Reformerin und Magierin

Zum 75. Todestag Selma Lagerlöfs, der ersten Literaturnobelpreisträgerin

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

1. Verehrt und verachtet

Selma Lagerlöf hatte viele Verehrer. Zum Beispiel Stefan Zweig, der von sich sagte, er liebe jedes ihrer Bücher, oder Heinrich Mann, der ihrem Werk „die umfassendste und menschlichste“ Wirkung zu sprach. Sein Bruder Thomas Mann rühmte sie zu ihrem 75.Geburtstag mit den Worten:  „Mit Selma Lagerlöfs epischer Urbegabung verbindet sich eine Reinheit der menschlichen Gesinnung, einer geistigen Güte, die in meinen Augen ihr natürliches Genie doppelt verehrungswürdig macht.“ Hermann Hesse stellte sie über alle anderen Autoren seiner Zeit: „Es lebt zur Zeit kein Dichter, der auch nur annähernd diese epische Kraft besitzt…“ Nelly Sachs schließlich, die schon als junges Mädchen die Dichterin „ihr leuchtendes Vorbild“ nannte, widmete ihr ihren ersten Gedichtband.    

Größeres Lob von großen Kollegen kann man sich kaum vorstellen. Aber es gab schon zu Selma Lagerlöfs Lebzeiten und später nach ihrem Tod auch andere Stimmen. Als „Monumental-Gouvernante“ wurde sie von Kritikern nach Veröffentlichung ihres ersten Romans Gösta Berling bezeichnet. Man warf ihr „Einfalt“ vor und eine kindliche „Heimatverbundenheit“. Von vielen Schweden wurde sie abfällig „en sagotant“, eine Märchentante, genannt. So bestanden auch im Nobelpreiskomitee Zweifel, ob man einer Verfasserin von Märchen und Sagen, die realistische und phantastische Elemente miteinander vermische, den wichtigsten Literaturpreis zusprechen könne. Aber 1909, nach mehrmaliger Nominierung, war es dann soweit. Fast 20 Jahre, nachdem ihr 1891 der literarische Durchbruch mit Gösta Berling gelungen war und drei Jahre, nachdem ihr bekanntestes Werk Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (Nils Holgerssons underbara ersa genom Sverige), erschienen war und auch außerhalb Schwedens ein großer Erfolg wurde, erhielt sie als erste Frau den Nobelpreis für Literatur.

 2. Ein Leben auf dem Land und auf Reisen

Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf kam 1858 auf dem Gut Mårbacka der heutigen Gemeinde Sunne im Värmland zur Welt. Ihr Vater Erik Gustav Lagerlöf, ein ehemaliger Leutnant, betrieb Landwirtschaft, ihre Mutter Elisabeth Lovisa entstammte einer wohlhabenden Großhändlerfamilie aus Filipstad. Sie brachte eine reiche Aussteuer mit in die Ehe und später ein ansehnliches Erbe. Selma wuchs als viertes von fünf überlebenden Kindern in gut bürgerlichen Verhältnissen auf. Sie wurde mit ihren Schwestern zusammen zu Hause unterrichtet; sie war ein aufmerksames, aber leicht störbares Kind. In der dreiteiligen Autobiographie Mårbacka beteuert sie immer wieder, sich glücklich und geborgen gefühlt zu haben im Kreise der Familie, in der es schon von der Großmutter her eine Erzähltradition gegeben hatte, die auch ihre Eltern weiter lebendig hielten.

