Von der Besinnung nach dem Hype

Ramón Reichert legt eine gelungene Aufsatzsammlung über „Big Data: Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie“ vor

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der hier zu besprechende Band besteht aus 22 umfangreichen, stets gehaltvollen und bedenkenswerten Abhandlungen, die in dem hier vorgegebenen Rahmen – der auf Knappheit und so wenig Fußnoten wie möglich, am besten gar keine, beruht – nur äußerst unzureichend besprochen werden können. Statt aber nun den üblichen Weg zu gehen und also alle Artikel auf oberflächliche und damit zutiefst unerfreuliche Weise durchzuhecheln, beschränken wir uns auf einen Text, der unserer Ansicht nach in repräsentativer Weise die Hauptthemen und argumentativen Strukturen abbildet: So sind 21 zwar beleidigt und einer fühlt sich über Gebühr geschmeichelt, doch wird dem Leser sicherlich deutlicher vor Augen geführt, was der Band eigentlich anstrebt.

Die Wahl fiel nach reiflicher, sorgsamer Überlegung auf Tom Boellstorffs „Die Konstruktion von Big Data in der Theorie“. Boellstorff ist von Haus aus Anthropologe und damit in guter Gesellschaft, stehen doch im Vordergrund des Bandes die Digital Humanities und die hieran sich anschließende Frage, wie dieser Forschungszweig mit Big Data umgehen könnte. Typisch geisteswissenschaftlich, möchte man sagen, auch die grundsätzliche Absicht des Aufsatzes: „Ich bin“, so Boellstorff, „weniger daran interessiert, abschließende Urteile anzubieten, als Gespräche zu eröffnen.“ Diese Prämisse ist programmatisch und zugleich vernünftig, da Urteile riskant anmuten, wenn die technische Entwicklung im Verbund mit diversen politischen und/oder ökonomischen Interessen ein Tempo vorgeben, welches von den Theoriebildnern kaum eingeholt werden kann.

Boellstorff ist sich dieser Problematik durchaus bewusst und müht sich, aus der Not eine Tugend zu machen. Seine Herangehensweise basiert auf einer distanzierten und reflektierten Sichtweise der Theoriebildungen, die sich mit dem unbestimmten, grundsätzlich deutungsoffenen Begriff Big Data verbinden: „Ich möchte gern über den Wert von Argumenten nachdenken, deren Zeit abgelaufen ist, die unzeitgemäß sind – die überholt sind.“ Überholt ja, aber eben nicht obsolet, sondern immer noch von den Dingen sprechende Zugänge, deren Nachvollzug sinnvoll sein kann. Boellstorff antwortet hier, wie die meisten seiner Beitragskollegen, auf den Hype, der seit 2012 Big Data als Paradigmenwechsel definiert, durch welchen alle bekannten Deutungs- und Erklärungsmuster schlagartig obsolet geworden seien.

Hiergegen setzen die meisten Autoren des Bandes die Ansicht, dass Big Data keinesfalls eine eierlegende Wollmilchsau ist, sondern Erfolg oder Misserfolg vor allem von den Fragestellungen, Bearbeitungsstrukturen et. al. abhängt, mit denen man Big Data angeht, von dem eben, was Statistiker, Forscher und Autohändler mit den Daten anstellen. „Gegenüber den proleptischen zeitbezogenen Fantasievorstellungen, die Big Data oft begleiten, kann es hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass die Wissensproduktion sich nie vom Wissensproduzenten trennen lässt“, erklärt Boellstorff hierzu. Natürlich, theoretisch ermöglicht Big Data vollkommen neue Sichtweisen im Sinne von unerhörten Datenkorrelationen, doch muss man die korrekten Fragen stellen und die Ergebnisse dann auch zu deuten verstehen. Und da wird, wie auch der Band zeigt, doch recht konventionell vorgegangen, nämlich Big Data als größere Datenbank gesehen – und also in der üblichen statistischen Manier gezählt, in Graphen übertragen und dergleichen mehr. Es werden etwa Tweets analysiert und Zeitpunkt, Ort sowie Twittertool in Koordinatensysteme übertragen – wobei die Fragen an den Datenpool und auch die Deutung der Ergebnisse im Grunde nichts mehr mit Big Data zu tun haben. Von einem Paradigmenwechsel ist da in der Tat wenig zu spüren, obgleich die Ergebnisse für sich vielleicht interessant sind. Es fehlen eben die passenden Werkzeuge.

Notwendig sei daher „eine ‚plattformagnostische Theorie‘, wie ich das nennen möchte“, erklärt Boellstorff, „eine Theorie, die Behauptungen über Muster und Dynamik jenseits der Fallstudie und des individuellen Forschungsgebiets aufstellt […].“ Hierfür skizziert er exemplarisch vier Reflexionen, die jeweils etablierte Begriffe hinterfragen und auf ihr Potential in der Verknüpfung mit Big Data abklopfen – es geht in diesen Gedankengängen insbesondere darum, „die Big Data einen Gang herunter[zu]schalten“, also mit tradierten Theoriemustern zu verschränken. Und dies durchaus erhellend.

So ist für Boellstorff, wie er in dem Register „Überwachung und Anerkennung“ ausführt, die Metapher des Big Brother zur Beschreibung der Überwachungsdiskurse unter den Vorzeichen des Big Data unzureichend; hierauf hat ja bereits Frank Schirrmacher in seinem Essay vom verwetteten Mensch hingewiesen, ohne jedoch Alternativen zu nennen. Boellstorff schlägt nun das Panopticon Michel Foucaults vor und dessen These des Geständnisses: „Das Geständnis ist eine moderne Möglichkeit, Daten zu produzieren, ein Anreiz zum Diskurs, den wir nun einen Anreiz der Enthüllung nennen könnten.“

Die zugrundeliegende Schwierigkeit hierbei ist nicht, dass ein System – sei es der Staat oder ein Unternehmen – die Menschen überwacht und in Big Data überträgt; diese Konstellation kennen wir ja bereits aus Orwells Nineteen Eighty-Four. Weitaus problematischer ist ja, dass so wenige Menschen sich hieran zu stören scheinen: „Zur weiteren Forschung stelle ich die These auf, dass das Aufkommen von Big Data von einem Diskurs begleitet wird, der Überwachung mit Anerkennung verbindet, der Überwachung als eine Form von Zugehörigkeit strukturiert.“ Obgleich ich persönlich diese Re-Aktivierung Foucaults wenig hilfreich finde, sind die verhandelten Thesen durchaus bedenkenswert.

Wie der Aufsatzband insgesamt wohltuend theorielastig, diskursgebunden und relativierend daherkommt und vor exzellenten Analysen und geerdeten Reflexionen geradezu strotzt: „Im Unterschied zum Medienhype um ‚Big Data‘, der seine Entstehung der Möglichkeit zur kollektiven Adressierung durch Massenmedien verdankt, versucht der vorliegende Sammelband, einen Reflexionsraum zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem datenbasierten Medienumbruch der Gegenwart zu schaffen“, erläutert der Herausgeber den Impetus, dem vollumfänglich entsprochen wird: Ja, möglicherweise markiert, trotz zahlreicher Publikationen zu diesem Thema, erst diese Veröffentlichung den Grundstein einer sinnvollen Auseinandersetzung mit einem Phänomen, welches in seinen Konsequenzen noch längst nicht abzuschätzen ist.

Titelbild

Ramon Reichert (Hg.): Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie.
Transcript Verlag, Bielefeld 2014.
494 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783837625929

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