Mahn-Mal Malina

Sandra Boihmane hat eine instruktive Interpretation des Romans „Malina“ vorgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun“, bespöttelte Friedrich Schiller die „Ausleger“ des Weltweisen und Alleszermalmers Immanuel Kant. Nun setzen nicht nur reiche Bauherren, sondern ebenso auch Bauherrinnen zahlreiche Menschen in Lohn und Brot. Was allerdings keineswegs bedeutet, dass letztere darum unbedingt als BettlerInnen zu schmähen wären. So hat etwa Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“ seit seinem Erscheinen vor gut vierzig Jahren immer wieder die Literaturwissenschaft beschäftigt, wobei im Lauf der Jahrzehnte manche erhellende Dissertation entstanden ist. Jüngst erschien etwa Sandra Boihmanes Untersuchung „Versteck der Sprache“, in der sie dem Arkanum des Titelworts von Bachmanns „hintergründig politischem“ Roman nachspürt.

Boihmane lüftet das Geheimnis „Malina“ auf bislang noch unerforschtem Terrain. Ihre „transdisziplinäre Studie“ beleuchtet erstmals „das bislang verborgene mundartliche Potenzial des Titelwortes und des Buches ‚Malina‘“, um „das Bedeutungsspektrum der Chiffre ‚Malina‘ zu erweitern und für eine innovative Interpretation“ des Romans „heranzuziehen“. Denn mit ihre Doktormutter Christina von Braun ist die Autorin der begründeten Überzeugung, „dass die Beziehung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit für die interdisziplinäre Kultur- und Geschlechterforschung von herausragender Bedeutung ist“. Sie belegt diese These nachdrücklich an dem der osteuropäischen Gaunersprache entstammenden Wort Malina. Dabei legt sie einen „neuen, jetzt politisch, historisch, genderkritisch und medientheoretisch relevanten Decodierungsvorschlag des Schlüsselwortes“ vor und zeigt im Laufe ihrer Untersuchung zudem ganz en passant, wie abwegig einige bisherige Auslegungen des Titels und des Figurennamens Malina sind, die den kurzen Interpretationsweg über das slawische Wort für „Himbeere“ beschreiten. Dieser habe nicht nur „zu einer Sinntravestie geführt“, sondern zu einer eine „ungewollten Persiflage“. Denn der „hergestellte pflanzlich-vegetative Verweisungszusammenhang“ verdecke „die historisch-politische Dimension des Buches“. Seit einiger Zeit werde darüber hinaus eine „Vielzahl fragwürdiger Anzeichen gehandelt, die eine vermeintlich inzestuöse Traumatisierung Bachmanns bezeugen sollen“. Fehl gehen Boihmane zu folge etwa die Interpretation Brigitte Dennemarck-Jägers, die – in den Worten Boihmanes – die These vertritt, „Bachmanns ‚Malina‘ sei vor allem ein Buch über Inzest“, und mehr noch „die ‚Gebärmutter-Lesart“ von Jutta Schlich“. Die von letzterer beschrittene „esoterische Abzweigung“ führt als Holzweg tatsächlich in eine ausweglose Sackgasse. Boihmane beklagt zudem Schlichs „geringe Werktreue und mangelnde Textgenauigkeit“. Sie selbst geht demgegenüber äußerst akribisch zu Werke.

Boihmanes zentraler These zufolge weist Bachmanns Roman auf „Plätze“ hin, „die es tatsächlich gegeben hat“, wobei, „die Bedeutung ‚Platz‘ im Text chiffriert und enthalten ist“. Bei dem im Roman „literarisch offenbarten Platz“ handele es sich um „ein Versteck, dessen Name eine verweigerte Erinnerung einfordert“. Boihmane unternimmt es nun zu zeigen, dass Ingeborg Bachmann mit dem Ausdruck Malina „ein Wort gefunden hat, dass [sic] das Gedächtnis an den Platz schärft“. So hält sie der Einbahnstraße des Himbeerwegs zum einen den „osteuropäischen kriminellen Soziolekt“ entgegen, in dem sich etliche Bedeutungen des Wortes Malina belegen lassen, und zum anderen Dokumente und Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden, in denen das Wort ebenfalls wiederholt auftaucht.

Mit dem „ambivalenten Schlüsselwort ‚Malina‘“ öffnet Boihmane mehrere Türen. So enthüllt Bachmann der Autorin zufolge anhand des „GanovInnen-Motivs“ zunächst den „inszenierten Selbstbetrug der österreichischen Nachkriegsgesellschaft“, „die ein hilf- und wehrloses Opfer Hitler-Deutschlands gewesen sein will“. Außerdem weist sie außerdem die in ihrer Diversität miteinander verwandten Bedeutungen des Wortes Malina im „osteuropäischen Gaunervokabular“ nach: „Diebesquartier“, „Diebesspelunke“, „Versteck für Kriminelle“, „ein Platz, um sich zu verkriechen, um sich einzugraben, um sich zu verstecken“. Die als „Malina“ bezeichneten „verborgenen Orte“ und Verstecke „befanden sich oft zwischen einer echten Mauerwand des Hauses und einer nachträglich errichteten ‚falschen‘ Wand, wobei die Eingänge in die Mauerwand-Verstecke sorgfältig maskiert wurden“, erläutert Boihmane. Wer dächte da nicht sogleich an das Verschwinden der Ich-Erzählerin in der Wand am Ende von Bachmanns Roman?

Wichtiger noch als der Bezug des Titelwortes auf subkulturelle osteuropäische Gaunersprachen aber ist die nicht ganz unähnliche Bedeutung, die ihm in Texten von Holocaust-Überlebenden zukommt. Denn Bachmann erinnert Boihmane zufolge mit dem versteckten Sinn des Titelworts ihres Romans vor allem an „Orte des Grauens und zugleich an Orte des Überlebens“ während des Holocaust und kann zur Plausibilisierung ihrer These auf etliche Texte von Holocaust-Überlebenden verweisen, in denen das Wort Malina in eben diesem Sinne auftaucht. Auch künftige Generationen, so Boihmanes Interpretation des Romans von Ingeborg Bachmann, „sollen erfahren, dass der Mord an den Jüdinnen und den Juden im 20. Jahrhundert Mauerwand-Verstecke entstehen ließ, in denen die Menschen entweder für immer verschwanden, erstickten, verbrannten – oder überlebten“.  So ist Bachmanns „Malina“ ein „Ort des Gedächtnisses, stellvertretend für das Mauerwand-Versteck und für alle anderen Verstecke“ und damit „ein dynamisches Mahn-Mal“.

Boihmane bringt mit ihrer ebenso innovativen wie instruktiven Lesart des Romans frischen Wind in die Bahnmann-Forschung, der zudem in die richtige Richtung bläst.

Titelbild

Sandra Boihmane: Malina – Versteck der Sprache. Die Chiffre ‚Malina‘ in Ingeborg Bachmanns Werk und in Zeugnissen von ZeitzeugInnen.
Neofelis Verlag, Berlin 2014.
326 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783943414660

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