Großmutter und Tante trugen alte Sagen und Märchen vor, gebannt hörte Selma die Hausangestellten von Trollen und Geistern sprechen und den Vater historische Ereignisse ausmalen. So erfuhr sie von Land und Leuten, von Phantastischem und Übernatürlichen. In ihrer Rede vor dem Nobelpreiskomitee zählte sie auf, wem sie Dank schulde für die mannigfaltigen Geschichten, die sie als Kind aufnahm und die sie anregten, später selbst zu schreiben: „den Alten, die in kleinen, grauen Hütten am Waldessaum saßen“ und „von verzauberten Jungfrauen“ sprachen, den bleichen hohläugigen Mönchen und Nonnen, die „Gesichte sahen und Stimmen hörten“, den dalekarlischen Bauern, die dem Ruf Gottes folgten und „nach Jerusalem zogen“, den „heimatlosen Kavalieren“ (vagabundierenden Offizieren), die in den Wirtshäusern Lieder sangen. Hier, in ihrer nächsten Umgebung, sammelte sich der Stoff aus Mythen und Legenden an, aus Märchen und Sagen, Träumen und Gleichnissen, den Lagerlöf später verarbeitete. 

Ihr Leben lang litt Selma Lagerlöf unter einer leichten Körperbehinderung: Folge einer angeborenen Hüftluxation. Diese Krankheit brachte zeitweise eine Einschränkung der Motorik mit sich, die sich als Lähmung äußerte und die Familie in Schrecken versetzte. Ob die Behinderung zu „nie ganz geklärten, frühen Äußerungen zeitweiliger Hysterie“ führte, wie Per Olov Enquist behauptet, sei dahingestellt. Auf jeden Fall ließ die Hüftluxation Lagerlöf eine Sonderrolle zukommen, die sie immer wieder zum Thema machte: „Diese Behinderung hat mich gezwungen, stillzusitzen und in mich hineinzuschauen, und das ist der Grund, warum ich Schriftstellerin wurde. Wäre ich gesund gewesen, hätte ich wohl irgendeinen Fabrikverwalter heiraten müssen.“ Tatsächlich bewegte sich Selma Lagerlöf als Erwachsene langsam, und ihre Körpererscheinung hatte etwas Statisches an sich.

Das wahre Drama der Familie Lagerlöf, von vielen Biographen ausgeklammert, ist aber der schwere Alkoholismus des Vaters gewesen. „In den letzten zehn Jahren seines Lebens trinkt er von morgens bis abends. Das Gut, der Herrenhof, verfällt immer mehr, die Finanzen sind ruiniert, der Glanz blättert ab. Was einst der Stolz der Gegend war, ist bald als ‚Schande‘ in aller Munde“, so Enquist. Selma hatte ein besonders inniges Verhältnis zu ihrem Vater und litt unter der nun sichtbar gewordenen Selbstzerstörung am meisten, wie die jüngere Schwester Gerda notierte. Der Wunsch, ihn zu retten, wurde nur noch von dem Gefühl der Schuld und Ohnmacht übertroffen, das nicht zu können. Die Zeit der späten Jugend wurde für Lagerlöf zur Zerreißprobe. 

Mit 23 Jahren verließ sie gegen den Willen des Vaters das Elternhaus und begann eine Lehrerinnenausbildung in Stockholm. Sie „wäre zugrunde gegangen“, wenn sie diesen Schritt nicht gewagt hätte, äußerte sie einer Verwandten gegenüber. Am Ende ihrer Ausbildung, die von 1882-1885 dauerte, starb Erik Gustaf Lagerlöf, und das überschuldete Gut musste 1888 verkauft werden. Johan, Selmas älterer Bruder versuchte vergeblich, Mårbacka vor dem Konkurs zu retten, und emigrierte nach Amerika.

Ob der Tod des Vaters mit Selma Lagerlöfs Umzug nach Stockholm zu tun hatte, wie sie selbst sich zeitlebens vorwarf, oder doch der normale Verlauf einer schweren Suchterkrankung war, ist nicht zu sagen. Per Olov Enquist fand für sie in einer Szene seines Theaterstücks Die Bildmacher die Worte: „Wir wußten ja beide, wenn ich fahre, würde er sterben, und wir wußten auch, ich würde meine Meinung nicht ändern“.

1895 erlaubten die Tantiemen für Gösta Berling und ein Reisestipendium des schwedischen Königs und der Schwedischen Akademie Selma Lagerlöf, den Schuldienst aufzugeben. Sie war eine unkonventionelle Lehrerin gewesen, die sich an keine Lehrpläne hielt, und es vermied, Schüler zu prüfen. Ihre Schulleiterin, der die Begabung Lagerlöfs nicht verborgen geblieben war, hatte sie gewähren lassen. Nun notierte die Autorin befreit, jetzt könne sie „vom Morgen bis zum Abend schreiben“. Und etwas Neues lockte sie: Die Heimatverbundene begann zu reisen. An der Seite der Schriftstellerin Sophie Elkan unternahm Lagerlöf lange Exkursionen durch Europa und in den Nahen Osten, der Freundin widmete sie dann auch ihr zweibändiges Epos Jerusalem (1901-1902), das durch die gemeinsamen Aufenthalte angeregt worden war. Eng verbunden war Lagerlöf auch mit einer anderen Frau: Valborg Olander. Es ist anzunehmen, dass es sich bei diesen langjährigen Beziehungen, besonders der zu Olander, um Liebesverhältnisse handelte.

An der Seite der wohlhabenden, früh verwitweten Jüdin Sophie Elkan erwarb Lagerlöf ein sicheres gesellschaftliches Auftreten. Die temperamentvolle, charmante, nervöse Sophie war das Gegenbild zu der ernsten, verschlossenen Selma. Eines der Vergnügen der beiden Schriftstellerinnen war, sich gegenseitig zeitgenössische Literatur vorzulesen, um sie anschließend zu ‚verreißen‘. Die enge Beziehung zu Sophie dauerte bis zu ihrem Tod 1921 an.

Die Literaturprofessorin Valborg Olander unterstützte Lagerlöf bei ihrer Arbeit, sie übertrug Manuskripte in Reine, lektorierte die Texte und beriet Lagerlöf bei mehr als einem Werk; vor allen aber beantwortete sie die Massen von Leserpost, die täglich eintrafen. Selma Lagerlöf nannte Valborg Olander liebevoll: „En riktig författarhustru“ – eine richtige Schriftsteller-Ehefrau.

3. Die Erzählerin

Selma Lagerlöf hat ein umfangreiches erzählerisches Œuvre hinterlassen. Es umfasst kürzere und längere Erzählungen, Novellen und Romane, außerdem ihre Autobiografie. Sie war keine Intellektuelle, aber doch eine bewusst arbeitende Schriftstellerin. Die Stoffe für ihre teils märchen- und legendenhaften, teils sozialkritischen Erzählungen und Romane gaben ihr die Phantasie ein, eine genaue Beobachtung und die Lust am Weiterspinnen der Geschichten anderer.

Gösta Berling wurde angeregt durch den schwedischen Dichter und Komponisten Carl Michael Bellman und den finnischen Autor Johan Ludvig Runeberg. Nachdem Lagerlöf begeistert an einer Literaturvorlesung  über die beiden Autoren teilgenommen hatte, sagte sie sich: „Runebergs gutmütige Haudegen und Bellmans sorglose Saufkumpane seien das beste Material, das einem Dichter zur Verfügung stehen könnte“. Daraus folgerte die Einundzwanzigjährige: „Die Welt, in der du unten in Värmland gelebt hast, ist nicht weniger seltsam als die Fredmans oder Fähnrich Ståls. Wenn du nur lernst, sie zu benutzen, dann hast du einen ebenso guten Stoff zu bearbeiten wie diese beiden“.

Die episodenreiche Saga vom trunksüchtigen Pfarrer Gösta Berling, der sein Amt verloren hat und durch alle Höhen und Tiefen des Lebens gehen muss, verbindet regionale Legenden mit klassischen Mythen und weltliterarischen Stoffen wie Amor und Psyche, dem Faust- und dem Don Juan-Stoff. Am Ende obsiegt die Liebe. Gösta Berling, der zu Beginn des Romans hatte sterben wollen, ist geläutert und wendet sich nun den Hilfsbedürftigen zu. 

