Die Ordnung des Wissens

Von der Literatur und der Frage nach der Begründbarkeit ihres Wissens

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ausgehend von der Aufgabe der Epistemologie, der Frage nachzugehen, welche Bedingungen es sind, die Objekte beziehungsweise Gegenstände zu Elementen empirischen Wissens machen, befasst sich der vorliegende Band damit, der Antwort hierauf für das historische literarische Wissen nachzuspüren und dabei nicht von der Literatur, sondern vielmehr von ihren objektiven Formen her zu denken. Allerdings räumen die Herausgeberinnen Nicola Gess und Sandra Janßen ein, dass vorab noch nicht entschieden werden könne, ob dem „Erkenntnissubjekt“ selbst, das heißt dem Autor, nicht doch ein gewisser Anteil an einer Epistemologie der Literatur zuerkannt werden kann. Denn womöglich lässt die literarische Ordnung des Wissens eine gewisse Selbstreflexivität des erkennenden Subjekts zu. In der Begründbarkeit des Wissens für die Literatur wird untersucht, ob nicht eine Reflexivität des Autors mit der gereinigten Beobachtung des Objektes im naturwissenschaftlichen Experiment zusammenfällt.

Die Erforschung der Beziehungshaftigkeit von Literatur- und Wissensdiskursen steht im Mittelpunkt des Interesses dieses Bandes, der neben der „Zwei-Kulturen-Debatte“ die „diskursanalytische Frage“ nach dem „Status von Literatur“ sowie die „systemtheoretische Frage“ nach den „Wechselbezügen von Wissenschafts- und Kunstsystem“ stellt. Damit ist klar, dass der Band Verfahrensweisen in den Blick nehmen will, die literarisches Wissen überhaupt erst etablieren. „Wissensproduktion“ geht insofern zweifelsohne mit einer „Literarizität“ einher, da sich Wissensproduktion und -vermittlung stets bedingen, so die These in Anlehnung an Jacques Rancière, Joseph Vogl, Steven Shapin und Simon Schaffer.

Die Einleitung eröffnet die Perspektive auf „grundlegende theoretische Ansätze“ eines seit den 1990er-Jahren erschlossenen Forschungsfeldes und stellt dabei zunächst den Aspekt der systematischen Ordnung von Wissen in den Mittelpunkt und erklärt, wodurch bloße Kenntnisse zu einem geordneten Wissensbestand werden. Als nächstes wird eben dieser Wissensbestand, die „Wissens-Ordnungen“, die die Basis für eine historische Epistemologie bereitstellen, in den Blick genommen, gefolgt von dem Fokus auf die Bedingungen, unter denen Wissen als solches definiert wird, wie zum Beispiel durch „Wahrheit“ und „Gewissheit“. Diese beiden Kategorien verdeutlichen, dass die zeitkontextuale Gebundenheit ebenfalls eine Rolle spielt und die Bedingung zur systematischen Wissenserstellung beeinflusst. Beides sind „unbeständige Bestimmungen“ und erweisen im Laufe der Zeit und in verschiedenen Regelkontexten, Theorien und Philosophien ihre spezifische Relevanz. Weiter werden als Bedingungen der Ort, an dem Wissen generiert wird, etwa durch soziale und institutionelle Kontexte, ausgemacht sowie die spannungsreiche Opposition von interner versus externer Wissensordnung. Als letztes wird dann die Frage nach dem prozesshaften Wie des Ordnens aufgegriffen. Zugleich soll im Hinblick auf die genannten Bedingungen die Art und Weise der Entstehung von Literatur mitreflektiert werden, und das meint ihre Fiktionalisierung, ihre Affektlogik, ihre Empathisierung, ihre „Sensibilität für das eigentlich nicht Gewusste“, ihre Ästhetik.

Auf der Grundlage dieser ambitionierten Agenda untergliedert der Band seine Thematik in vier Teile: „I. Am Anfang der Debatte. Literatur und Wissen im 18. Jahrhundert“, „II. Gemeinsame Verfahrensweisen“, „III. Wissen zwischen Literatur und Wissenschaft“ und „IV. Fallstudien: Wissen(schaft) in Literatur“. An die inhaltsreiche, überblickgebende Einleitung der Herausgeberinnen schließt sich eine etwas mehr als fünfseitige Bibliographie zum Themenkomplex ‚Literatur und Wissen‘ an, die den Einstieg in die Thematik und ihre Vertiefung erleichtert. Eröffnet wird die Diskussion auf dem spannungsreichen Feld zwischen Literatur und Wissen von Nicolas Pethes, welcher zunächst eine Krise konstatiert, die zwangsläufig mit einer Trennung beider Ebenen einhergeht. Selbst Versuche, eine Synthese beider Bereiche anzuvisieren, vermögen es nicht, ihre Unterscheidbarkeit aufzulösen. Zudem wird die ausgerufene Krise von dem Umstand befeuert, dass eine Fokussierung auf Wissen offenbar die Annahme verbreite, den literaturimmanenten ästhetischen Aspekt zu vernachlässigen. Dabei sollte weniger eine Theorie des Verbindenden oder Trennenden im Mittelpunkt stehen, als vielmehr die „fruchtbaren Assoziationen“. Schließlich erzeugt die Konstatierung des Trennenden zugleich auch das Verbindende. Entlang dieser Dialektik konnte sich letztlich die Eigenständigkeit der Literatur erweisen, oder anders gesagt: „es gäbe keine Philologien, ohne dass Literatur um 1800 gleichzeitig von den Wissenschaften abgegrenzt und dadurch zu ihnen ins Verhältnis gesetzt worden wäre“. Anhand der Beispiele Jean-Jaques Rousseau, Johann Georg Hamann, Friedrich Schiller und Thomas De Quincey veranschaulicht Pethes verschiedene Versuche, wie es sie bereits im 18. Jahrhundert gab, um die Differenzierung und Etablierung von „Schnittmengen“ zwischen Literatur und Wissen, die sich in „Kultur, Stil oder Form“ sowie als „Populäres“ finden lassen, herauszustellen.

Ingrid Kleeberg erklärt anhand der Beispiele David Hume, John Locke und der Literaturkritik des 18. Jahrhunderts wie „die Wissens- und Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts bei der Beobachtung und Formulierung epistemischer Gesetzmäßigkeiten“ sowohl auf die literarische Textanalyse als auch auf die „zeitgenössische Ästhetik“ und „Literaturtheorie“ zurückgreift, die sich durchaus an „epistemologischen Einsichten“ und an „Vorstellungsbildung“ orientiert. Bei Locke zum Beispiel liegen „Abstraktion“, „Kombination“ und „Relation“ diverser Ideen einer Epistemologie zugrunde, die von (un)gewollten Assoziationen nicht unbedingt frei sind und erhebliche Probleme verursachen können. Bei Hume hingegen erfährt die Assoziation der Idee eine kausale Würdigung, die der Annahme folgt, dass Erkenntnisprozess und Assoziation untrennbar miteinander verknüpft sind und dabei einem von beziehungsweise den drei Prinzipien „Similarität“, „Kontiguität“ und „Kausalität“ folgen. Die Literatur wird Hume dabei für seine Erkenntnisse zum Experimentierfeld. In der Tat liegt auf der Hand, dass sowohl der Erkenntnisgewinn als auch der Schreibprozess „identischen mentalen Prozessen“ folgt. Man kann sagen, dass „Bewegung“ selbst die notwendige Bedingung in Literatur und Naturwissenschaft bereitstellt, unter der sich Erkenntnis kontextualisieren kann. Aufgrund der Arbitrarität der Zeichen ist jedoch der Bezug zwischen Zeichen und Idee problematisch und doch maßgeblich zugleich, das heißt die Verwendung des Zeichens selbst besagt noch nichts über die tatsächliche Vermittlung der Idee beziehungsweise der Assoziation. Die Abhängigkeit der adäquaten Zeichenverwendung von subjektiven Erfahrungs- und Erkenntniskontexten bleibt folglich ein nicht rationalisierbares, mittransportiertes Problem. Die Propagierung eines freien, subjektiv gefärbten Ideenflusses wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts von einer Hinwendung zur assoziationsfreien positivistischen Objektivität abgelöst.

In den Diskurs über die Bedingtheiten des Erzählens und der immanenten Frage, „was an Wissen vorausgesetzt, impliziert und produziert wird“, lassen sich bei Michael Gamper entscheidende Einblicke gewinnen. Ihm zufolge wird das Erzählen beziehungsweise das Erzählte nicht als literarisch-ästhetische Exklusivität aufgefasst, sondern vielmehr als eine weitreichende „kulturelle Praktik“. Die Dichotomie zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen wird dabei aufgegeben, und zwar mit der plausiblen Begründung, dass die flexible Bewegtheit und das Ineinanderfließen beider Sphären die Perspektive auf Erzählen als (kulturelle) Praktik erst fruchtbar erzeugt, wie anhand der Beispiele Charles Darwin, Scipio Sighele und Sigmund Freud gezeigt wird.

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass der vorliegende Band dem roten Faden folgt, Literatur und Wissen als ineinanderfließende Forschungsfelder herauszukristallisieren und damit die dichotomische Relevanz von faktualem und fiktionalem Erzählen, die im ersten Fall objektive Wissenschaftlichkeit und Erkenntnis und im zweiten Fall (vermeintlich) pure Ästhetik hervorbringt, aufzuweichen und stattdessen zu zeigen, dass von der Perspektive des 18. Jahrhunderts ausgehend bis in die aktuelle epistemologische Debatte hinein eine verschränkende, sich gegenseitig bedingende diskursive Auseinandersetzung beider Felder unumgänglich ist. Die Bewegung entlang der Diskursfelder ist eine nötige Relevanz um die kulturelle Praktik des (literarischen) Erzählens nicht als eine begrenzende Exklusivität festzulegen, sondern um sie als eine epistemologische Praktik zu begreifen. Mit anderen Worten: Der Erkenntnisgewinn wird unmittelbar an der Schnittstelle der Felder Wissen und Literatur erzeugt. Mehr noch, der Fokus auf Wissen erfordert sogar den Fokus auf diese flexible Schnittstelle. Das Stichwort liefert Michael Gamper mit dem Begriff des „interdiskursiven“ Verfahrens, mit dem die Literatur arbeitet. Dies will heißen: Dadurch, dass die Literatur als Disziplin keinen Spezialdiskurs aus sich selbst heraus erzeugt, ist sie darauf angewiesen, Spezialdiskurse der verschiedensten natur-wissenschaftlich-technischen Disziplinen neu zu verweben und dies dann selbstverständlich mit den ihr eigenen, erzähltechnisch relevanten Mitteln zu tun. Literatur ermöglicht es somit, „Wissen in neue Zusammenhänge“ zu bringen.

Der Begriffsverwendung von Wissen und Literatur gehen Thomas Anz, Walter Erhart und Florian Kappeler in ihren Beiträgen detaillierter nach. Dabei wird auch die aktuelle kontroverse Debatte um diese Begriffe nachgezeichnet, die Pethes einleitend historisch konstatiert hatte. Anzʼ Beitrag kristallisiert beispielsweise verschiedene Modelle heraus, die die Wechselbezüge zwischen „kooperierender und konkurrierender“ Literatur und Psychoanalyse konstatieren. So dient Anz zufolge das in literarischen Texten transportierte psychoanalytische Wissen vor allem dazu, „Spannung zu erzeugen“ beziehungsweise „ästhetische Effekte zu stimulieren“. Erkenntnisvermittlung sei allenfalls ein sekundäres Anliegen. Damit sind freilich die neuen Zusammenhänge von Wissenskontexten bereits aufgerufen, in die ein literarischer Text Gamper zufolge gestellt werden kann. Es mag an dieser Stelle deutlich werden, wie schmal der Grat zwischen dem Anspruch der Literatur auf Ästhetik, die sozusagen ihr Geburtsrecht und ihre Geburtspflicht ist, und dem Anspruch von faktualem Wissen ist, den natur-wissenschaftlich-technischen Zeitgeist als kulturelle Praktik zu beleuchten und somit über die Erzeugung einer rein ästhetischen Spannung hinauszugehen. Alles in allem liefert der Band hierzu einen gut strukturierten und zugleich komplexen Einblick in den Diskurs um Wissen und Literatur und macht den Versuch, Ordnung in eine langjährige Beziehung zu bringen.

Titelbild

Nicola Gess / Sandra Janßen (Hg.): Wissens-Ordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur.
De Gruyter, Berlin 2014.
293 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110349764

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch