Mein Freund Siegfried Lenz

Ein dankbarer Gruß zum achtzigsten Geburtstag des Schriftstellers am 17. März 2006

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Es ist schon lange her, vor bald einem halben Jahrhundert war es, im Herbst 1957. Damals haben wir, Siegfried Lenz und ich, uns zum ersten Mal gesehen. Ich war aus Warschau, wohin ich 1938 aus Berlin deportiert wurde, in die Bundesrepublik gekommen – nur für einen kurzen Besuch. Ich wollte mich nach neuer deutscher Literatur umsehen, über die ich in polnischen Zeitschriften zu berichten plante und die sich vielleicht für die Übersetzung ins Polnische eignen würde. So lautete der offizielle Zweck meiner Reise.

Aber dieser Besuch hatte noch einen anderen, einen ganz privaten und heimlichen Zweck: Ich war entschlossen, Polen zu verlassen. Das allerdings durfte niemand dort wissen oder auch nur vermuten. Ich wäre sofort in Ungnade gefallen. Zunächst musste ich erkunden, ob es möglich wäre, mich zusammen mit meiner Frau und meinem Sohn in der Bundesrepublik niederzulassen – und ob ich Chancen hätte, hier, etwa in Hamburg oder in München, weiterhin meinen Beruf auszuüben, also mich als Kritiker zu betätigen und damit den Lebensunterhalt der kleinen Familie zu verdienen.

Meine Reise durch die Bundesrepublik begann in Hamburg. Gleich rief mich jemand in meinem Hotel an: Er sei vom Norddeutschen Rundfunk gebeten worden, ein Funkgespräch mit mir zu machen. Die Bitte war mir höchst willkommen. Denn ich hatte kein Geld: Der mir in Warschau für diese Reise genehmigte Betrag in Westmark war sehr dürftig. Er reichte für kaum mehr als für einige Übernachtungen in billigen Hotels.

Vor dem Haus des Senders in der Rothenbaumchaussee, wo ich am nächsten Tag warten sollte, kam ein Mann auf mich zu, sehr jung, sehr blond und ziemlich schüchtern. Er eben sollte mich für den Funk interviewen. Ob so ein Anfänger es einigermaßen schaffen würde? Denn die Aufgabe war heikel: Ich durfte ja kein Wort sagen, das in Warschau hätte missfallen können. Schon eine Bemerkung, es sei, beispielsweise, keine glückliche Lösung, dass Breslau und Stettin jetzt zu Polen gehörten, hätte mir viel Kummer bereiten können. Um es gleich zu sagen: Der junge Mann machte es routiniert und vorzüglich und hatte auch die Güte, das Interview in die Länge zu ziehen, was mein Honorar auf erfreuliche Weise erhöhte.

Kaum war die Aufnahme beendet, da fanden wir uns wieder auf der Rothenbaumchaussee und gingen trotz der kühlen Witterung ein wenig spazieren. Ganz nebenbei und, wie mir schien, vertraulich sagte mir der junge Mann, er habe schon zwei oder drei „Büchlein“ geschrieben und nicht ganz ohne Echo publiziert. Dass das dritte dieser Bücher (So zärtlich war Suleyken) ein regelrechter Bestseller war, verschwieg er. Ich bat ihn, seinen Namen, den ich nicht verstanden hatte, zu wiederholen. Er hieß Siegfried Lenz.

Zurückhaltend informierte er mich über diese Bücher, dann plauderten wir über Thomas Mann, über den Lenz schon damals zu meiner Freude sehr gut Bescheid wusste. Später lud er mich zum Mittagessen am nächsten Tag ein. Frau Lilo Lenz hatte das Essen sehr gut vorbereitet, die Atmosphäre war angenehm, das Gespräch angeregt. Es ging um Kafka. Ich hörte genau zu und achtete nicht darauf, was ich verspeiste. Erst beim Nachtisch fiel mir ein, dass es sich doch schicke, der Gastgeberin etwas Anerkennendes über die Qualität des Essens zu sagen. Und rasch bemerkte ich: „Das Schnitzel war hervorragend.“ Dies aber war ein peinlicher, ein beinahe unbegreiflicher Irrtum. Am Tisch wurde es plötzlich ganz still. Denn was ich zu mir genommen hatte, war gar kein Schnitzel, sondern ein Steak oder ein Kotelett. In der Tat, sehr peinlich.

An meinen Fauxpas wurde ich von dem Ehepaar Lenz noch oft erinnert. Doch wann immer mir vorgeworfen wurde, ich hätte erstaunlicherweise ein Steak für ein Schnitzel gehalten (oder umgekehrt), pflegte Lenz, ein gütiger und nachsichtiger Mensch, mich schließlich in Schutz zu nehmen. Er wies darauf hin, dass damals doch von Franz Kafka die Rede war – und das sei ja ein großes Thema. Womit wohl Siegfried Lenz zu verstehen geben wollte, dieser Umstand mache meine Sünde verzeihlicher.

Aber auch ihm war damals ein Irrtum unterlaufen. Während ich nämlich an seinem Tisch saß und aß und mich mit ihm unterhielt, da dachte ich überhaupt nicht an Kafka. Ich dachte an meine eventuelle Zukunft in Deutschland. Ich fragte mich, wie dieser junge Mann mich, sollte ich in einigen Monaten an seine Tür als Bittsteller klopfen, behandeln würde. Während ich über Kafkas Leiden am Judentum sprach (um nicht zu sagen: dozierte), beantwortete ich im Stillen jene Frage, die ich mir selber gestellt hatte.

Er, dieser blonde und so schüchterne junge Mann, würde mich zu allen potentiellen Arbeitgebern in Hamburg führen, zu Verlegern, Redakteuren und Rundfunkleuten. Er würde ihnen dringend nahelegen, mir Aufträge zu erteilen. Er würde in meiner Sache Briefe an Kollegen in Köln und Frankfurt schicken, in München und Baden-Baden. Er würde mich in jeder Hinsicht beraten und mir ohne jedes Aufhebens Geld anbieten, soviel ich wünschte. Und ich dachte mir: Solange solche Menschen wie Siegfried Lenz in diesem Lande leben, kann ich es wagen, ohne einen Pfennig in der Tasche herzukommen. Ich werde hier nicht untergehen.

Woher rührte mein Vertrauen zu ihm, den ich am Vortag zum ersten Mal im Leben gesehen hatte? Ich weiß es nicht. Wohl aber weiß ich, dass ich mich nicht getäuscht habe, dass alles so gekommen ist, wie ich es vermutet und gehofft hatte. Ich werde es nicht vergessen.

Aber ich werde es auch nicht vergessen, dass ich Siegfried Lenz nicht selten ein Unrecht angetan habe. Ja, unsere freundschaftliche Beziehung geriet bisweilen in Krisen – und immer war ich es, der dies verschuldet hatte. In meinem Buch „Deutsche Literatur in West und Ost“, das 1963 erschienen ist, habe ich auch ihm ein Kapitel gewidmet. In ihm findet sich Respektvolles, doch auch Skeptisches. Ich durfte, meinte ich, mich von der Freundschaft nicht korrumpieren lassen.

So steht im Mittelpunkt des Kapitels über Lenz die These, er sei ein Erzähler, dessen Talent sich vor allem in der Kurzgeschichte zeige oder in der Novelle, viel seltener hingegen im Roman. Er sei also ein geborener Sprinter, der sich in den Kopf gesetzt habe, er müsse sich auch als Langstreckenläufer bewähren. Kein Romanautor liest derartiges gern. Da hilft es nicht, dass man an große Beispiele aus der Vergangenheit erinnert. Auch Tschechow, Maupassant und Hemingway waren stärker in kleinen epischen Formen als im Roman.

Damals, 1963, startete Lenz zu einem Lauf, der länger werden sollte als alle seine bisherigen. Jahrelang arbeitete er an einem Roman, an dessen Erfolg niemand glauben wollte. Ihm stand, meinte man, sein Thema im Wege. Denn in einer Zeit, in der das Wirtschaftswunder blühte, erwies sich Lenz als ein Störenfried: Inmitten des neuen Wohlstands interessierte ihn die Not des Individuums inmitten des „Dritten Reiches“, seine Mitschuld und Mitverantwortung.

Als die Deutschstunde schließlich erschien und monatelang an der Spitze aller Bestsellerlisten stand, da verwiesen viele Beobachter auf die ohne große Mühe auszumachenden Schwächen des neuen Romans von Lenz. Doch die Ursachen dieses phänomenalen Erfolgs vermochte niemand zu erklären. Der Erfolg aber hatte mit dem Erscheinungsjahr 1968 zu tun. Gemeint ist damit weniger eine konkrete politische Situation als vor allem das Klima in der Bundesrepublik Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre.

Vergessen wir nicht, dass jene Revolte, die wir mit Vokabeln wie „Studentenbewegung“ oder „außerparlamentarische Opposition“ andeuten, einen vornehmlich emotionalen oder intuitiven Untergrund hatte. Für die meisten, die damals auf die Straße gingen, war es kaum mehr als ein vager Aufruhr gegen das „Establishment“, gegen die Welt der Väter. Was die lauthals protestierende Generation über die unferne Vergangenheit wissen wollte, konnte sie am wenigsten von ihnen, den Vätern, erfahren. Kein Buch war in dieser Zeit willkommener als das Gleichnis von den beiden Männern, die, seit ihrer Kindheit befreundet, nun, in der Zeit der Diktatur, gegeneinanderstehen, der pflichtbewusste Polizist und der verfemte Künstler.

Der Deutschstunde folgten weitere, zum Teil umfangreiche Romane: Das Vorbild (1973), Heimatmuseum (1978), Der Verlust (1981), Exerzierplatz (1985) oder Die Klangprobe (1990). Diese Romane lassen sich keineswegs mühelos konsumieren, sie stellen an die Aufmerksamkeit und die Konzentrationsfähigkeit der Leser hohe Ansprüche. Der hier erzählt, schreibt nicht mit dem Rücken zum Publikum, aber er denkt auch nicht daran, ihm gütig entgegenzukommen.

Man hat Lenz gelegentlich vorgeworfen, dass manches in seinem epischen Universum allzu stilisiert, wenn nicht konstruiert anmutet. Wer das bedauert oder beanstandet, sollte allerdings bedenken, dass wir der Vorliebe dieses Erzählers für eine gewisse Stilisierung und seinem ungebrochenen Verhältnis zu Symbolen auch jene Gleichnisse verdanken, in die seine besten Geschichten wie von selbst übergehen.

Unser Treffen in Hamburg vor bald einem halben Jahrhundert war ebenfalls der Ausgangspunkt einer Geschichte, einer nun schon langen und wechselvollen und für beide Seiten bisweilen nicht ganz einfachen. Wer weiß, ob sich nicht auch in dieser Geschichte ein Gleichnis verbirgt. Dies jedenfalls ist sicher: Je älter ich werde und je häufiger ich an Siegfried Lenz denke, desto größer wird meine Dankbarkeit.

Hinweis der Redaktion: Der hier aus Anlass des Todes von Siegfried Lenz (17.3.1926 – 7. 10. 2014) veröffentlichte Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Mein Freund Siegfried Lenz. Ein dankbarer Gruß zum achtzigsten Geburtstag des Schriftstellers“ in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 17.3.2006. Der Text wurde den Regeln der neuen Rechtschreibung angepasst, jeder genannte Titel kursiviert. Wir danken Prof. Dr. Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.
In der F.A.Z. vom 11. September 1999 erschien von Marcel Reich-Ranicki
„Siegfried Lenz. Deutschstunden. Über einen Klassiker und einen Dichter des Mitleids: Rede zur Verleihung des Goethe-Preises an Siegfried Lenz“. Der Artikel ist jetzt auch nachzulesen in Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2014. S. 420-429.