institution zentral für die brasilianische Identität. Und gerade deshalb ist ein von der FIFA geforderter Umbau eines Symbols dieses Umstandes, des Maracanã in Rio, mehr als nur der von außen geforderte Umbau eines Stadions für viel Geld dem die eigene Regierung vorbehaltlos zustimmt, es ist ein Eingriff in die Identität des Landes und deshalb auch ein Vorbote des kläglichen Scheiterns des brasilianischen Fußballs bei dieser WM. Wer die Weltmeisterschaft in Brasilien also nur als ein sportliches Kräftemessen der Nationen, als überholte Zurschaustellung von fragwürdigen nationalistischen Grundkategorien mit sportlichen Mitteln angesehen und die WM deshalb abgelehnt hat, der hat zumindest die brasilianische Seite dieses Unternehmens nicht verstanden. Für Brasilien stand mit dem Fußball wieder einmal ein Zukunftsversprechen auf dem Prüfstand – und wieder einmal ist es ein Versprechen geblieben. Doch wenn man dem Grundtenor der Kulturgeschichte Kersten Knipps Glauben schenken darf ist es nur eine Frage der Zeit, bis das nächste kommt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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Kersten Knipp: Das ewige Versprechen. Eine Kulturgeschichte Brasiliens.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
382 Seiten, 11,99 EUR.
ISBN-13: 9783518464489

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Ana Paula Maia: Krieg der Bastarde. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Wanda Jakob.
A1 Verlag, München 2013.
221 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783940666420

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Patricia Melo (Hg.): Leichendieb. Thriller.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013.
208 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783608501186

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Timo Berger (Hg.): Popcorn unterm Zuckerhut. Junge brasilianische Literatur.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
144 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783803127075

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Wenn der Hahn kräht. Zwölf hellwache Geschichten aus Brasilien.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Barbara Bichler, Marianne Gareis, Renate Heß, Maria Hummitzsch, Wanda Jakob, Karin von Schweder-Schreiner und Claudia Stein.
Edition Nautilus, Hamburg 2013.
160 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783942374330

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