Eine Frage der Technik

In einer gründlichen und durchweg unterhaltsamen Analyse schreibt der Literaturwissenschaftler Göttert die Geschichte europäischer Redekunst neu

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Karl-Heinz Göttert US-Präsident Barack Obama an der Siegessäule in Berlin reden hört, kommt ihm die Idee: Der Germanist beschließt, eine andere Geschichte der Rhetorik zu erzählen – nicht anhand ihrer Vorträge, sondern anhand ihrer Redner und deren Techniken. Sein Ansatz: Die Rede ist nichts Natürliches, das es immer schon gegeben hat und das man nicht ändern kann. Sie ist vielmehr kulturspezifisch.

Cicero versus Joschka Fischer

In seinem Buch „Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik“ macht sich Göttert daran, den europäischen Charakter der Rede freizulegen. Dafür untersucht er tatsächlich gehaltene Reden  europäischer Redner aus den letzten 2500 Jahren und sucht nach Gemeinsamkeiten. Dafür stellt er je zwei Redner gegenüber – etwa Perikles und Richard von Weizsäcker, Augustinus und Otto von Bismarck. Auch Cicero und Joschka Fischer stellt der gegenüber – mit einem interessanten Ergebnis: In seinen großen Reden habe Fischer tatsächlich eine Wucht entfaltet, die an Cicero erinnert und ihn teilweise sogar übertrifft. Fischer beherrsche das Sprechen in klaren Antithesen, bereichert um Sprachwitz und brillante Frechheiten. Und das aus dem Stegreif heraus. Gleichzeitig verzichte er auf allzu pathetische Effekte, die bei Cicero noch hoch im Kurs standen. Fischer sei eben ein ausgesprochen moderner Vertreter der Redekunst.

Das Wesen der europäischen Rede sieht Göttert in zweierlei Phänomenen beschrieben: Erstens im logisch kunstvollen Aufbau mit Antithesen oder Paradoxa. Zweitens durch eine stilistisch kunstvolle Gestaltung mit Sprachschmuck wie Metaphern oder Anaphern. Dass beide Elemente vielfach über den zweifelhaften Inhalt der Reden hinwegtäuschen, ist ebenfalls vermerkt.

Preisverdächtige Analyse

Das Buch wurde unmittelbar nach seiner Veröffentlichung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 in der Kategorie „Sachbuch/Essayistik“ nominiert. Im Begründungstext der Jury heißt es: „Das so instruktive wie unterhaltsame Buch zeigt die Rhetorik von der Seite ihrer historisch faktischen performativen Erscheinung. Indem Göttert den klassischen Kanon des Wissens über Rhetorik an einer Serie von tatsächlichen Rednern vorführt, vermittelt er die Geschichte der Rhetorik in der europäischen Tradition auch als Konstrukt und die vielbeschworene ‘Macht der Rede’ als wirkenden Mythos. Ein uralter Mediengebrauch zeigt seine moderne Potenz.“

Titelbild

Karl-Heinz Göttert: Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
510 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100265319

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