Literatur und Wissen: Anmerkungen zu einem expandierenden Forschungsfeld im Rückblick auf ein „Studienbuch“ von Ralf Klausnitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann Literatur etwas wissen? Im wörtlichen Sinn sicher nicht. Autorinnen und Autoren können mit ihr Wissen präsentieren, strukturieren, fixieren, vermitteln, reproduzieren und man kann ihr als Leser/in Wissen entnehmen oder, so die kognitionswissenschaftliche Perspektive, auf der Basis eigenen Wissens, aus den von Texten angebotenen Informationen Schlussfolgerungen (Inferenzen) im Hinblick auf einen nicht explizierten Sinnzusammenhang ziehen. Aber Literatur selbst weiß nichts. So wenig, wie sie etwas beabsichtigen oder fühlen kann. Wissen können nur jene menschlichen Subjekte etwas, die mit ihr umgehen. Literatur zum wissenden Subjekt zu machen ist eine metonymische Verkürzung. Wie alle bildlichen Redeweisen ist sie auch in der Wissenschaft durchaus legitim, aber man sollte sich bewusst sein, was sie sinnvoll meinen oder wofür sie gut sein kann, was sie erhellt oder vielleicht auch verbirgt und wofür sie symptomatisch ist.

Der Begriff ‚Wissen’ ist in der Wissenssoziologie schon lange etabliert,[1] in der Literaturwissenschaft erfreut er sich seit ihrer kulturwissenschaftlichen Wende in den 1990-er Jahren zunehmender Beliebtheit. Er ersetzt oder ergänzt hier vielfach den Begriff ‚Diskurs’, mit dem er in soziologischer Tradition die Tendenz teilt, von den Subjekten, deren Kommunikation der Macht von Diskursordnungen unterworfen ist, zu abstrahieren.[2] Im Unterschied zu ‚Diskurs’ oder zur Rede von der Kultur als Text, meint ‚Wissen’ (ähnlich wie ‚Geist’ in der alten Geistesgeschichte und ‚Ideen’ in der neueren Ideengeschichte) allerdings etwas Mentales, verweist auf Vorstellungen, die in Köpfen von Menschen gespeichert sind und von ihnen für wahr oder richtig gehalten werden. Im Unterschied zu ‚Wissen’ verweist ‚Diskurs’ wiederum darauf, dass sich Wissen nicht direkt beobachten und analysieren lässt, wenn es nicht verbalisiert, also in Form von Texten zugänglich ist. Wie attraktiv, zugleich jedoch diskussions- und präzisierungsbedürftig der Begriff ‚Wissen’ ist, zeigen etliche Veröffentlichungen der der letzten Jahre. Jochen Hörisch publizierte 2007 eine Aufsatzsammlung unter dem Titel Das Wissen der Literatur.[3] Im selben Jahr attackierte in der Zeitschrift für Germanistik Tilmann Köppe unter dem Titel Vom Wissen inLiteratur literaturwissenschaftliche Verwendungsweisen des Wissensbegriffs: „Texte sind keine Personen, sie können daher nichts wissen.“[4] Der Aufsatz initiierte in der Zeitschrift eine heftige Debatte.

Auf sie ging schon wenig später eine ganze Monographie zu dem Thema ein: Ralf Klausnitzers Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Das „Studienbuch“ kanonisierte den Wissensbegriff zum Bestandteil literaturwissenschaftlicher Lehre. Als Einführung für Studienanfänger eignet es sicher nicht, aber es ist mit seinen systematischen Begriffserklärungen und Beschreibungen unterschiedlicher Untersuchungskonzepte, mit seinen Informationen zu Wissenskulturen der Physik, Biologie, Medizin, Ökonomie, Mathematik oder Psychologie, mit seinen historischen Beispielanalysen etwa zur wirtschaftwissenschaftlichen Metapher der „unsichtbaren Hand“ und mit seinen zahlreichen Literaturhinweisen der bislang umfassendste Beitrag zur Verwendung des Wissens-Begriffs in der Literaturwissenschaft und anderen Disziplinen.

Von Köppes Einwänden zeigt sich das Buch scheinbar unbeeindruckt, wenn es mit dem Satz beginnt: „Literarische Texte wissen etwas – und zwar nicht wenig.“[5] Köppes Argumentation mündet freilich nicht in ein Plädoyer zur konsequenten Unterlassung solcher Formulierungen, sondern akzeptiert eine bewusstere Verwendung: „Ist der Begriff des Wissens hinreichend genau bestimmt und sind die genannten Konsequenzen einmal durchschaut, so spricht womöglich nicht viel dagegen, zur Rede von ‚Wissen in Literatur‘ zurückzukehren.“[6] Klausnitzers Monographie bezieht in einem eigenen Kapitel über „Literarische Kommunikation als Wissenskultur“ das Wissen von Autoren und Lesern denn auch ausdrücklich mit ein. Und mit der 2008 formulierten Prognose, dass das Forschungsfeld „Literatur und Wissen“ in „Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird“, hat der Verfasser Recht behalten (vgl. in der Dezember-Ausgabe 2014 von literaturkritik.de etwa die Beiträge über Literatur und ökonomisches Wissen). Welche Bedeutung in diesem Forschungsfeld die Analyse von „Big Data“ inzwischen hat, konnte er allerdings noch nicht wissen.

[1] Rainer Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung.Konstanz 2007.

[2] Oder war es in der Literaturwissenschaft zunächst umgekehrt? Siehe Michael Titzmanns schon 1977 in die strukturalistisch orientierte Literaturwissenschaft eingeführter Begriff des kulturellen Wissens, den der dann in späteren Aufsätzen erst mit dem Diskursbegriff abgeglichen hat. Vgl. Michael Titzman: Strukturale Textanalyse. München 1977, S. 263 ff.

[3] Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München 2007.

[4] Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik NF 17 (2007), S. 398-410;  hier S. 402. Vgl. die entsprechende Titelformulierung bei Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002. Vgl. später auch Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin 2010.

[5] Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin 2008, S. 1.

[6] Köppe: Vom Wissen in Literatur, S. 410.

TA

Titelbild

Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge - Modelle - Analysen.
De Gruyter, Berlin 2008.
446 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783110200737

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