Verstehen über interpretieren

David Hewson schreibt mit „Das Verbrechen“ den Roman zu Kommissarin Lunds drittem Fall

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literatur und Film sind von jeher eine enge Verbindung eingegangen. Hanns Heinz Ewers „Student von Prag“ zeigt aber, wie die Zusammenarbeit zumeist angelegt war: Autoren, die ansonsten literarisch tätig waren und sind, versuchten sich auch am neuen Medium. In den 1920er-Jahren folgten zahlreiche Autoren diesem Vorbild und im amerikanischen Exil war Hollywoods Filmfabrik für zahlreiche Autoren wenigstens eine Möglichkeit, aus ihrer Kompetenz ein wenig Geld zu schlagen.

In derselben Zeit beginnt aber auch jenes Phänomen, das heute allgegenwärtig ist: Film und Buch werden eng miteinander verschränkt, sei es, dass Filme sich als dezidierte Verfilmungen eines Romanstoffes verkaufen, sei es, dass erfolgreiche Filme oder Serienformate auch durch Romane begleitet werden, die aus ihnen abgeleitet werden.

Dass ein Roman direkt nach einer Filmvorlage geschrieben wird, ist gleichfalls ein bekanntes Phänomen – die Fans des Films werden auf diese Weise nachhaltig bedient. Die visuelle Präsentation des Stoffes erhält mit den literarischen Nachfolgeprodukten im besten Fall mehr Tiefe und eine andere Dimension (da ja hier zum Beispiel auch Einblicke in die Überlegungen und Gefühlswelten der Akteure möglich sind).

David Hewson hat nun den Roman zur dritten Staffel der erfolgreichen dänischen Serie um Kommissarin Sarah Lund geschrieben. Die Reihe lief erfolgreich am Sonntagabend im ZDF, sie wurde per DVD vermarktet – und nun folgt eben der Roman. Dass damit jede Überraschung, was den Verlauf der Ermittlung und die Auflösung des Falls angeht, aufgegeben wird, ist unvermeidbar, vor allem dann, wenn man annimmt, dass vor allem jene den Roman erwerben werden, die die Reihe kennen.

Der Mehrteiler selbst hatte allerdings genau davon gelebt: Die Tochter eines großen dänischen Industriellen wird entführt, wie sich herausstellt von einem Vater, dessen Tochter vom langjährigen Assistenten des Industriellen entführt, missbraucht und ermordet wurde. Dazu kommen noch ein paar ziemlich brutale Verbrechen, die auf einen höchst kompetenten und intelligenten Urheber zurückgehen. Für die Aufdeckung braucht es lange und sie geht verschiedene Irrwege, die allesamt damit zusammenhängen, dass die Ermittler die Daten, die ihnen vorliegen, entweder nicht wahrnehmen oder falsch verstehen.

Verstehen über interpretieren ist sowieso das Generalthema der klügeren Ermittlerkrimis, und die Kommissar Lund-Reihe basiert in großem Maße darauf. Sie setzt dieses Generalthema unter anderem deshalb so großartig um, weil sie mit den Unfertigkeiten ihrer Protagonisten zu rechnen weiß. Gerade die zentrale Figur, Sarah Lund, wird als extraordinäre Ermittlerin gekennzeichnet, die durch ihre verfremdete Sicht auf die Dinge zu anderen Wahrnehmungen und damit Erkenntnissen in der Lage ist, die schließlich die komplexen und verwirrten, teils widersprüchlichen Bilder klären kann: „Ich weiß, wo ich hinsehen muss“, sagt sie im Roman. Eben nicht immer, wie wir wissen.

Fest steht: Am Ende muss der Ablauf der Tat detailliert geklärt und der Täter identifiziert werden. Ein komplexes, nicht-lineares Verhältnis muss auf der Zeit- und Kausalschiene aufgelöst werden. Dass Lund dabei selbst daran beteiligt ist, diese Auflösung zu verzögern, weil sie abgelenkt und unaufmerksam ist, ist kein Malus in diesem Fall, sondern vor allem ein Moment, mit dem das Bild weiter verwirrt wird.

Auch bleiben die Motivationen der Figuren des Films durchweg unklar, selbst da, wo sie sich äußern. Der Zuschauer sieht nicht, was sie denken, fühlen oder beabsichtigen, er sieht auch nicht, was sie verbergen, er sieht nur, wie sie handeln, wie sie aussehen und wie sie sich geben. Das aber ist im Buch völlig anders. Da kann sich der Roman mithin so viel bemühen, wie er will, um das Überraschungsmoment aufrecht zu erhalten. Es ist von Beginn an vergebens. Stattdessen allerdings auf die Psychologie der Figuren zu setzen, gelingt ihm nicht – er bleibt bei der Nacherzählung der Handlung hängen, er wird deklaratorisch.

Auch das Finale von Film und Roman wird damit nicht plausibler. Dass Sarah Lund den Assistenten, Reinhardt, schließlich tötet, hat seinerzeit zu medialem Protest geführt. Zu attraktiv war das Profil Lunds, als dass es dem Trend von Vergeltung und Rache geopfert werden durfte. Das Buch schiebt einen zweiten Fall, in dem der wahre Täter nicht verantwortlich gemacht werden konnte, ein – mit dem dann die finale Tat begründet werden kann. Wenn nicht das Recht die Schutzlosen bewahrt, dann muss es die Gerechtigkeit tun. Alttestamentarisch nennt das der Vorgesetzte Lunds, Brix, der das Ganze in Kauf genommen hat.

Ganz von der Hand zu weisen ist allerdings nicht, dass der harte Schluss vor allem deshalb naheliegt, weil Lund zuvor den Fall beinahe verbockt, als Kompensation also, die ein vorhergehendes Fehlverhalten und Versagen überschreiben soll. Das wäre wieder sehr menschlich und als insgeheimes Dementi des Vergeltungsprinzips zu verstehen. Möglicherweise.

Vielleicht aber ist auch alles ganz anders und einfach und die Autoren der Reihe wollten nur einen starken Ausstieg, mit dem die Figur endgültig aus dem Rennen genommen wird. Sie darf dann verschwinden, und niemand kann sie je wieder als Ermittlerin reetablieren. In dieser Sicht ist der Roman zur Fernsehserie nur der Nachschlag, und dann ist Ruhe.

Titelbild

David Hewson: Das Verbrechen. Kommissarin Lunds 3. Fall.
Basierend auf dem Drehbuch von Soren Sveistrup.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015.
462 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783552057135

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