Häufig wählt Lagerlöf als Grundstruktur Aufbruch und Reisen. Dadurch gelingt es ihr, verschiedene Welten einander gegenüber zu stellen: Arm und Reich, Land und Stadt, Menschen- und Vogelperspektive, alte Legenden und Zukunftsvisionen, Christentum und Mythologie. In dem zweibändigen Auswanderroman Jerusalem kontrastiert die waldreiche, hügelige Landschaft der Provinz Dalarna mit der Stadt Jerusalem. Auch in der dreiteiligen Autobiographie Mårbacka (1922, 1930 und 1932) führt der Weg von der Landschaft Värmlands und seinen Mythen zu Großstadt Stockholm als Ort der Modernität. 

Das erstaunlichste Werk Lagerlöfs aber ist und bleibt die Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Vom schwedischen Volksschullehrerverband beauftragt, konzipierte Lagerlöf ein Lesebuch für den Heimatkundeunterricht, das „zugleich ein Kunstwerk und ein Schulbuch“ wurde. Wie Rudyard Kipling in Die Dschungelbücher wählte auch sie die Tierfabel und einen jungen unreifen Helden, der halb wie im Märchen, halb wie im Erziehungsroman seine Persönlichkeit finden muss.

Der 14-jährige Bauernjunge Nils Holgersson ist „hartherzig gegen die Tiere und boshaft gegen die Menschen“. Seine Eltern grämen sich wegen seines schlechten Charakters, sind aber machtlos, ihn zum Besseren zu bewegen. Als Nils eines Tages ein Wichtelmännchen mit einem Fliegennetz quält, wird er von ihm in einen Däumling verwandelt. Klein und wehrlos, muss er nun um sein Leben fürchten. Da kommt ihm ein Zufall zu Hilfe: Der zahme Gänserich Martin nimmt ihn auf seinen Rücken und schließt sich einer Schar Wildgänsen an. Die Zugvögel fliegen über ganz Schweden, die Reise dauert ein halbes Jahr. Nils lernt die Inselwelt von Schonen im Süden bis Lappland im hohen Norden kennen. Er versteht die Sprache der Tiere und teilt mit ihnen ihr Los. Langsam entwickelt er sich zu einem fürsorglichen Jungen. Nachdem er in Värmland der Dichterin selbst begegnet ist, kommt er über die Westküste zurück nach Schonen. Dort erhält er seine normale Gestalt zurück und wird von seinen Eltern in die Arme geschlossen. Er rettet seine Lieblingsgänse vor der Schlachtung und schaut am Ende sehnsüchtig einer Schar von Wildgänsen nach, die über das Meer davonfliegt. Fast wünschte er, wieder ein Däumling zu sein, um mit ihr fortfliegen zu können. Denn nur unter Tieren konnte er zu einem liebenden und verantwortungsvollen Menschen werden.

In diesem Werk erreicht Lagerlöfs Erzählkunst ihren Höhepunkt, all ihre Begabungen vom Phantasienreichtum hin bis zum pädagogischen Geschick kommen hier zur vollen Entfaltung. In einer modernen, lebendigen Sprache verknüpft sie alte Sagen, lehrreiche Geschichten, Traumerlebnisse, Märchen und geographische Beschreibungen mit dem Schicksal ihres Helden. Geschichte und Gegenwart des damaligen Schweden werden thematisiert, auch Erzgruben und Sägewerke, Landwirtschaft und Schifffahrt. Kleine Abhandlungen über Flora und Fauna sind geschickt in das Märchen eingestreut. Sozusagen aus der Vogelperspektive erhält der Leser einen umfassenden Überblick über Schweden zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Fortschrittsglaube Lagerlöfs und ihre Bejahung der immer stärker werdenden Industrialisierung Schwedens sind deutlich herauszuhören.

