Grenzerfahrungen

In Ulla Lenzes neuem Roman „Die endlose Stadt“ verlieren sich die Protagonisten in fremden Kulturen

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus Senecas „Epistolae morales“ stammt der berühmte Ausspruch, dass der Mensch immer nur sich selbst findet, wohin er auch reist. Diese scheinbar banale Erkenntnis nutzt der römische Philosoph, um vor der Flucht des Individuums vor sich selbst zu warnen. In der Literaturgeschichte finden sich indessen unzählige, der breiten Formation der Reiseliteratur zuzurechnende Texte, in denen gerade das Reisen in ferne Länder und Aufenthalte in fremden Kulturen als wesentliche, das Subjekt verändernde Erfahrungen thematisiert werden. Wer sich also verlieren und gar nicht finden will, ist wohl mit einer Reise in die Fremde gut beraten.  Das scheint auch der tiefere Grund für den Aufenthalt der Protagonistin und Fotokünstlerin Holle in Istanbul zu sein. Nach außen freilich kommt sie mit einem Künstlerstipendium in die Stadt am Bosporus, wo sie auch den Imbissbetreiber Celal kennenlernt, mit dem sie eine Affäre eingeht. Der im Singular gehaltene Titel, „Die endlose Stadt“, des neuen Romans von Ulla Lenze täuscht aber über die Handlungsräume hinweg: Der Leser lernt Holle nicht nur in Istanbul, sondern auch in ihrem Berliner Umfeld, in Mumbai und Hannover kennen. Die auf den ersten Blick einfache Handlungsstruktur des Textes stellt sich zunehmend als anspruchsvolle Komposition heraus, bei der der Leser gefordert ist, Personenkonstellationen, Rückblicke und die zeitliche Ordnung des Erzählten zu rekonstruieren.

Holle lernt in Istanbul den Unternehmer und Kunstmäzen Wanka kennen, von dem sie sich auf unerklärliche Weise angezogen fühlt und seiner Einladung nach Mumbai folgt. In der Zwischenzeit überlässt sie der unbekannten, deutschen Journalistin Theresa ihre Istanbuler Wohnung. Aus der Zusammenführung dieser drei Figuren ließe sich leicht eine rührselige Dreiecksgeschichte mit fernöstlichem Zeitkolorit zimmern. Doch das vermeidet Lenze glücklicherweise. Die kurzen, scheinbar auf Sachlichkeit abzielenden Sätze evozieren nicht nur Bilder von Landschaften, Städten und atmosphärisch dichten Szenen. Lenzes Erzählweise besticht ebenso durch die Präzision in der Beschreibung von Gefühlsregungen und psychischen Vorgängen, die noch kleinste Nuancen in der Wahrnehmung der Figuren zu schildern in der Lage ist.

Die 1973 in Mönchengladbach geborene, heute in Berlin lebende Ulla Lenze hat trotz zahlreicher Preise und Stipendien nicht die Bekanntheit beim deutschen Publikum erlangt wie beispielsweise Julia Franck, Judith Hermann oder Juli Zeh, die derselben Generation angehören und in denen die Kritik um die Jahrtausendwende ein neues „Fräuleinwunder“ sah. Beachtet wurde sowohl ihr Debüt „Schwester und Bruder“ (2003) als auch „Der kleine Rest des Todes“ (2012), in denen die Protagonisten ebenfalls durch Erfahrungen in Indien oder im subtropischen Archanu geprägt wurden. Die Verlegung der Roman-Schauplätze vom Berliner oder Hamburger Kiez in entlegene Weltregionen unterscheidet die Texte Ulla Lenzes maßgeblich von jenen ihrer Kolleginnen. Denn tatsächlich öffnen sich durch die Schauplätze auch die Perspektiven der Protagonisten. Nicht mehr nur die Nabelschau des eigenen Szene-Viertels und die psychische Verfasstheit seiner Bewohner werden bei Lenze ins Auge gefasst. Der Text entwickelt einen eigenwilligen Sog gerade durch die Heterogenität der Schauplätze, die bei Holle und Theresa unterschiedliche Reaktionen und Empfindungen hervorrufen.

„Die endlose Stadt“ ist gleichzeitig auch ein Künstlerroman, der die bisweilen unheilige Allianz von Kultur und Industrie, die Beziehungen von mittellosen Künstlern und schwerreichen Mäzenen mit seinen Figuren durchspielt. Am Ende wartet der Text aufgrund der persönlichen Verwicklungen der Protagonisten untereinander sogar mit einer Pointe auf und führt die verschiedenen Erzählstränge wieder zusammen, was wiederum deutlich macht, dass die Erzählanlage nicht nur als verspätete Reprise avantgardistischen Schreibens gemeint war. Lenzes Roman ist der geglückte Versuch, west-östliche Lebens- und Wahrnehmungsweisen exemplarisch anhand des Kulturbetriebes zu beleuchten. Daraus ist erfreulicherweise weder ein nostalgisches noch ein kämpferisch-sozialkritisches und selbstgefälliges Orient-Okzident-Buch geworden.

Titelbild

Ulla Lenze: Die endlose Stadt. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2015.
317 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627002107

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