Mirobuk
Franziska zu Reventlows Bohème-Roman „Herrn Dames Aufzeichnungen“ ist in einer günstigen Neuausgabe zu haben
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFranziska zu Reventlow war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine der bekanntesten Größen der Schwabinger Bohème, wie sich in zahlreichen Sach- und Fachbüchern sowie in dem einen oder anderen biographischen Roman nachlesen lässt. Auch ihre ganz und gar uneitlen Tagebücher und Briefe zeugen davon. Reventlows Nachruhm reicht sogar soweit, dass das deutsche Fernsehen über die Weihnachtsfeiertage 1980 einen vom Bayrischen Rundfunk produzierten dreiteiligen Fernsehfilm über ihre Schwabinger Zeit ausstrahlte, der von einem Dokumentarfilm ergänzt wurde. Im Lauf der Jahre wurden die Filme nicht nur mehrfach wiederholt, 2012 ließ das Bayerische Fernsehen zudem einen weiteren Dokumentarfilm folgen. Denn die Quellenlage hatte sich inzwischen durch die Veröffentlichung ihrer Briefe an Bogdan von Suchocki und die erste verlässliche Tagebuch-Edition erheblich verbessert.
Reventlow selbst hat die Schwabinger Bohème und ihre ProtagonistInnen stets gerne satirisch auf die Schippe genommen. 1904 zum Beispiel mit dem „Schwabinger Beobachter“ und knapp zehn Jahre später in dem oft als Schlüsselroman gelesenen Büchlein „Herrn Dames Aufzeichnungen aus einem merkwürdigen Stadtteil“. Dieser fiktionale Herr Dame ist wohl kaum minder bekannt als seine Schöpferin, denn seine Aufzeichnungen wurden im Laufe der letzten 100 Jahre immer wieder neu aufgelegt. Zuletzt vom „matrixverlag“, dessen Ausgabe es hier zu würdigen gilt.
Bei „Herrn Dames Aufzeichnungen“ handelt sich zwar keineswegs um den einzigen Roman über die Schwabinger Bohème – Reventlows zeitweiliger WG-Genosse Franz Hessel und der von ihr nicht allzu sehr geschätzte Oskar A. H. Schmitz beispielsweise haben ebenfalls welche verfasst – aber es ist doch der Schwabinger Bohème-Roman schlechthin. Denn fraglos gibt der Episodenroman größeren Aufschluss über die Bohème des in ihm Wahnmoching genannten Stadtteils als alle anderen Romane und Erinnerungen von Angehörigen der Bohème. Ein Dokument von Rang also, wenngleich ohne dokumentarischen Charakter.
Wie sozusagen von Alters her üblich hat die Autorin Herrn Dames Aufzeichnungen einen kleinen Text zur augenzwinkernden Beglaubigung von deren Authentizität vorangestellt. Er informiert darüber, wer der Mensch war, der sie niederschrieb und wie sie in die Hände des gegenwärtigen Besitzers – respektive der Besitzerin – gelangten. Herr Dame wird als „Typus junger Mann aus guter Familie“ vorgestellt, der inzwischen leider verstarb, seine Aufzeichnungen zuvor jedoch noch dem oder der Autorin der „Vorrede“ in Form eines „ansehnliche Paket beschriebener Hefte“ überließ, damit dieseR nach Belieben mit ihnen verfahre.
Es mag offen bleiben, ob es ein kleiner Trick Reventlows ist, für ihren Roman die Form unvollständiger und überarbeitungsbedürftiger „Aufzeichnungen“ gewählt zu haben, aus denen möglicherweise einmal ein literarisches Werk entstehen könnte, um so ihre Schwierigkeiten zu kaschieren, ihn in eine einheitliche Form zu gießen, oder ob es sich vielmehr um einen kunstvollen Kniff handelt, der die Unabgeschlossen- und Unausgegorenheiten der Bohème-Ideologien und Ideenwelten in der Form des Romans spiegelt. Für beide Annahmen ließen sich einige Argumente ins Feld führen. Jedenfalls lässt Reventlow ihren fiktiven Autoren darüber nachsinnen, dass es „vor allem erst das Material zu sammeln und sich einen Stil zu bilden“ gelte, für einen Roman, von dem der so fleißig Material Zusammentragende fürchtet, er werde wohl „nie geschrieben werden“.
Selbst für Lesende, die mit der Schwabinger Bohème und Reventlows Rolle einigermaßen vertraut sind, wird der Roman womöglich manche Überraschung bereit halten. Denn angesichts ihrer Feier als Mutter und Hetäre, wie sie nicht zuletzt Ludwig Klages zu zelebrieren pflegte, sowie ihres frühen Essays „Viragines oder Hetären“ (1899) findet Reventlows Herr Dame erstaunlich kritische Worte über die Schwabinger Ideologie des Hetärentums: „Da laufen die dummen Mädel hin und lassen sich erzählen, daß das Hetärentum bei den Alten etwas Fabelhaftes gewesen sei. Und nun wollen sie auch Hetären sein“. So glauben sie, sie müssten „sich frei verschenken“ und fallen dabei „elend“ herein
In der vorliegenden Ausgabe wurde dem Roman aus unerfindlichen Gründen ein ganz und gar unpassendes Zitat von Anette Kolb vorangestellt. Zudem folgt ihm ein Nachwort von Gunna Wendt. Der Roman selbst ist auch heute noch sehr vergnüglich zu lesen. Ebenfalls Vergnügen bereitet sein angesichts der ordentlichen Aufmachung überaus günstiger Preis. Zwei gute Gründe also, ihn sich anzuschaffen.
Ach ja, „Mirobuk“, das geheimnisvolle Wort, das dieser Besprechung den Titel stiftet, ist die Wortschöpfung eines schwabingweisen Philosophen, der seinerseits gleichermaßen ein Geschöpf Schwabings wie auch Reventlows ist. Es lässt sich samt und sonders auf jede Idee „dieser seltsamen und umfangreichen Gedankenwelt“ der Bohème-Kreise anwenden – sei sie auch noch so enorm.