Nils Holgersson wurde in 40 Sprachen übersetzt. Der Verbreitung des Buches kam zugute, dass sich die Kinderliteratur schon vor der Jahrhundertwende zu etablieren begann. Die moralisierenden Schriften, die fast ausschließlich erzieherischen Zwecken dienten, wurden abgelöst von schön gestalteten Kinder- und Jugendbüchern. Zu ihrem hohen Ansehen trug bei, dass bedeutende Künstler wie die Malerinnen Ottilia Adelborg und Jenny Nyströmder und der Maler Carl Larsson, der auch Selma Lagerlöf porträtierte, sich als Illustratoren um diese Literatur bemühten. Das von der schwedischen Autorin Ellen Kay ausgerufene ‚Jahrhundert des Kindes‘ brachte eine Fülle an Werken hervor, von denen ein Teil sogar zur Weltliteratur gezählt wird – nicht zuletzt Nils Holgersson.

 4. Unternehmerin, Frauenrechtlerin, Pazifistin

1908 kaufte Selma Lagerlöf das Guthaus der Familie zurück, danach Zug um Zug das umliegende Land. Auf Mårbacka ließ sie eine Fabrik für Hafermehlproduktion errichten, durch die sie die Menschen in ihrer Umgebung mit Arbeit versorgte. Sie investierte viel Zeit und Geld in dieses Projekt, unternahm alles, um die wirtschaftliche Lage ihrer Region zu verbessern, und machte sich außerdem Gedanken über die Pflichten einer Arbeitgeberin. Sie beschäftigte etwa 50 Menschen, die sie gut bezahlte, in eigenen Unterkünften unterbrachte und für die sie die Kranken-, Sozial-, und Rentenversicherung übernahm. Außerdem erlaubte sie den Alten, ihren Lebensabend auf dem Hof zu verbringen.

Das ganze Unternehmen, das hoffnungsvoll begann, wurde bald ein finanzielles Desaster. Löhne mussten aufgebracht werden, die Verwalter betrogen sie, die Weltwirtschaftskrise behinderte den Absatz des Hafermehls in Amerika, Gewinne flossen nicht zurück oder versandeten. Enorme Schulden sammelten sich an. Um Mårbacka halten zu können, war die Autorin gezwungen, zu schreiben; und ihr Verleger, der ihre Nöte kannte, veröffentlichte ihre neuen Erzählungen immer kurz vor Weihnachten, so dass ein guter Absatz gesichert war.

Selma Lagerlöf war nicht nur Sozialreformerin, sondern auch Frauenrechtlerin und Pazifistin. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieg geriet sie in eine Schreibkrise und ahnte in den Jahren danach, wie schnell gerade junge Menschen, die die Grausamkeit des Krieges nicht erlebt hatten, sich begeistern würden für einen neuen. „Auf uns kommt es jetzt an, ob wir den Menschen einen Ekel vor dem Krieg einflößen.“ Sie verfasste Flugblätter, unterzeichnete 1930 wie Albert Einstein, Sigmund Freud, Thomas Mann oder Stefan Zweig Das zweite Manifest gegen Wehrpflicht und militärische Ausbildung der Jugend, und sie sammelte Spenden für Flüchtlinge und Kriegsgefangene.

In ihren Aufrufen gegen den Krieg wandte sich Lagerlöf an Frauen. In ihren Reden stilisierte sie die Mutter zur Gegenfigur des kriegswilligen Mannes: „Ihr Mütter müsst mehr als alle anderen darunter leiden zu sehen, wie das Blattwerk und die Früchte eingehen und verderben. Euren Herzen entspringt die Lust, zu beschützen und zu umhegen. Durch eine angeborene, heimliche Weisheit ist es euch gegeben, den Zusammenhang zwischen allen Teilen der Menschheit zu verstehen. Die Rede davon, dass, wenn ein Glied leidet, alle anderen auch leiden, ist für euch eine unbedingtere, höhere Wahrheit als für andere.“

