Auf Lebensqualität orientieren
Eine Ausgabe der Zeitschrift „psychosozial“ informiert über Intersexualität
Von Heinz-Jürgen Voß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Heft 135 (37. Jahrgang, 1. Heft 2014) der Zeitschrift psychosozial wendet sich im Schwerpunkt dem Thema Intersexualitäten zu. Der von Ada Borkenhagen und Elmar Brähler herausgegebene Band enthält sieben Beiträge zum Schwerpunkt, auf die drei weitere Beiträge im freien Teil und abschließende Rezensionen folgen.
In den ersten beiden Beiträgen zeichnen Konstanze Plett und Evelyn Kleinert die Entwicklungen bezüglich Intersexualität seit 2012 nach. Sie diskutieren die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, stellen die wesentlichen Ergebnisse und die Lücken vor. Evelyn Plett problematisiert die Unterscheidung des Ethikrates von „AGS- und anderen DSD-Betroffenen“, wodurch letztlich eine „Vorentscheidung für die Beurteilung medizinischer Interventionen getroffen“ werde. Der Ethikrat gehe mit dieser Unterscheidung davon aus, dass bei AGS-Betroffenen das Geschlecht eindeutig sei. Auf dieser Grundlage könnten „geschlechtsvereindeutigende“ Maßnahmen (solche, „die darauf abzielen, anatomische Besonderheiten der äußeren Geschlechtsorgane, die bei ansonsten eindeutiger geschlechtlicher Zuordnung bestehen, an das existierende Geschlecht anzupassen“) leichter – und wenig problematisiert – stattfinden, während Eingriffe, die darauf zielen, einen geschlechtlichen „Zwischenzustand“ zu beenden – „geschlechtszuordnend[e]“ Eingriffe – stärker sanktioniert würden. Neben solch wichtigen aktuellen Implikationen zeigt Plett auch auf, dass seit 1876 zwar das Geschlecht durch die Standesämter als Personenstand erfasst wurde, dass aber erst seit 2010 (!) normativ im Gesetz festgeschrieben sei, dass dies nur als „weiblich“ oder „männlich“ erfolgen könne. Plett vollzieht anschaulich den Verlauf nach, an dessen Ende – nun gültig – eine Regelung steht, die bestimmt, dass der (binär-eindeutige) Geschlechtseintrag entfallen soll, wenn das Kind weder dem „männlichen“ noch dem „weiblichen“ Geschlecht zugeordnet werden kann.
Evelyn Kleinert holt im Folgenden auch die Positionen aus Selbstorganisationen intergeschlechtlicher Menschen in den Blick und zitiert ausführlich die erste Vorsitzende des Vereins Intersexuelle Menschen e.V., Lucie Veith. Kathrin Zehnder diskutiert die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats im Kontext mit der der Schweizerischen Nationalen Ethikkommission. Dabei schält sie insbesondere Ähnlichkeiten heraus, die etwa Fragen des Kindeswohls und der Schaffung geeigneter Kompetenzzentren betreffen. Der darauf folgende Beitrag Reden wir wirklich vom Gleichen? ist im Sinne einer transdisziplinären Diskussion gehalten. Es werden dort Konzepte von Multi-, Inter- und Transdisziplinarität verhandelt, wobei Transdisziplinarität bedeutet, dass nicht nur Grenzen zwischen Disziplinen fluide werden und so Neues entstehen kann, sondern dass auch die Grenzen zwischen Fachexpertise und „Betroffenen“-Expertise verschwimmen. Der Beitrag ist sehr produktiv, gerade weil Perspektiven von Fachexpert_innen und von Selbstorganisationen zusammen kommen – und auch direkt in der Autor_innenschaft des Beitrags benannt sind. Zugleich handelt es sich um schweizerische Autor_innen, so dass der Beitrag von Zehnder als konsistentes Bindeglied zwischen BRD- und Schweiz-Diskurs deutlicher wird. Abgeschlossen wird der Schwerpunkt mit drei Beiträgen von sozialwissenschaftlichen und medizinischen Fachwissenschaftler_innen.
Im ersten stellt Katja Sabisch, anknüpfend an die Masterarbeits-Ergebnisse von Anike Krämer, Interview-Ergebnisse mit Eltern dreier intergeschlechtlicher Kinder vor. Die Ergebnisse geben ein Indiz dafür, dass ein „doing inter“ im Alltag möglich ist. In den folgenden beiden Beiträgen diskutieren Wissenschaftler_innen aus der Forschungsgruppe um Hertha Richter-Appelt frühere eigene Forschungsvorannahmen kritisch. Katinka Schweizer zeigt, dass in psychoanalytischen Perspektiven auch „multigeschlechtlich“ gedacht werden kann und nicht nur dichotom. Verena Schönbucher et al. wenden sich dagegen, „heterosexuelle Normalität“ als Maßstab für medizinische Behandlungen zu setzen und plädieren dafür, sich stattdessen individuell auf „sexuelle Lebensqualität“ zu orientieren.
Insgesamt ist die Ausgabe der Zeitschrift psychosozial sehr lesenswert. Sie gibt einen guten Abriss über aktuelle Diskussionen um Intersexualität und bringt punktuell neue Perspektiven und Ergebnisse ein. Auch die übrigen Beiträge sind zu empfehlen, etwa der von Ulrike Mensen, in dem sie Depression im Kontext neoliberaler gesellschaftlicher Entwicklungen diskutiert.