Das ärmste Land der Welt
Über Lyonel Trouillots Roman „Die schöne Menschenliebe“
Von Michi Strausfeld
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAusgerechnet Haiti: von dort erwartet wohl kaum ein Leser Aufklärung über „die schöne Menschenliebe“. Vielleicht ein Irrtum, wie dieser Roman von Lyonel Trouillot zeigt. Der Autor, 1956 in Port-au-Prince geboren, erweist mit seinem Titel einem der Meister der Prosa Haitis, Jean-Stephen Alexis, eine Ehre, der diese Worte einmal als Neujahrsgruß verschickte.
Erzählt wird die Geschichte einer Rückkehr. Anaïse kommt zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters zum ersten Mal in sein Land. Am Flughafen wird sie von Thomas abgeholt, einem Chauffeur aus dem Küstendorf Anse-à-Fôleur, dem einzigen Anhaltspunkt, den sie aus seinem Leben kennt. Auf der mehrstündigen Fahrt erzählt ihr der Fahrer dies und jenes aus dem Dorf, der Stadt, dem Land. So setzt sich für Anaïse – und den Leser – aus diesen Fragmenten nach und nach das Bild vom Dorf und seinen Bewohnern, aber auch von den Zuständen im Land zusammen. Das Armenhaus Haiti, voller Ungerechtigkeit, Gewalt, seine Religiosität – aber auch voller Poesie, Kreativität und Lebensfreude.
Offensichtlich herrscht im Fischerdorf Anse-à-Fôleur eine seltene Verbundenheit, denn das große Geheimnis – der Brand an herrschaftlichen Zwillingshäusern, die dem pensionierten Oberst Pierre André Pierre und dem Geschäftsmann Robert Montes gehörten, die seit der Jugend ihre Schicksale miteinander verknüpft hatten – konnte nie geklärt werden. Ein hoher Beamter aus der Stadt reiste an, um den Fall zu klären, zumal beide Männer seitdem spurlos verschollen waren, aber nichts gelang. Im Gegenteil: Die vielen Gespräche mit den Dorfbewohnern führten den Ermittler dazu, seinen Beruf aufzugeben und stattdessen eine Bar zu eröffnen. Hatten sie sich verschworen, niemandem die Wahrheit zu sagen?
Beide, der Oberst und der Geschäftsmann, waren durch Skrupellosigkeit und Gewalt, Erpressung und Korruption reich geworden. Im Dorf galt ihre Willkürherrschaft – wie sie die Dynastie Duvaliers im ganzen Land praktizierte. Anaïses Vater, der einzige Sohn von Montes, verstand sich offensichtlich nicht mit ihm, blieb ein Außenseiter im Dorf, ein verwöhntes, aber ohne Liebe großgewordenes Kind. Nur einmal bricht er aus – erfährt einen Augenblick des Glücks mit einem Mädchen aus der Dorf. Wenig später zieht er ins Ausland, lässt alles zurück, seine Spur verliert sich.
Thomas erzählt Anaïse, die vor lauter Ermüdung durch diese endlosen Geschichten manchmal kurz einschlummert, auch von den naiven Bildern, die sein Onkel malt – und die in der Stadt geschätzt werden. Ein weiteres Geheimnis, ist der Onkel doch schon erblindet. Und er warnt sie in seinem Monolog, keine Erwartungen zu haben, auch sie werde die Ursachen und Urheber des Brandes nicht ausfindig machen.
Erst im kurzen zweiten Teil, schon im Dorf, hören wir auch Anaïses Stimme: sie stellt Fragen, möchte mehr über ihren Vater wissen. Einige haben ihn doch gekannt, aber – stattdessen ziehen die Kinder sie in ihre Spiele, soll sie teilhaben am Leben im Dorf. Als der Onkel stirbt, erlebt sie die Beerdigung, wie sie im Dorf gefeiert wird: Sie erfährt das Ereignis als „schöne Menschenliebe“.
Trouillot gibt uns damit zum einen eine Fabel, wie man mit dem Menschenleben umgehen könnte, und dies in einer oft poetischen Prosa. Zum anderen erfahren wir viel über Haiti und seine Menschen, wie sie mit ihrem alltäglichen Elend und der Ungerechtigkeit umgehen. Beeindruckend.
Dies ist der dritte Roman des Autors, der auf Deutsch publiziert wurde. Wieder einmal darf man festhalten, dass es in Haiti eine Vielzahl von großartigen Schriftstellern gibt, die im Abseits des Literaturbetriebs Werke vorlegen, die durch literarische Qualität und Originalität überzeugen, und die uns auch daran erinnern, dass dieses Land zu den ärmsten der Welt zählt. Man sollte es nicht aus den Augen verlieren – aus Verantwortung und Mitgefühl, und weil hier außergewöhnliche Künstler tätig sind.
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