Aufmerksam beobachtete man im nationalsozialistischen Deutschland die Antikriegshaltung der beliebten Schriftstellerin, deren Kunst des volkstümlichen Schreibens man schätzte. Während Lagerlöf befürchtete, „dass nach dieser Sache meine Bücher auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden“, wurde nur die Radiosendung „Deutschland grüßt Selma Lagerlöf“ anlässlich ihres 75. Geburtstags gestrichen, und man entfernte lediglich einige Bühnenstücke vom Spielplan. Der Verkauf gerade ihrer autobiographischen Werke ging fast ungehindert weiter. Die Einstellung Lagerlöfs zu Deutschland während des Dritten Reichs war ambivalent. Auf der einen Seite verabscheute sie Krieg und Faschismus, auf der anderen war ihr der Erfolg ihrer Werke im nationalsozialistischen Deutschland sehr wichtig, und das keineswegs nur unter finanziellen Gesichtspunkten. Sie schätze ihren großen Leserkreis, dem sie sich freundschaftlich verbunden fühlte. Das führte dazu, dass sie eindeutige politische Äußerungen gegen die Nazis nicht wagte und sogar Angst vor der Entdeckung hatte, eine jüdische Sekretärin zu beschäftigen.     

1933 trat sie dem Komitee zu Rettung deutscher Juden bei. Nelly Sachs und ihre Mutter gehören zu denen, denen sie half, Deutschland zu verlassen. Der „Briefkontakt mit Selma Lagerlöf öffnete ihnen die sonst ängstlich verschlossene Tür Schwedens“, so Bengt Holmqvist in Das Buch der Nelly Sachs. Als Mutter und Tochter nach Schweden einreisen durften, lebte Lagerlöf  nicht mehr. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten und die letzten Tage auf ihrem Gut bewusstlos gelegen. Es wurde berichtet, „daß sie unter dem Eindruck der verhängnisvollen politischen Wendungen dieses Krieges stand, als sie am 16. März 1940 die Augen schloss“. 

Selma Lagerlöf war eine große Dame bis ins hohe Alter hinein, die sich politisch einmischte und humanitär engagierte. Sie war eine Realistin und Utopistin gleichermaßen, die sich manchmal in irrationale Ideen verrannte, aber das Ziel einer besseren Welt nie aus den Augen verlor. Vor allem aber war sie eine große Erzählerin, die bis heute ihre Leser findet. Neben der Auszeichnung des Literaturnobelpreises und der Berufung in die Schwedische Akademie, verliehen ihr die Universitäten Uppsala, Greifswald und Kiel den Ehrendoktor, Frankreich ernannte sie zum ‚Ritter der Ehrenlegion‘.

Ihre Erzählweise ist und bleibt einzigartig, ihr Werk gehört zur Weltliteratur. Die Begründung des Komitees zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Selma Lagerlöf von 1909 klingt heute etwas altmodisch, aber der Enthusiasmus der Juroren teilt sich immer noch mit: Sie sei ausgezeichnet worden „auf Grund des edlen Idealismus, des Phantasiereichtums und der seelenvollen Darstellung, die ihre Dichtung prägen“.

Literaturhinweise:

Selma Lagerlöf: Von Wildenten und wilden Kavalieren, Barbara Thoma. Römerhof Verlag, Zürich 2013.

Skandinavische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürg Glauser. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart 2006.

Der Nobelpreis für Literatur. Prinzipien und Bewertungen hinter den Entscheidungen, Kjell Espmark. Aus dem Schwedischen von Ruprecht Volz und Fritz Paul. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Essays, der im Rahmen von Simone Frielings Buch „Ausgezeichnete Frauen. Die Literaturnobelpreisträgerinnen“ im Sommer 2015 im Verlag LiteraturWissenschaft.de erscheint.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz