„Eine große Stille stand über der großen russischen Steppe“

Ivan Bunins Erzählungen aus dem Jahre 1912

Von Alla SoummRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alla Soumm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Ivan Bunins poetischer Prosa, die – 1933 als „Prosadichtung“ mit dem Nobelpreis für Literatur gewürdigt – Weltberühmtheit erlangen sollte, kehrt als Motiv, Schauplatz oder gar Handlungsträger, der alle anderen handelnden Figuren zu überragen droht, immer wieder die große Steppe Südrusslands zurück, inmitten deren karger Weite der Autor als der letzte Spross eines verarmten Adelsgeschlechtes aufgewachsen war. Von den frühen Erzählungen wie „Antonovskije jabloki“(„Die Antonower Äpfel“; 1900) bis zum 1933 fertig gestellten, autobiographisch gefärbten Roman „Žizn‘ Arsen’jeva“ („Das Leben Arsenjews“) durchziehen Naturbeschreibungen der großen russischen Steppe Bunins Gesamtwerk nicht als ein Beiwerk, sondern als der einzig mögliche große Rahmen, innerhalb dessen jede Figur und jede Handlung nur gedacht werden kann. In „Das Leben Arsenjews“ opponiert der seinem Autor nahe stehende Erzähler sogar gegen den bagatellisierenden Beigeschmack von „Naturbeschreibungen“; stattdessen stellt er – Bunins eigener Poetik gemäß – fest, „dass es keine von uns unabhängige Natur gibt“ und „dass jede geringste Luftbewegung [nichts anderes ist als] die Bewegung unseres eigenen Lebens“.

Die Buninsche Verflechtung des Mikro- mit dem Makrokosmos wird mit den im Jahre 1912 verfassten Erzählungen auf eine neue Stufe gehoben. Zum ersten Mal erscheinen diese fünf Erzählungen nun in der ursprünglichen Fassung, um den Entstehungskontext in den Fokus zu rücken und damit die Entwicklungslinie des Buninschen Gesamtwerks nachvollziehbar zu machen.

Die Erzählungen um den großgewachsenen, vor Kraft strotzenden Bauern Zakhar Vorob’jov, dessen Blick „bald auf die Sonne, bald auf die […] Weite der Steppe, die der Weite der Wüste glich“, ihn nach Heldentaten dürsten und stattdessen einen gemeinen Alkohol- und Hitzetod erleiden lässt („Zakhar Vorob’jov“); um den jungen Kuhhirten Ignat, dessen hoffnungslose Leidenschaft zu der besser gestellten Hausdienerin Liubka am Tag vom „sonnige[n] südliche[n] Horizont jenseits der grau schimmernden Ebenen“ und in der Nacht vom sich „über dem dunklen Waldsaum“ erhebenden „große[n] rote[n] Mars“ angeheizt wird, um schließlich in der gemeinsamen Ermordung von Liubkas Liebhaber zu münden („Ignat“); um den im winterlichen Wald einsam lebenden Wachmann Jermil, den die bedrückende ‚Waldeinsamkeit‘ kurz vor den Rauhnächten – eine „unheimliche Zeit für jemanden, der im Wald, im Freien lebt“ – in die manische Todesfurcht treibt, bis er selbst das Verbrechen des Mordes begeht („Prestuplenije“ [„Ein Verbrechen“]; in späterer Fassung „Jermil“); um den reichen Bauern Lukjan Stepanov, der mit der Begründung, „[w]ir sind Erdbewohner“, trotz des Wohlstandes „mitsamt seiner zahlreichen Nachkommenschaft und den Kälbern in der warmen Erdhöhle“, einer Erdhütte, wohnen bleibt und sich beim nächtlichen Hinaustreten „mit bloßen Füßen […] in den knirschenden Schnee, unter den schwarzblauen Himmel und die Sterne“  als „ein Fürst unter Fürsten“ fühlt („Kniaz‘ vo kniaz’jakh“ [„Ein Fürst unter Fürsten“]) – all diese Erzählungen kreisen fast ausschließlich um die bäuerlichen Bewohner der großen Steppe.

Eine Ausnahme davon bildet die letzte Erzählung „Vera“ (in späterer Fassung „Posledneje svidanije“ [„Ein letztes Wiedersehen“]). Nach der Einführung der genuin Buninschen Thematik vom Niedergang des Landadels in Gestalt der bettelarmen Adelsfamilie in „Ein Fürst unter Fürsten“, die mit dem einfachen ‚Erdenleben‘ des Großbauern kontrastiert wird, ist Vera“ einzig den einstigen Herren der Steppe gewidmet. Als letzter Spross eines einst mächtigen Geschlechts macht sich darin Andrej Streshniov auf den Weg zu Vera, seiner einst unerwiderten Jugendliebe und nun zum Überdruss gereichenden Geliebten, um sich endgültig von ihr zu trennen. Doch an der Entzauberung der reinen Liebe haben nicht nur die einander einst Liebenden Anteil. Vielmehr sind Entzauberung und Niedergang ein überindividuelles Symptom des Erwachsenwerdens (so beklagt Vera, es statt zu einer wahrhaftigen Künstlerin nur zu einer „jämmerlichen Salonpianistin“ gebracht zu haben), der sozialen Entwicklung einer ganzen Gesellschaftsschicht (so sind Streshniovs „hohe […] Stiefel alt“ und seine ganze über die nächtliche Steppe zu Vera reitende Gestalt „welk und verwittert“) wie der vom individuellen und überindividuellen Mikrokosmos nicht zu trennenden Jahreszeit: „Der Mond stand über den verlassenen, silberdunstigen Wiesen zur Rechten… Die Traurigkeit und die Schönheit des Herbstes!“

Und während die menschliche Privattragödie in endgültiger Trennung und Einsamkeit endet und vom großen Rahmen nicht herauszulösende Erinnerungen zurücklässt – „Ich begleitete euch zu Pferd, es war ein klarer, kalter Abend… Hell leuchteten die jungen Triebe der Wintersaat, rosig schimmerten die Stoppelfelder und die Vorhänge am offenen Fenster des Waggons…“ –, geht der große Lauf der Welt, in den jedes kurze Menschenleben eingebettet ist, weiter:

„Streshniov […] ritt querfeldein […] über die Stoppeläcker. […] Auf den kahlen, stellenweise steinigen Wiesen, in die er hinunterritt, war es beinahe heiß. Still leuchtete der Herbsttag mit einem blauen, klaren Himmel über ihm. Eine große Stille stand über den abgeernteten Feldern, über den Erdfurchen, über der ganzen großen russischen Steppe. […] Auf den Kletten saßen Distelfinken. So würden sie den ganzen Tag über sitzen und nur hin und wieder auffliegen, den Platz wechseln und ihr stilles, schönes und vielleicht glückliches Leben woanders weiterführen.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Iwan Bunin: Vera. Erzählungen 1912.
Herausgegeben von Thomas Grob.
Übersetzt aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
Dörlemann Verlag, Zürich 2014.
240 Seiten, 23,90 EUR.
ISBN-13: 9783038200093

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