Berliner Bilderbogen

Ein Auswahlband erinnert mit Textschnipseln aus FC Delius’ Romanen, Gedichten und Essays an Stadtszenen aus 50 Jahren

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie porträtiert man eine große Stadt? Zwar mögen Weltstädte wie Paris, New York und Berlin einschlägige Symbole haben, doch bilden diese kaum das Charakteristische einer Stadt und des Lebens in ihr ab. Ein Stadtporträt muss wohl notwendig Richtung Wimmelbild tendieren: allzu Disparates, Gegensätzliches oder schlicht Nebeneinanderherlaufendes, lässt sich nur additiv zum Sammelsurium des Großstadtlebens fügen. Dieses vielfältige Gewusel kann man kaum in einem Text, einem Gedicht oder einem Narrativ einfangen. Insofern ist es keine schlechte Idee, aus den zahlreichen fiktionalen und journalistischen Texten des seit 1963 in Berlin lebenden Büchner-Preisträgers Friedrich Christian Delius eine Kompilation mit Texten zur Stadt zusammenzustellen. Rainer Nitsche hat sich dieser Aufgabe gewidmet und für den kleinen Transit Verlag auf gut 120 Seiten ungefähr 50 Texte mit Delius’ Berlin-Impressionen respektive Berlin-Reflexionen von 1963 bis 2014 versammelt.

Welche Berlin-Bilder vermittelt uns dieser mit Stadtfotos von Renate von Mangoldt angereicherte Band? Was fehlt? Die Mehrzahl der Texte stammt aus der Zeit nach 1989, doch erinnern sie (fast ausschließlich) West-Berliner Szenen und Momente der Mauerjahre. Die Essays und Romanpassagen kommen alle aus der Zeit nach 1997. Nur Gedichte über Berlin finden sich aus den Jahren vor 1989. Im kurzen Genre verdichtete Delius seit den frühen 1960er-Jahren seine Beobachtungen des Lebens in der umgrenzten Stadt. Beim Blättern in den angehängten Textnachweisen fällt auf, dass der Westberliner Autor, sich den Erlebnissen mit Grenzern und seinen Gefühlen beim Transit durch die DDR literarisch erst nachträglich, als die beklemmende Mauer gefallen ist, auch in Prosareflexionen widmet.

Aus seinem 2012 erschienen biografisch-zeitgeschichtlichen Reflexionen „Als die Bücher noch geholfen haben“ stammt einer der wenigen Texte über Ostberlin, mit dessen Autoren (Günter Kunert, Wolf Biermann, Heiner Müller, Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch, Karl Mickel und viele mehr) Delius als Lektor des Rotbuch Verlags verkehrte – oder auch als befreundeter Dienstleister, der Briefe und Verlagskontakte transportiert und Whisky aus dem Intershop besorgt. In den 1970er-Jahren war er etwa einmal pro Woche im Osten der geteilten Stadt, wie er nach der Wende in den Akten der Stasi, die ihn überwachte, säuberlich aufgelistet findet. Die wenigen anderen die östliche Stadthälfte betreffenden Texte sind Nachwendeessays über das preußische Erbe in der historischen Stadtmitte, dem sich der Autor (wie auch immer mit leicht ironischer Brechung) auch aus familiären Gründen verbunden sieht.

Delius’ Erinnerungsroman „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ evozierte 1997 die Lebens- und Befreiungsgefühle der Studenten der 1960er-Jahre. Mit über 30-jährigem Abstand niedergeschrieben wurde auch die den Band eröffnende Reminiszenz an seine Ankunft 1963, die Einfahrt mit dem Zug nach mühsamer Transitpassage (die mit eindringlicher Reihentechnik geschildert wird in einem seitenlangen Satz) im Westberliner Bahnhof Zoo. Prägnant und überwältigend wirkt hier Delius’ Schilderung der damaligen Impressionen nebst Evokation der Gefühle von Faszination und Unsicherheit des aus der hessischen Provinz übergesiedelten Studienanfängers. Hier wie anderswo wirkt der lange Bandwurmsatz als vorrangiges Stilmittel der Stadtbeschreibung. Die parataktische Aufzählung ist das einleuchtende, weil angemessene Stilmittel, um die vielfältige, hektische, den Beobachter heraus- oder überfordernde Stadt mittels Sprache zu bannen. Nicht nur das räumliche Nebeneinander im Wimmelbild Großstadt wird dieserart in langen Sätze eingefangen. Auch die geschichtlichen Tiefenschichten der Stadträume finden so zur Sprache, etwa in Delius’ Geschichtsassoziationen rund um die Gedächtniskirche aus seinem „Amerikahaus“-Roman von 1997: Von Kaiser Wilhelm über diverse Opfer und Trümmer, vom NS bis zum kalten Krieg, von den Klängen der Radiopropaganda, dem Lärm sowjetischer Düsenjäger zu Willy Brandts entschlossener Stimme, der alle Berliner segnet, den desorientierten Studenten eingeschlossen.

Im Gegensatz zum Mannigfaltiges aufzählenden deskriptiven Bandwurmsatz aus den Erzählungen sind die Stadtgedichte von Delius meist ganz kurz und prägnant. Sie widmen sich nur einem Phänomen, beispielsweise einem Kreuzberger Säufer oder den Rasensprengern in Dahlem. Reichliche Berlin-Erfahrung, sein ausgeprägtes Sensorium für Stimmungen und die Gabe der trefflichen Formulierung kennzeichnen Delius, wenn er die (berüchtigten) Launen der wetterfühligen Berliner 2004 auf den Punkt bringt: „Es gibt wenige Tage im Jahr, an denen die Berliner sich gut gelaunt zeigen. Am ersten warmen Frühlingstag, beim Laufen über gefrorene Seen und nach dem ersten kräftigen Schneefall geschieht das Wunder. Sie blicken zum Himmel auf, schauen sich staunend an und wieder ins Weite, wie erlöst vom Bann ihres Missmuts. Für kurze Zeit zeigen die Städter sich einverstanden mit der Natur und sperren sich nicht gegen die Neigung, glücklich zu sein.“ Vor gut 40 Jahren wurde der Autor übrigens als Germanist promoviert mit seiner Dissertation über Wetter- und Witterungssymbolik in den Romanen des bürgerlichen Realismus.

Viele der jüngeren Texte sind Gelegenheitsarbeiten, entstanden aus Anfragen von Zeitungen oder von Anthologisten, so etwa die Stellungnahmen zum Anschlag auf das Grab des Vorstands der jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, oder die Erinnerungsskizze zum kuriosen Verlauf seines Abends des Mauerfalls, an dem die Übung und das Gespräch mit seiner Italienischlehrerin wichtiger und präsenter waren als die Maueröffnung ein paar Kilometer weiter, auf die er, ohne es recht zu begreifen, vom befreundeten Autor Peter Schneider per Telefonat aus den USA aufmerksam gemacht wurde. Selbstkritisch und geschichtsskeptisch revidiert der ’68er zum Jubiläumsjahr 1998 in einem Zeitungsbeitrag gewisse Mythen der Generationserinnerung an 68, indem er einige symbolische Szenen und Sprüche ins – realhistorisch wohl korrekte – Niedliche herab transponiert.

Gerade im Kontext des gegenwärtigen Berlinhypes um Nightlife, Konsum und Hipness bieten diese Texte aus 50 Jahren eine willkommene, meist trefflich formulierte Erinnerungsstütze an die Vorgeschichten des heutigen Hauptstadtrumors. Sie vergegenwärtigen Milieus und Ereignisse der Mauerzeit – freilich aus einer genuin westberliner Perspektive.

Titelbild

Friedrich Christian Delius: Tanz durch die Stadt. Aus meinem Berlin-Album.
Mit Fotos von Renate von Mangoldt.
Transit Buchverlag, Berlin 2014.
128 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783887473099

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