Mit dem Tagebuch die Zeit festhalten

Philipp Hartmanns Filmessay hatte Deutschlandpremiere in der Karlsruher Kinemathek

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

„Gestern traf ich meinen Vater. Er wollte mir alles erzählen, was in meiner Kindheit geschehen war, um zu vermeiden, dass in meinem Gedächtnis weiße Flecken bleiben“, erzählt Philipp. „Das muss wohl ein Traum gewesen sein: Mein Vater ist seit langem tot. Ich erinnere mich aber, wie er mir gestern Fotos zeigte. Fotos, die er von mir als Kind gemacht hatte.“ Man sieht diese Fotos, alle sind auf der linken Seite weiß, rechts erkennt man schemenhaft Kinder, ein Auto, ein Haus, einen Arm, das Meer, Berge. Es sind Fotos, die entstehen, wenn man einen neuen Film einlegt: jeweils das erste Foto, das durch den Lichteinfall beim Einlegen überbelichtet ist. „Bilder, von denen man annimmt, sie werden eh nichts, und es egal ist, ob das Motiv zu sehen ist oder nur ein Zuviel an Licht.“ Fotos „von dem Moment vor dem eigentlichen Beginn“.

Erinnerungen an die eigene Kindheit. Filmaufnahmen von einem dreijährigen Mädchen. Woran wird sie sich später erinnern? Später, wenn das alles längst vergangen ist: „Sie wird auf die Einbildungskraft angewiesen sein, um diese Bilder zu Abbildern ihrer eigenen Erinnerung zu machen.“ Denn bis zum Alter von drei oder vier Jahren hält sich die Erinnerung nur in Ausnahmefällen.

Erinnerungen sind Zeitreisen. Aber was ist Zeit? Der Karlsruher Filmemacher Philipp Hartmann, Sohn des bekannten Kunsthistorikers Wolfgang Hartmann, hat einen Film über die Zeit gedreht, der am Mittwoch Deutschlandpremiere in der Karlsruher Kinemathek hatte: „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“. Kein Spielfilm, sondern eine Art Filmessay – ein Versuch, sich aus mehreren Richtungen diesem Phänomen zu nähern. Mosaikartig spielt er uns Szenen vor, die sich direkt oder indirekt mit der Zeit beschäftigen, Aspekte ansprechen, damit spielen, Geschichten erzählen oder auch nur andeuten. Da ist der Physiker in Braunschweig, der über die Atomzeit spricht, die auch in andere Länder gesendet wird: „Wir importieren Zeit.“ Oder zwei seiner Freunde, „einer ist Physiker, der andere Pragmatiker“, die über Albert Einsteins Zwillingsparadox diskutieren: dass ein Zwilling durch das All rast, der andere auf der Erde lebt, und als der eine nach drei Minuten wiederkommt und sich gerade die Zähne geputzt hat, ist der andere alt geworden und hat keine mehr – das Beispiel mit den Zähnen ist allerdings nicht von Einstein selbst. Oder eine Sammlung von Gegenständen, mit Erinnerungen aufgeladen: „ein Stein, aufgehoben auf einer Wanderung, bei der mir meine Mutter von ihrer Kindheit erzählte“, ein von M. geklauter Aschenbecher, „eine Spielkarte, übriggeblieben von einem Sommerabend, der eine lange Phase einer unglücklichen Liebe einleitete“. Erinnerungen an früher, an vergangene Zeiten.

Manche Beispiele kommen aus dem „normalen“, geregelten Leben. Wobei, wie ein Freund sagt, das „ungeregelte Leben in seiner Ungeregeltheit genauso regelmäßig ungeregelt ist wie das geregelte Leben geregelt“. Man sieht Hartmanns Mutter, die in ihrem Tagebuch die Zeit festzuhalten versucht, indem sie notiert, was sie getan hat: „Immer das gleiche.“ Eine Passage beschäftigt sich mit dem „Jetzt“, das ja immer schon vorbei ist. Manche Teile des Films denken über die Versuche nach, die Zeit zu bestimmen, indem man einen Raum ausschreitet: von Kante zu Kante dauert ungefähr vier Minuten „in unserer Zeit“.

Es ist ein Film, der durch seine gekonnt komponierte Struktur, durch die unaufdringlichen, aber eindringlichen Szenen, die mal „echt“ sind, mal eine Art Spielhandlung haben, zu eigenen Empfindungen und Überlegungen ermutigt. Der zu Diskussionen anregt über das Wesen der Zeit, unsere Abhängigkeit von ihr, über Möglichkeiten, ihr zu entkommen. Am Schluss zeigt Hartmann eine alte Frau, die immer mal wieder einfach glücklich ist, ohne Anlass. Und eine lange, gleichförmige Kamerafahrt mit einer Seilbahn, und die Erzählerstimme berichtet von den Japanern, die ihre Alten zum Sterben auf einen Berg getragen haben: „Die Vorstellung, am Ende des Lebens von einem Berg hinabschauen zu können, gefällt mir.“

Titel: Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe
Buch, Regie, Schnitt: Philipp Hartmann
Fiktionale Miniaturen: Jan Eichberg
Kamera: Helena Wittmann
Ton: Louis Fried
Dramaturgie: Herbert Schwarze
Schnittberatung: Luise Donschen
Schnittassistenz: Maya Connors
VFX und Farbkorrektur: Tim Liebe
Sounddesign und Mischung: Pablo Paolo Kilian
Ausstattung und Kostüm: Therese Schneider
Maske: Maria Trifu
Filmgeschäftsführung: Onno Ehlers
Produktonsassistenz: Lisa Böttcher
Deutschland 2013, diverse Formate; Farbe; 80 Min. – Screening copy: DCP oder BlueRay

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